Kitabı oku: «Hildegard von Bingen», sayfa 2
Ein Kontinent bewegt sich
Als Hildegard geboren wurde, veränderte sich das Gesicht Europas allmählich. Die Bevölkerung wuchs, neue Flächen wurden urbar gemacht und neue Städte gegründet. Bessere landwirtschaftliche Geräte und effizientere Anbaumethoden führten zu einem deutlichen Aufschwung. Die Ländereien wurden dichter besiedelt und die Städte entwickelten sich zu bedeutenden Zentren. Ein selbstbewusstes Bürgertum gewann immer mehr an politischem Einfluss und emanzipierte sich allmählich von der kirchlichen Vorherrschaft. Der Aufwärtstrend zeigte sich auch an der Verbreitung der so genannten schönen Künste – vornehmlich an Fürstenhöfen sowie in den Städten. Die Minnelieder oder beeindruckende Kirchenbauten zeugen heute noch vom künstlerischen Glanz dieser Epoche.
Durch die enge Verbindung von Kirche und Staat hatten viele Fürsten kirchliche Ämter und Güter inne. Ebenso lebten viele Bischöfe als Vasallen des Königs wie weltliche Fürsten und waren stark in wirtschaftliche und politische Geschäfte verstrickt. Dieses Missstandes überdrüssig, wandte sich Hildegard von Bingen als Äbtissin brieflich an den römisch-deutschen König Friedrich I. Barbarossa [später Kaiser des römisch-deutschen Reichs], um sich gegen den Kauf von Kirchenämtern (Simonie) und die so genannte Laieninvestitur starkzumachen.1 Diese Praxis bedeutete, dass kirchliche Amtsträger von weltlichen Herrschern (anstatt von den zuständigen Bischöfen bzw. dem Papst) eingesetzt wurden. Zwischen Barbarossa und dem Papst war es zu starken Spannungen und schließlich zu einem erbitterten Machtkampf gekommen. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wollte zusätzlich zu seiner irdischen Macht auch zum Beherrscher der Kirche werden. Er schaltete sich in die Papstwahl ein und übte Einfluss auf die Ernennung von Bischöfen aus. Erst das Wormser Konkordat von 1122 konnte den Investiturstreit zwischen dem Papst und dem König bzw. Kaiser lösen.
Die Kreuzzüge 2
1095 rief Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont zum Ersten Kreuzzug auf, um die heiligen Stätten in Jerusalem von der islamischen Herrschaft zu befreien und christliche Zentren im Nahen Osten zu errichten. Den Kreuzrittern versprach die Kirche den Nachlass ihrer Sündenstrafen. Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse und religiöse Begeisterung trugen dazu bei, dass sich immer mehr Christen für die Idee, die christlichen Stätten in Palästina zurückzugewinnen, begeistern ließen. Neben dem einfachen Volk waren im kriegerischen „Pilgerzug“ auch Ritter und fürstliche Würdenträger aller Rangstufen zu finden. Der angesehene Zisterzienser-Mönch Bernhard von Clairvaux – bald nach seinem Tod heiliggesprochen und Jahrhunderte später zum Kirchenlehrer ernannt – stellte seine herausragende Begabung zum Predigen und seinen religiösen Eifer in den Dienst der Anwerbung für die Teilnahme an den Kreuzzügen. „Rache für Jesu Blut“ lautete die unmissverständliche Devise der Kreuzzugsrhetorik. Neben religiösen Motiven oder purer Abenteuerlust bot die Teilnahme am Kreuzzug unter der Flagge eines frommen Werkes die Möglichkeit, der eigenen oft tristen Situation zu entfliehen und sich dem Herrendienst oder einer Strafe für begangenes Unrecht zu entziehen.
Entlang der Route und am Zielort hinterließen die Kreuzfahrer meist Tod und Verwüstung. Der Hass gegen die „Ungläubigen“, womit zunächst die Moslems gemeint waren, richtete sich bald auch gegen die Juden. So kam es schon kurz nach dem Aufbruch ins Heilige Land – noch auf europäischem Boden – zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Die Rheinebene (namentlich Trier, Speyer, Worms, Mainz und Köln) war von den furchtbaren Ausschreitungen gegenüber den Juden besonders betroffen. Den erbitterten Kämpfen fielen Tausende zum Opfer – auf beiden Seiten. Auf ihrem Weg Richtung Jerusalem setzten die Kreuzfahrer das Plündern und Morden fort. 1099 wurde Jerusalem schließlich eingenommen. Zahlreiche Juden wurden in der Stadt und ihrer Umgebung auf grausame Weise ermordet. Sie wurden zum Teil bei lebendigem Leib verbrannt. 1100 wurde das Königreich Jerusalem ausgerufen.
