Kitabı oku: «Die schiere Wahrheit», sayfa 3
Laurent Picot zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch hastig aus. Bereits die dritte Zigarette in einer halben Stunde, er war nervös. Vor einem Jahr hatte er seine Stelle als Inspektor im kleinen Kommissariat von Les Sables-d’Olonne angetreten, dies hier war sein erster Toter. Der erste Tote, bei dem die Todesursache nicht klar war. Sein erster richtiger Fall! Vielleicht gar ein großer Fall, von dem jeder Kriminalist träumt … mit Beförderung! … Jetzt bloß keinen Fehler machen, Picot!
Im vorderen Teil der Veranda, wo Tante und Neffe saßen, wurde es wärmer und wärmer, die Mittagssonne brannte prall auf die Markisen. Die Terrasse begann sich langsam zu entvölkern, Alt und Jung schritt zum Mittagessen in den Speisesaal, den man den ganzen Vormittag lang mit Zugluft kühl gehalten hatte.
Er bemerkte sehr wohl das Funkeln in Amélies Augen, als sie ihn drängte zu erzählen, was sich danach im Zimmer des Chauffeurs, wo der tote Monsieur Miller lag, abgespielt hatte.
Selbst wenn der junge Inspektor eine bessere Intuition gehabt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass die ganze Identifiziererei mit einer solchen Überraschung enden würde! Was durfte er seiner Tante erzählen, was nicht? Er schwitzte und rieb seine Handflächen an der Hose ab.
Er steckte die vierte Zigarette an.
– Gib mir auch eine! Amélies Hand kam fordernd über den Tisch.
– Seit wann rauchst du denn?
– Seit jetzt!
Amélie Morel war höchst erregt, ihr erster Toter, nicht wie die im Krankenhaus, nein, ein richtiger Toter, bei dem man nicht wusste, wie er gestorben war, ein Verbrechen! Zu diesem außerordentlichen Ereignis passte die erste Zigarette!
Laurent zuckte die Schultern, die Tante war schließlich alt genug, er zog eine Zigarette und ein weiteres Kartonmundstück aus dem Päckchen, reichte es Amélie und gab ihr mit dem Streichholz Feuer.
– Na ja … mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich um einen Unfall, also kein Grund zur Sorge, Tante!
Ach, ihre Sorge war doch, dass es nur ein Unfall sein könnte! Amélie hielt die Zigarette zwischen Zeigfinger und Mittelfinger, wie sie es bei den eleganten Damen gesehen hatte, und zog mit spitzen Lippen am Mundstück. Der Rauch brannte grässlich im Hals, sie hustete heftig.
Laurent Picot schmunzelte.
– Doktor Billaud meint, angesichts der Totenstarre liege der Todeszeitpunkt vermutlich zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Niemand weiß, weshalb Montgomery Miller um diese Zeit so weit draußen in der wilden Düne war.
Amélie Morel blickte auf den flimmernden Sand hinaus. Von Zeit zu Zeit nahm sie so nonchalant wie möglich einen kleinen Zug, stieß den Rauch aber sogleich wieder aus. Hörte sie überhaupt zu?
Der Strand hatte sich bereits geleert und brütete unter der Mittagshitze. Nur zwei Köter jagten sich gegenseitig um die geschlossenen Strandzelte herum. Auf der Terrasse flaute das Stühlerücken und Aufstehen um die beiden herum langsam ab. Laurent Picot leerte sein Glas Weißen.
Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn, ich hab’s! Endlich!
– Laurent, den Monsieur Miller hab ich gestern Abend gesehen!
Dieser Herr, dessen Namen sie gestern noch nicht kannte, saß einige Tische von ihr entfernt hier auf der Terrasse, er hatte ihr den Rücken zugekehrt und trank einen Whisky. Sie saß bei ihrem Schlummertrunk, Pflaumenlikör, und hatte sich mit Madame Legrand, ihrer Tischnachbarin im Speisesaal, darüber gewundert, weshalb die Engländer und Amerikaner Whisky, dieses bittere Getränk, so liebten. Gegen elf war Monsieur Miller aufgestanden und an den Strand hinuntergegangen. Er hatte den Lichtschein durchquert, den die Terrassenlaternen auf den Sand warfen, und sich Richtung Strandcafé entfernt, das noch geöffnet war, und war dann im Dunkeln verschwunden ...