Fast 50 Jahre später rief Papst Eugen III. zum 2. Kreuzzug (1147–1149) auf. Ziel war die Rückeroberung der Grafschaft Edessa – eine der vier Herrschaftsgebiete, die aus dem Ersten Kreuzzug hervorgegangen waren. Der Heereszug wurde von Ludwig VII. von Frankreich und dem römisch-deutschen König Konrad III. angeführt. Das kriegerische Unternehmen endete allerdings mit einem Misserfolg und schweren Verlusten. Konflikte in den eigenen Reihen und zunehmende Sittenlosigkeit prägten das Bild der Kreuzzüge. Brutale Überfälle und Raubzüge pervertierten die christlichen Ideale. Viele der Zurückkehrenden waren im Glauben zerrüttet, nicht wenige brachten die Lepra mit nach Hause.
Nachdem die Stadt Jerusalem 1187 von Sultan Saladin rückerobert worden war, rief Papst Gregor VIII. die Königreiche des Abendlandes in einer Bulle zum 3. Kreuzzug (1189–1192) auf. Die Kreuzfahrerheere wurden von einflussreichen Persönlichkeiten wie Kaiser Friedrich Barbarossa, König Philipp II. von Frankreich und König Richard Löwenherz aus England angeführt. Das an und für sich gescheiterte Kreuzzug-Unternehmen endete mit einem Friedensvertrag zwischen Richard Löwenherz und Saladin. Dies führte zu einer gestärkten Position der Christen im Heiligen Land (z. B. Gewährung eines freien Zugangs zu den heiligen Stätten) und zu einer sichereren Existenz der Kreuzfahrerstaaten.
Trotz weiterer Initiativen in den darauffolgenden Jahren, Kreuzfahrer für die „Heiligen Kriege“ zu motivieren, kam die Kreuzzugsbewegung gegen Ende des 12. Jahrhunderts nicht mehr richtig in Schwung. Mit der Eroberung der letzten christlichen Kreuzfahrerfestung im Heiligen Land (1291 Fall der Hafenstadt Akkon) durch ägyptische Truppen war die Zeit der fast 200 Jahre dauernden Kreuzzüge endgültig gescheitert und damit beendet.
In wirtschaftlicher Hinsicht erschlossen die Kreuzzüge jedoch neue Märkte und politische Einflussbereiche. Zudem profitierte Europa vom Kontakt mit der orientalischen Kultur und Geisteswelt. Griechische und arabische Schriften gelangten in den Westen. Exotische Gewürze und Früchte wurden in der Folge ebenso bekannt wie das arabische Zahlensystem, das bis heute in Verwendung ist.
Nach den blutigen Jahren der Kreuzzüge entstanden radikale Bewegungen, die die Lehre der abendländischen Kirche in Frage stellten. Erstmals richteten sich aufkeimende Häresien unmittelbar gegen die Institution der Kirche selbst. Auf der Suche nach einem Leben, das dem Anspruch des Evangeliums und den Idealen einer armen, aber wahrhaftigen Kirche entspricht, zogen Tausende in ekstatischen Gruppen durch Europa. Die Katharer (übersetzt „die Reinen“) bildeten die zahlenmäßig größte und am besten organisierte Vereinigung. Sie verbreiteten sich von Südfrankreich über Mainz rheinabwärts und gewannen zunehmend auch im Kölner Raum an Einfluss. Kennzeichen ihrer Lehre waren unter anderem eine ausgeprägte Leibfeindlichkeit und strenge Askese. Außerdem lehnten die Katharer die kirchlichen Sakramente ab. Sie propagierten die Ehelosigkeit, wobei sie sich selbst aber vielfach nicht daran hielten. Papsttum und Kirchenväter stellten für sie die Inkarnation des Bösen dar. Aufgrund ihrer Praxis der Laienpredigt wurden die Katharer, ebenso wie die Laienbruderschaft der Waldenser, 1184 von Papst Lucius III. verurteilt und exkommuniziert.
Ruf nach religiöser Erneuerung
Tiefgreifende Reformbewegungen, die von den französischen Klöstern Cluny und Gorze ausgingen, brachten einen religiösen Aufschwung mit sich. Neue Orden wurden gegründet. Die bedeutendsten waren die Zisterzienser, die Kartäuser und die Prämonstratenser. Die Mönche, im Besonderen die Zisterzienser, besannen sich auf die Ideale des hl. Benedikt und lebten fortan nach strengen Regeln. Die Lebensgewohnheiten in vielen Klöstern hatten sich mehr und mehr von den Vorgaben der geistlichen Gelübde (Armut, ehelose Keuschheit und Gehorsam) entfernt. Ausgedehnte Besitzungen und weltliche Geschäfte sorgten für Reichtum und vereitelten ein Leben in Stille und Bescheidenheit.
Im 13. Jahrhundert entstanden so genannte Bettelorden, die unter Berufung auf das Evangelium jeglichen Besitz ablehnten und sich um eine tiefgreifende Reform des Ordenslebens bemühten. Sie prangerten die zunehmende Verweltlichung des Klerus an. Zu den Bettelorden gehörten die Dominikaner, Franziskaner, Augustiner und Karmeliter. Die Mönche lebten vom Lohn ihrer Arbeit, von Schenkungen oder von Almosen. Ihre bevorzugten Einsatzgebiete waren die Seelsorge und die (Volks-)Mission sowie die Bekämpfung der Ketzer (Menschen, die an den Lehren der Kirche zweifelten und die Bibel anders auslegten, als es die anerkannten Theologen vorgaben).
Das erwachende Verlangen nach religiöser Erneuerung und Vertiefung zeigte sich auch in einem enormen Zuwachs an Frauenklöstern und ähnlichen Lebensgemeinschaften, z. B. den Beginen. Letztere waren selbständige, unabhängige Frauen, die weder heirateten noch in ein Kloster eintraten. Einige von ihnen waren verwitwet. Zumeist schlossen sich mehrere Beginen zu einer unabhängigen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft zusammen. Es gab aber auch Beginen, die alleine lebten. Anfangs (etwa ab dem 12. Jahrhundert) waren es hauptsächlich adelige Interessentinnen, später schlossen sich dieser spirituellen Bewegung Frauen aus allen sozialen Schichten an.
Den Mitgliedern ging es in erster Linie um persönliche Gotteserfahrung und religiösen Austausch mit Gleichgesinnten. Sie übten sich im Gebet und in Frömmigkeitsübungen, lasen gemeinsam die Bibel und tauschten sich über theologische Fragen aus. Vergleichbar mit klassischen Ordensgemeinschaften unterstützten sie einander in ihrer spirituellen Entwicklung. Bedeutende Mystikerinnen unter den Beginen waren unter anderem Mechthild von Magdeburg oder Marguerite Porète.
Die Beginen unterstanden keiner kirchlichen Hierarchie und legten normalerweise keine Ordensgelübde ab. Sie wählten üblicherweise eine „Meisterin“, die für eine begrenzte Zeit als Vorsteherin und Finanzverwalterin eingesetzt war. Diese konnte auf das Vertrauen und den freiwilligen Gehorsam der Frauengemeinschaft bauen.
Die einzelnen Beginenkonvente bzw. -lebensgemeinschaften organisierten sich selbst, vor allem auch in wirtschaftlicher Hinsicht. So entstanden größere (bis zu 60 Mitgliedern) und kleinere Konvente. Jede Frau brachte ihre Arbeitsleistung und eventuell ihr vorhandenes Vermögen in die Gemeinschaft mit ein. Unter den Beginen gab es besonders viele hochgebildete Frauen. Unverheiratete und verwitwete Frauen hatten damals – so wie die Nonnen in den Klöstern – leichteren Zugang zu Bildung, während verheiratete Frauen meist mit der Versorgung ihrer Familie voll in Anspruch genommen waren. Beginen arbeiteten unter anderem als Lehrerinnen, Wäscherinnen, Bäckerinnen oder als Mägde. Sie übernahmen auch Handarbeiten aller Art. Manche Konvente brachten es zu erheblichem Reichtum und damit auch zu Ansehen. Über die Handwerks- und Lehrberufe hinaus engagierten sich Beginen unter anderem in der Krankenpflege und Sterbebegleitung, als Hebammen und Erzieherinnen.