– Ich habe mir nichts dabei gedacht, Laurent ... er muss danach in den Dünen spazieren gegangen sein ... Weshalb? Der Himmel war bedeckt, die Nacht war dunkel und windig ...
– Und jetzt kommt’s, Laurent! Es ging mir die ganze Zeit im Kopf herum: die Kleider!
– Was ist mit seinen Kleidern? Ziemlich ausgefallen, ja.
Amélies Stimme überschlug sich beinahe:
– Monsieur Miller trug gestern Nacht, als er in die Dünen spazieren ging – was wir vermuten, nicht wahr! – andere Kleider! Eine unauffällige dunkle Hose und ein gestreiftes Hemd!
– Bist du dir da ganz sicher, Tante?
– Ja, ja! Mit der grünen Hose und dem Karohemd hab ich ihn nur einmal an einem Vormittag gesehen. Das ist doch sehr merkwürdig, nicht wahr, Laurent?
– Hm, nicht unbedingt, vermutlich ist er einfach zurückgekommen und hat sich umgezogen.
Amélie Morel sah ihn zweifelnd an. Diese Erklärung war ihr viel zu banal …
Auf der Terrasse saßen jetzt nur noch sie beide, alle andern Hotelgäste hatten ihre Plätze im Speisesaal eingenommen. Ungeduldig wartete sie auf die angekündigte Sensation. Sie war hungrig und es wurde langsam unerträglich heiß draußen. Sie hatte ihren Neffen zum Mittagessen ins Hotel eingeladen.
– Komm, gehen auch wir endlich essen! Der Service hat bestimmt schon begonnen. Du erzählst mir alles auf dem Weg zum Speisesaal!
Laurent nickte, drückte seine kaum angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. Galant reichte er seiner Tante den Arm. Sie errötete. Das noble Hotel färbte auf ihren kleinen Neffen ab.
– Jetzt erzähl endlich!
Doktor Billaud hatte den Inspektor im Chauffeurzimmer ungeduldig erwartet. Man hatte ihn heute Vormittag mitten aus der Sprechstunde geholt. Über zehn Patienten warteten vermutlich geduldig oder weniger geduldig auf seine Rückkehr. Der Hoteldirektor Monsieur Leroy schwirrte wie eine aufgeregte Hornisse im Gang umher und hielt allfällige Angestellte, die sich dorthin verirren sollten, von der Tür fern, die ins Zimmer führte, wo der Tote einstweilen lag. Bis man weiß, was weiter mit ihm geschehen soll.
Als der Inspektor mit Adrienne im Zimmer stand, in dem ihr toter Schwager lag, war das selbstsichere Fräulein doch ziemlich blass, ihre Lippen zitterten ...
– Mademoiselle Adrienne gefällt dir, gib’s zu!, Amélie tätschelte lächelnd den Arm ihres Neffen.
– Ach was!, Laurents Wangen röteten sich, unterbrich mich nicht ständig, Tantchen, wenn du hören willst, was sich ereignet hat …
Im engen Raum war es stickig, die Läden vor dem Fenster waren zugezogen, ein kümmerliches elektrisches Deckenlicht brannte. Laurent Picot schwitzte in der drückenden Stille, die der Tod verbreitete. Ein modriger Algengeruch hing im Raum, vermutlich von den Kleidern des Toten, vom auffälligen rotgrünen Karohemd und der grünen Hose. Auf der andern Seite der Zimmertür, die auf den Flur hinter der Rezeption führte, lachte fröhlich das ahnungslose Leben, helles Stimmengemurmel drang von außen in den dämmrigen Raum.