Die Zahl der Beginenkonvente nahm stetig zu, sodass die Frauenvereinigungen immer mehr Einfluss auf Kultur und Gesellschaft gewannen. Die Beginenbewegung breitete sich im 13. Jahrhundert über ganz West- und Mitteleuropa aus. Im Kölner Raum siedelten sich im ausgehenden 13. Jahrhundert und in den Jahrzehnten danach besonders viele Beginengemeinschaften an: insgesamt an die 170. Die größten Beginenanlagen waren in Holland und Belgien zu finden. 1216 wurde die eigenständige religiöse Lebensform der Beginen vom Papst anerkannt. Allerdings wurde ihnen die Anerkennung als laienreligiöser Stand – und damit auch das Predigen – aufgrund von verschiedenen Vorwürfen (z. B. ketzerische Lehrtätigkeit) bereits im Jahre 1311 wieder entzogen. Auch den Zünften waren die Beginen aufgrund ihrer gewerblichen Tätigkeiten und damit der deutlich erfahrbaren wirtschaftlichen Konkurrenz ein Dorn im Auge. In der Folge wurden die Beginen immer mehr zurückgedrängt und die Zahl ihrer Wohn- und Lebensgemeinschaften nahm merklich ab. In und nach der Reformationszeit wurden die meisten Beginenkonvente (zum Teil gewaltsam) aufgelöst.
Nonnen hatten nach der kirchlichen Standesordnung einen höheren Stellenwert inne als verheiratete Frauen oder Witwen. Das weithin hohe Ansehen des Ordensstandes und die Sorge um das eigene Seelenheil sowie das von nahestehenden Angehörigen lockte nicht wenige Adelige in einen Männer- bzw. Frauenorden. Durch großzügige Schenkungen sicherten sich viele Adelige daher schon frühzeitig einen Platz in einer Klosteranlage – spätestens für ihren Lebensabend.
Beträchtlicher Grundbesitz und die damit verbundenen Abgaben der Pächter boten so manchem Kloster ein relativ angenehmes Leben. Somit waren es nicht immer religiöse Motive, die ausschlaggebend für einen Ordenseintritt waren. Für Frauen bedeutete ein Ordenseintritt mitunter die einzige Chance, eine höhere Bildung zu erlangen; nur innerhalb eines Klosters gab es für Frauen ein entsprechendes Angebot. Und zudem bot das Kloster die Möglichkeit, einer unfreiwilligen Verheiratung zu entkommen.
Die Ehe diente in erster Linie dazu, die Sexualität „in geordnete Bahnen zu lenken“ und für Nachwuchs zu sorgen. Der Mann besaß wie selbstverständlich das Recht auf den Körper seiner Ehefrau, was für diese in vielen Fällen leider auch Gefügigkeit und sexuelle Ausbeutung bedeutete. Die generelle Minderbewertung von Frauen zeigte sich auch im rechtlichen Bereich: Jede Frau war zunächst Eigentum ihres Vaters, später – falls verheiratet – ihres Ehegatten. Als Witwe unterstand sie in der Rechtsprechung ihren Söhnen. Diese patriarchale, durchaus selbstverständlich hingenommene Familienordnung wurde im Mittelalter durch keinerlei Emanzipationsbestrebungen hinterfragt. Sie wurde überwiegend als gottgewollt angesehen und ertragen.
Die für das Mittelalter typischen Standesunterschiede zwischen Adeligen und Nichtadeligen blieben selbst in den Klöstern über Jahrzehnte gewahrt. Auch Hildegard nahm in ihrer ersten Klostergründung auf dem Rupertsberg nur adelige Nonnen auf. Diese Praxis geriet im Laufe der Zeit in Gegensatz zu neueren Ordensphilosophien und wurde als konservativ bzw. nicht dem Evangelium entsprechend kritisiert und allmählich aufgegeben.
Klöster – Zentren der Bildung und Kultur
Die mittelalterlichen Klöster, Stifte und Kathedralschulen waren anerkannte Zentren der Kultur. In den Klosterbibliotheken wurde das gesamte Schriftgut der Zeit gesammelt und in den Schreibstuben wurden bedeutende Werke in mühsamer Arbeit abgeschrieben. Dazu gehörten unter anderem die Bibel mit den jeweiligen Kommentaren, liturgische Bücher, Heiligenviten, die Schriften der Kirchenväter sowie wissenschaftliche Traktate und Enzyklopädien.
Auch die Geschichtsschreibung stellte eine wichtige Tätigkeit in den klösterlichen Schreibstuben dar. Von den Klöstern ging eine starke missionarische Kraft aus. Dem hl. Bernhard von Clairvaux (1090–1153), einem der angesehensten geistlichen Autoritäten des Mittelalters, werden zum Beispiel 68 Klostergründungen zugeschrieben.
Eine weitere Aufgabe der Klöster – neben Bildung, Seelsorge und Erziehung – tat sich in der Betreuung von alten, schwachen und kranken Menschen auf. Zu diesem Zweck war den Klöstern normalerweise ein eigenes Hospital oder Armenhaus angegliedert. In vielen Fällen standen auch eigene Kräutergärten und Aderlass-Kammern für die medizinische Versorgung bereit. Nicht selten machten Aussätzige außerhalb der Klostermauern mit einer Rassel klappernd auf ihr Elend aufmerksam und warteten auf Almosen.
Pilgern und Reisenden standen innerhalb der Klosteranlage eigene Gästehäuser zur Verfügung. In der benediktinischen Grundregel stand das Erweisen von Barmherzigkeit gegenüber Kranken und Hilfesuchenden als Ideal und zugleich als wichtigste Pflicht jeglichen Ordenslebens fest. Sie galt sowohl für die medizinische Versorgung von Kranken und Leidenden als auch für alle anderen Formen menschlicher Zuwendung gegenüber Hilfsbedürftigen.
Die ersten Universitäten
Der Zusammenschluss von Kloster- und Domschulen – vielfach auch privaten Gelehrtenschulen – führte zur Gründung der ersten Universitäten. Diese entstanden in Italien (Bologna 1088) und in Frankreich (Paris 1257). Durch die Vermittlung islamischer Gelehrter gelangten die griechische Philosophie und Medizin über Spanien an die neuen Lehrstätten. Die damals vorherrschenden theologischen und philosophischen Strömungen waren geprägt durch Persönlichkeiten wie Anselm von Canterbury († 1117), Hugo von St. Viktor (1096–1141), Abaelard (1079–1142), Petrus Venerabilis (1092–1156) und Bernhard von Clairvaux (1090–1153).
Diese pflegten ein vorwiegend auf Transzendenz ausgerichtetes Denken. Im Gegensatz dazu ist Hildegard von Bingen von einer großen Liebe allem Geschaffenen gegenüber in der (alltäglichen Lebens-)Welt geprägt. Das dürfte wohl auch dazu beigetragen haben, dass ihre Schriften kaum öffentliche Beachtung fanden, obwohl Hildegard als Person bei bedeutenden Zeitgenossen in hohem Ansehen stand. Ihre theologischen Werke blieben fast 800 Jahre lang unbeachtet und wurden erst in unserer Zeit wiederentdeckt.
Ab dem späten 13. Jahrhundert erhielt das mystische Erleben einen wichtigen Platz in Theologie und Kirche. Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Frauen wie Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta, Marguerite Porète und Mechthild von Hackeborn zogen mit ihrer ausgesprochen persönlichen Gottesbeziehung die Bewunderung des Volkes auf sich. Bis ins kleinste Detail schilderten die Mystikerinnen, die häufig ein Leben in Askese und Zurückgezogenheit führten, beispielsweise ihre visionäre Hochzeit bzw. ihre erotische Vereinigung mit Christus. Diese Form von Frömmigkeit und spiritueller Literatur bezeichnet man als Minne- oder Brautmystik. Die Handschriften, die überwiegend aus Ekstasen und Verzückungen heraus entstanden, unterscheiden sich grundlegend von den tendenziell nüchtereren Texten der weltoffenen, lebensfrohen und politisch engagierten Äbtissin vom Rupertsberg.