Der Tote, der auf der mit einem Leinen abgedeckten Matratze lag – das Bett war nicht gemacht, Kissen und Wolldecke hatte man schnell zur Seite geräumt – war mit einem zweiten Laken zugedeckt. Die rechte Hand blieb sichtbar, zur Faust geballt.
Doktor Billaud wandte sich leise an ihn, der Tote habe verschiedene Schürfungen und Kratzer im Brustbereich, am Hals und im Gesicht, die könnten von Steinen im Wasser stammen …
Es herrschte eine nervöse Reglosigkeit im Raum, die ihm merkwürdig vorkam. Aber die Situation, der ertrunkene Miller, aufgebahrt auf dem Bett des künftigen Chauffeurs, war ja alles andere als alltäglich.
– Darf ich?
Doktor Billaud war bereit, das Laken vom Gesicht des Toten zu ziehen. Er nickte und bemerkte mit Erleichterung, dass der Doktor das Gesicht des Toten etwas gereinigt und ihn gekämmt hatte.
Zögernd trat die Schwägerin des Miller Montgomery näher. Ihre Augenlider bebten.
– Ich … ich hab noch nie einen Toten gesehen … der Tod verändert das Gesicht.
– Ja, zudem hat der Mann mehrere Stunden im Salzwasser gelegen ...
– Geht es, Mademoiselle?, fragte der Doktor nach einer Weile besorgt.
Sie nickte tapfer.
– Es ist Montgomery, ja.
In dem Augenblick – Doktor Billaud wollte gerade das Laken wieder über das Gesicht des Toten ziehen – wurde die Tür aufgerissen und Madame Miller stürzte ins Zimmer, gefolgt vom händeringenden Hoteldirektor Leroy, der es nicht geschafft hatte, sie aufzuhalten.
Sie rannte zum Bett und blieb wie angewurzelt vor ihrem toten Mann stehen, sie zitterte am ganzen Körper und schrie mit dünner Stimme, die dem jungen Inspektor in den Ohren wehtat:
– Nein, nein, das kannst du mir nicht antun … Montgomery, nein!
Dann warf sie sich über den Toten und schluchzte fassungslos.
War das ein Tumult in dem engen Zimmer! Die untröstliche Madame Miller auf dem Gesicht des Toten … ihre erschrockene Schwester … der hysterische Hoteldirektor … der brummige Doktor Billaud, der endlich nach Hause wollte ... und mittendrin er selbst, der jetzt dringend eine Zigarette gebraucht hätte.
Laurent brach ab, er blieb vor dem Speisesaal stehen und hielt seine Tante zurück, er will die Geschichte draußen zu Ende erzählen, das ist nichts für die allzu neugierigen Ohren und Münder der Tischnachbarn.
Amélie brannte vor Neugier.
– Erzähl endlich, beeil dich! Die tragen schon die Suppe auf!
Hinter der Glasscheibe der Doppeltür sah man die Kellner ihre Servicewagen, auf denen große silberne Schüsseln dampften, zu den Tischen fahren.
– Ja. Jetzt kommt’s!
Der Doktor hatte versucht, Madame Miller sachte wegzuziehen. Sie aber klammerte sich an das Laken, zog so die Bedeckung, ohne es zu wollen, mit sich ... ihr toter Mann lag bis zum Hosenbund nackt da, das Hemd war offen. Madame Miller bemerkte durch die Tränen ihr Ungeschick, sie wollte das Tuch wieder auf den Körper ihres Mannes legen … und stutzte abrupt ... sie beugte sich über seinen Bauch und starrte, reglos ...
Im Zimmer war alles verstummt. Draußen ging das Leben weiter, die Tür zum Hof schloss nicht sehr gut, das Zufahrtstor quietschte, man hörte einen Motor knatternd in den Hof fahren und schließlich stehen bleiben, eine Fehlzündung knallte im Auspuff, Stille, dann schlug eine Wagentür zu, und eine Stimme rief etwas Unverständliches.
– Das … das kann nicht …
– Wie bitte?