Das Leben der heiligen Hildegard
Visionen und Klostereintritt
„Von meiner Kindheit an, als meine Gebeine, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meine Seele bis zur gegenwärtigen Stunde … Und meine Seele steigt, wie Gott will, in dieser Schau bis in die Höhe des Firmamentes und die verschiedenen Sphären empor …“ 3
Hildegard von Bingen erblickt 1098 in Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen das Licht der Welt. Sie ist das jüngste von 10 Kindern einer adeligen Familie. Ihre Eltern Hildebert und Mechthild entstammen dem fränkischen Hochadel. Schon im frühen Kindesalter entdecken die Eltern an Hildegard eine Besonderheit: Das kleine Mädchen lässt durch ungewöhnliche Äußerungen erkennen, dass es in seinem Inneren „wundersame Dinge“ hört und sieht. Als Hildegard bemerkt, dass ihr vorsichtiges Stammeln darüber nur Verwunderung und Unverständnis auslöst, entschließt sie sich, über ihre geheimnisvollen „Schauungen“ hinkünftig zu schweigen. Aus ihrer Verunsicherung heraus – anders zu sein als die Menschen ihrer Umgebung – weint sie oft, wie sie in den autobiografischen Fragmenten, die sich in ihrer Vita finden, festhält.
Schon früh wird Hildegard für ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit bestimmt. Ob die seherische Begabung ihres jüngsten Kindes die Eltern zu diesem Schritt veranlasst hat oder ob es aus einem damals durchaus üblichen Akt der Dankbarkeit geschieht, dem Schöpfer das 10. Kind als „Zehent“ in besonderer Weise anzuvertrauen, bleibt offen. Jedenfalls wird Hildegard vermutlich schon als 8-jähriges Mädchen in die Obhut einer im Glauben tief verwurzelten Verwandten – Jutta von Sponheim – gegeben. Auf einer abgeschiedenen Burg – so wird heute angenommen – bereiten sich die zwei im Beisein einer frommen und gebildeten Witwe auf ein geistliches Leben vor. Am 1. November 1112 zieht Hildegard – begleitet von ihren Eltern – zusammen mit Jutta und einem anderen Mädchen auf den Disibodenberg im Nahetal, wo sich ein benediktinisches Mönchskloster mit einer angebauten Frauenklause befindet.
Dieser bewaldete Bergvorsprung erhebt sich inmitten einer abwechslungsreichen Flusslandschaft, etwa 80 Kilometer westlich von Mainz. Die geographisch günstige Lage am Zusammenfluss von Nahe und Glan zog wahrscheinlich schon in vorchristlicher Zeit Menschen an, die auf dem Berg ein Heiligtum errichteten. Spätestens seit dem 7. Jahrhundert ist dort ein geistliches Zentrum nachweisbar. So soll sich der irische Wandermönch und Bischof Disibod im 7. Jahrhundert mit drei weiteren Gefährten in der Nähe des Berges niedergelassen haben. Als sich sein Ruf als Wunderheiler verbreitet, wird auf dem Gipfel des Berges, wo der hl. Disibod begraben liegt, eine klosterähnliche Anlage errichtet. Von dem seit Beginn des 11. Jahrhunderts bezeugten Kanonikerstift erfolgt die seelsorgliche Betreuung der umliegenden Siedlungen durch zwölf Kleriker.
Die Klosterruine Disibodenberg, Öl auf Leinwand, Monogrammiert „F“; das Gemälde geht auf eine Lithographie nach einer Zeichnung von Caspar Scheuren zurück, die 1834 veröffentlicht wurde.
Das Kloster beim Grab des hl. Disibod († 700) beherbergte im Laufe seiner wechselvollen Geschichte verschiedene Ordensgemeinschaften. Benediktiner lebten hier von 1108 bis 1259, ihnen folgten Zisterzienser. 1559 wurde das Kloster im Zuge der Reformation aufgelassen, im 18. und 19. Jahrhundert verfielen die Gebäude.
1108 sendet der Mainzer Erzbischof Benediktinermönche auf den Disibodenberg, die noch im selben Jahr mit dem Bau eines neuen Klosters beginnen. Dem Doppelkloster wird eine Frauenklause angebaut. Die bis heute erhaltenen Ruinen zeugen vom gigantischen Ausmaß dieses Bauwerks, an dem bis zu seiner endgültigen Fertigstellung fast 40 Jahre lang gebaut wurde. Diese fast ununterbrochenen Arbeiten an den Klostergebäuden hat die junge Nonne Hildegard seit ihrem Ordenseintritt mitverfolgen können, was ihr später beim Bau von Kloster Rupertsberg sicher zugutegekommen ist.