– Der … der Mann da … ich glaube, es ist nicht mein Mann …
Verschüchtert schaute Madeleine Miller, die wie ihre Schwester nie zuvor einen Toten gesehen hatte, den Doktor an.
Der Doktor kratzte sich am Hinterkopf und schaute den Inspektor an.
– Aber Ihre Schwester und der Herr Hoteldirektor ebenfalls haben ihn eindeutig …
– Nein!
Die Stimme der zarten Witwe Miller klang mit einem Male resolut, als ob eine unerwartete Hoffnung ihr plötzlich Kraft verliehen hätte.
– Der da ist nicht mein Gatte! Der sieht aus wie Montgomery, aber er ist es nicht!
Amélie Morel riss die Augen auf.
– Das hat sie tatsächlich gesagt, die Ehefrau?
– Ja, Doktor Billaud meinte, wohl ein klarer Fall von Augenverschließen vor der Realität.
Durch die Glasscheibe der Speisesaaltür drang das vertraute Stimmengemurmel beim Mittagessen, Gelächter, eifriges Besteckeklappern und Gläserklirren. Als Laurent die Schwingtür öffnete, wurden die Geräusche sehr laut, und die Fischsuppe dampfte schnell ihre Düfte in die Eingangshalle hinaus.
– Man kennt das, Kinder machen vor etwas Bedrohlichem die Augen zu, dann existiert es nicht mehr … Madame Miller wird akzeptieren müssen, dass ihr Mann tot ist, meinte der junge Inspektor altklug.
– Die merkwürdigen Umstände seines Ertrinkens reichen mir vollauf als Komplexität! Jedenfalls habe ich eine Autopsie angeordnet. Um sicherzugehen, dass er ertrunken ist. Die Leiche wird nach La Roche-sur-Yon ins Gerichtsmedizinische gebracht ...
Amélie kribbelte ein Schauder über den Rücken. Denn ein verwegener Gedanke drängte sich in ihrem Kopf hervor.
Da Laurent vor seiner Tante in den Speisesaal trat, sah er nicht, wie sie eine hoffnungsvolle Augenbraue hochzog.
– Und wenn sie recht hat, die Ehefrau?, fragte Amélie Morel hinter seinem Rücken.
Die beiden Schriftsteller: Wie man in eine Kriminalgeschichte einsteigt und Glausers Zweifel
Simenon dreht sich zu seinem Begleiter um.
So, den Anfang hätten wir! Selbstverständlich lässt sich daran noch herumfeilen und das eine oder andere Adjektiv streichen, wie üblich. Aber mal eine erste Skizze. Es kommt ja sehr darauf an, nicht wahr, cher collègue, wie man in eine Geschichte einsteigt. Ob man dem Leser die Möglichkeit gibt, den künftigen Toten erst als lebendigen Menschen kennenzulernen, oder ob das Opfer bereits zu Beginn tot ist. Diese Variante scheint mir für unser Vorhaben besser geeignet …
Die beiden stehen im Sand am Rand der Düne. Weiße Wolken mit grauen Bäuchen jagen vor der Sonne durch, ihre Schatten rasen über den Sand, hell, dunkel, hell, dunkel.
Also, Glosère, was halten Sie von dieser Ausgangslage für eine Kriminalgeschichte? Eröffnet dieser Anfang genügend Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der Handlung? Sie müssen jetzt Ihren Stüdère in die Geschichte bringen und ich übernehme danach wieder mit meiner Amélie und ihrem Inspektorneffen und so weiter. Mal sehen, wohin uns das führen wird …
Der große Simenon fragt, was er, Friedrich Glauser, vom Anfang der Kriminalgeschichte halte! Glauser ringt zwischen Stolz und Verlegenheit um die richtigen Worte.
Er wüsste nicht, was ändern, murmelt er schließlich neidvoll.