Nachdem die Benediktinerklöster seit jeher als Zentren der Kunst und Wissenschaft gelten, ist anzunehmen, dass nicht nur den Mönchen, sondern auch den jungen Nonnen eine solide Bildung zuteilwird. Durch ihre Lehrmeisterin Jutta werden sie in die Feier der Liturgie sowie in das Rezitieren von Psalmen eingeführt. Da die liturgischen und biblischen Texte üblicherweise in Latein vorgetragen werden, ist anzunehmen, dass den Schülerinnen im Rahmen ihrer breit gefächerten Ausbildung auch Grundkenntnisse der lateinischen Sprache vermittelt werden. Die Heilige Schrift und die Werke der Kirchenväter zählen zu den Grundlagen geistlicher Beschäftigung und klösterlicher Literatur.
Zwischen 1112 und 1115 legt Hildegard im Beisein von Bischof Otto von Bamberg ihre Ordensgelübde ab. Damit entscheidet sich die junge Novizin bewusst und endgültig für ein klösterliches Leben nach der Regel des hl. Benedikt.
Zusammen mit ihren inzwischen etwa zehn Gefährtinnen bemüht sich Hildegard um geistliches Wachstum. Die Nähe Gottes erfährt sie im Gebet, in der täglichen Feier der Liturgie sowie in den geistlichen Gesängen, die während der Gottesdienste und dem gemeinsamen Gebet vorgetragen oder gesungen werden. Auch die Natur ist für Hildegard eine spirituelle Kraftquelle.
Nach dem Tod Juttas im Jahre 1136 wird Hildegard zur Meisterin, zur neuen Leiterin der Frauenklause gewählt. Sie wird das verantwortungsvolle Amt der Klostervorsteherin bis zu ihrem Tod im Jahre 1179 ausüben, also insgesamt 43 Jahre lang. Dies ist insofern erstaunlich, als Hildegard von Geburt an immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat.
Im Jahre 1141, als Hildegard fast 43 Jahre alt ist, vernimmt sie in ihrem Inneren den Auftrag Gottes, die Visionen, die sie seit ihrer frühen Kindheit empfangen hat, niederzuschreiben. Da sie anfänglich aus Unsicherheit und Menschenfurcht zögert, dieser Aufforderung nachzukommen, erkrankt sie schwer. Erst als sie mit Unterstützung eines gelehrten Mönchs mit dem Niederschreiben des Geschauten und Gehörten beginnt, kehren ihre Kräfte und Lebensgeister allmählich zurück. Mönch Volmar, zu dem Hildegard von Anfang an großes Vertrauen hat, soll die Visionsberichte und deren Auslegung, die Hildegard mit ihrem Griffel zunächst in Wachstafeln ritzt, in grammatikalischer Hinsicht korrigieren und auf Pergamentpapier schreiben.
Obwohl Hildegard von Mönch Volmar und von Abt Kuno ermutigt wird, ihre Visionen niederzuschreiben, wird sie immer wieder von Selbstzweifeln und Unsicherheit im Umgang mit ihrer Sehergabe geplagt. In ihrem Bedürfnis nach endgültiger Klarheit wendet sie sich brieflich an eine der damals angesehensten geistlichen Autoritäten: an den Zisterzienser-Mönch Bernhard von Clairvaux. Ihn bittet sie um eine Stellungnahme hinsichtlich der überwältigenden Bilder und Vorgänge, die sich in ihrem Inneren ereignen. Abt Bernhard, selbst Verfasser bedeutender geistlicher Werke, rät Hildegard zum Weiterschreiben an ihren Visionsberichten.
Als Papst Eugen III. von der Seherin auf dem Disibodenberg erfährt, schickt er eine Kommission in das Benediktinerkloster, um die Visionsschriften der bis dahin noch unbekannten Nonne eingehend zu überprüfen. Auf der Synode von Trier (1147/48) liest der Papst unter dem begeisterten Beifall der anwesenden Kleriker Textabschnitte aus Hildegards erstem Buch Scivias (Sci vias domini: Wisse/Erkenne die Wege des Herrn) vor und bestätigt damit offiziell die Echtheit von Hildegards Sehergabe. Mit dieser Anerkennung durch die höchste kirchliche Autorität zeichnet sich ein neuer Lebensabschnitt für die inzwischen 50-jährige Magistra ab. Sie wird zu einer über die heimatlichen Grenzen hinaus bekannten Künderin des Wortes Gottes.