Seine Anfänge … Herrjeh … Auch er wirft sie zügig hin und dann – geht meist nichts mehr. Die Handlung verliert sich wie ein Trampelpfad im dichten Unterholz und man kommt nicht weiter … Oder man sieht wie beim «Matto» vor lauter Details die ganze Handlung nicht mehr. So abgeplagt wie mit diesem Roman letztes Jahr hat er sich nicht mal mit seinem Legionsroman! Den ganzen Anfang musste er mehrmals umschmeißen. Und die unzähligen Umarbeitungen der leidigen «Fieberkurve» … der Roman will einem einfach nicht gelingen. Man muss immer wieder von vorne anfangen, und er will und will keine Form annehmen, obwohl man Erfindungsgabe und Arbeit daran vergeudet!
Man kommt so langsam dahinter, wie schwer es ist, einen passablen Kriminalroman zu schreiben. Er hat gemeint, dass man mit ein paar gelungenen Details einen Roman auf die Beine stellen könne. Das stimmt nicht, leider gar nicht. Das ist es, was man in Selbsterkenntnis und Selbstkritik festgestellt hat. Es ist immer die alte Geschichte! Man merkt plötzlich, dass man eigentlich noch gar nichts kann.
An die Amélie Morel, lacht Simenon, muss er sich allerdings erst gewöhnen … aber die eigenwillige kleine Dame wird es schaffen, ihrem etwas naiven Neffen die Würmer aus der Nase zu ziehen und hartnäckig ihre eigenen Ideen zu verfolgen. Mal sehen, was hinter dem merkwürdigen Tod des Monsieur Miller steckt ...
Messieurs! Messieurs!
Die Stimme klingt seltsam tönern, beide Männer drehen überrascht die Köpfe.
Nur wenige Meter hinter ihnen sitzt auf dem Dünenrand eine merkwürdige Gestalt. Wie ist sie dahingekommen? Weder Simenon noch Glauser haben etwas gesehen oder gehört. Gut, nicht verwunderlich, so vertieft in ihre beginnende Kriminalgeschichte, wie die beiden waren. Die Gestalt winkt mit einer Holzkrücke.
Messieurs! Kommen Sie näher!
Wie eine Stimme – eine Männerstimme – aus dem Grab, Glauser überfällt eine Gänsehaut. Erst als Simenon ein paar Schritte auf die Gestalt zugeht, folgt er ihm. Der Mann trägt ein braunes Kostüm, altmodisch aber sauber, eine Hand steckt in der Jackentasche. Der Ärmel flattert seltsam schlapp im Wind. Da steckt kein Arm mehr drin. Und das Gesicht des Einarmigen … Glauser weicht zurück. Ebenmäßige Züge, ein faltenloses Gesicht … Ein Frauengesicht!
Der Mann mit dem schönen Frauengesicht schwingt sich mit Hilfe der Krücke auf die Beine. Messieurs! In seiner Stimme hört Glauser nun unverkennbar einen spöttischen Unterton. Sie haben Glück, Messieurs, heute steht Kassandra vor Ihnen. Eine Prophezeiung für einen Sou! So billig erfahren Sie nirgends die Wahrheit!
Sein Lachen klingt schauerlich und hohl. Der Mann trägt eine Maske, eine stilisierte griechische Frauenmaske.
Simenon schmunzelt und kramt in den Hosentaschen nach Kleingeld. Er scheint den Einarmigen zu kennen und drückt ihm ein Geldstück in die Hand. Wir hören!
Merci, Monsieur! Sehr großzügig! Ich kenne Sie. Sie sind Gast im Hôtel de la Plage. Sie bekommen Ihre ganz persönliche Weissagung …
Die Maske schweigt und schaut über das Meer. Das nicht schön blau ist, sondern bräunlich wegen des aufgewühlten Sandes. Glauser, gebannt zwischen Schauer und Faszination, rührt sich nicht.
Im Anfang ist schon das Ende gespiegelt, nickt die Maske – hoheitsvoll kommt es Glauser vor – den beiden Männern zu und wendet sich zum Gehen.
Der Einarmige entfernt sich mit seiner Krücke seltsam elegant durch das hohe Dünengras, obwohl er ein Bein nach sich zieht, und verschwindet in einer Senke.
Glauser rührt sich nicht, wer ums Himmels willen war das?
Simenon zuckt die Schultern, ein Kriegsversehrter, einer der vielen … das halbe Gesicht weggeschossen … Er hat ihn schon mehrmals am Strand gesehen. Ein Bettler, wie es scheint. Aber nicht aufdringlich, er weiß, was sein Anblick auslöst.
Einer der vielen jungen Männer, denen der Krieg die Zukunft amputiert hat. Dem Großen Krieg hat man eine ganze Generation geopfert, man hat ihr Leben auf dem Schlachtfeld zerstört oder verstümmelt. Vielleicht schlimmer noch, in all den Körpern, die äußerlich heilten, bleiben die verstümmelten Seelen zurück. Und die sieht man nicht.
Für Simenon ist der Einarmige eine Mahnung, die immer wieder die Narbe des Vergessens aufreißen soll, damit nie wieder … Er holt Luft, er hat Glück gehabt, er war bei Kriegsbeginn erst elf.
Glauser ebenfalls. Hat Glück gehabt. Dass er Schweizer war und sein Land sich irgendwie aus dem Krieg rauszuhalten vermochte. Denn er war bei Kriegsbeginn achtzehn, und wäre er Franzose oder Deutscher … Er erzählt Simenon nicht, dass er die Rekrutenschule als Gebirgsartillerist absolviert hat, danach aber als dienstuntauglich entlassen worden ist.
Jetzt holt Glauser tief Luft, seine Weissagung – was halten Sie davon?
Simenon zuckt erneut die Schultern, schweigt diesmal. Er lässt sich nicht von irgendwelchen Sprüchen beeinflussen.
Auch Glauser schweigt. Und wenn die Prophezeiung stimmt? Wenn der Anfang ihrer Geschichte das Ende unweigerlich schon enthält? Vielleicht spiegelbildlich, als Palindrom? Ohne dass man als Autor sich dessen bewusst ist? Bei einem Kriminalroman – ist der Autor nur das Werkzeug der Geschichte eines Verbrechens, die erzählt werden will? Völlig absurd! Glauser schüttelt energisch den Kopf.
Lassen wir den Einarmigen! Sind bloß Sprüche, der hat einige solche in petto. Simenon legt die Hand auf Glausers Arm, der aufgeschlagene Ärmel seines Hemds flattert.
Monsieur Glosère, wir müssen nun ihren Commissaire Stüdère in unseren Fall mit dem ertrunkenen Montgomery Miller einführen. Offiziell wird er mit Inspektor Picot ermitteln, aber in Wirklichkeit wird er es mit Amélie Morel zu tun bekommen, denn sie wird ihre Nase überall reinstecken … Ich lasse ihren Spürsinn die Zusammenhänge aufdecken und nicht den unerfahrenen Neffen Laurent Picot …
Glauser verzieht skeptisch den Mund. Die Jungfer Morel wird seinen massigen Wachtmeister Studer nicht so leicht um den Finger wickeln können wie ihren Inspektorneffen. Sein Sturkopf von Studer holt in verzwickten Situationen zwar schon mal Rat bei seiner Frau Hedy, aber den Fall löst immer noch der Mann! Jawoll! In ihrer Geschichte muss Studer auf unbekanntem Terrain im Ausland eine Ermittlung durchführen, schwierig genug, und dann kommt ihm noch eine gwundrige Weibsperson in die Quere, die ihre eigenen Ideen zum Fall hat … Wenn das nur gut kommt ...
Glauser wagt nicht, etwas zu sagen, ein Wort zu viel und der Traum als der Glauser mit dem Simenon … löst sich auf wie Rauch im blauen Himmel …
Er fröstelt im aufkommenden Wind und ist hungrig, Geld für ein Mittagessen hat er keines.
Erwartungsvoll schaut Simenon seinen Begleiter an. Legen Sie los, cher collègue, das ist ihr Part! Haben Sie eine Idee, wie wir den Stüdère hierher an den Atlantik und in die Geschichte bringen?
Ja, hat er. An Geld mangelt es Glauser immer, an Ideen nie.