Kitabı oku: «Habt ihr Kummer oder Sorgen …», sayfa 2

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Das ganze Heim ein Kinderchor

Mutti entschloss sich 1951, auf die Medizinische Fachschule nach Magdeburg zu gehen. Sie wohnte dort in einem Studentenheim mit Doppelstockbetten und zu viert im Zimmer. Elke und ich kamen in ein Kinderheim nach Elbenau, heute ein Ortsteil von Schönebeck, unweit von Magdeburg.

Ich ging mittlerweile in die 2. Klasse. Und das Beste war, ich kam mit Elke gemeinsam in eine Klasse. Es war eine Zwergschule, weil es im Dorf ja auch nur wenige Kinder gab. Die jeweils nicht angesprochenen Klassen bekamen schriftliche Aufgaben, waren also beschäftigt. Nebenbei konnten sie gleich mithören, was der Lehrer den anderen erklärte. So etwas funktioniert auch heute, in der Grundschule werden oft zwei oder drei Klassenstufen zusammen unterrichtet. Ich erinnere mich aber auch daran, dass der Herr Lehrer aufmüpfigen Schülern mit dem Zeigestock auf die Hände schlug. So schaffte er Ruhe. Lehrer durften das. Damals existierte wohl noch die Prügelstrafe.

Ich liebte die »Tanten« im Elbenauer Kinderheim. Wenn wir in dem großen Aufenthaltsraum tobten und spielten, gab es, auch wenn wir noch so übermütig waren, keine bösen Worte.

Natürlich hatte dieses Heim auch einen Heimleiter. An den kann ich mich aber gar nicht mehr erinnern, da er für Leitung, Organisation sowie das Büro zuständig war. Dazu betreute er die großen Jungs.

Allerdings entsinne ich mich an ein Ereignis, bei dem ich einigen Respekt vor ihm bekam. Neben dem Heim lag der Dorfteich, der im Winter zufror. Uns war strengstens verboten, den vereisten Teich zu betreten. Wir ließen zumindest unsere Schulmappen auf ihm schlittern. Einmal kam ein Ranzen, der von einem Jungen angeschubst wurde, nicht am anderen Ufer an. Der Junge ging aufs Eis, um nachzuhelfen. Er brach ein, konnte sich selbst retten, wurde dann aber vom Heimleiter tüchtig versohlt. Heute denke ich dabei an die Reaktion einer jeden Mutter, wenn sich ihr Kind auf der Straße von der Hand reißt und Richtung Fahrdamm läuft.

Es gab dort in Elbenau auch ein Krankenzimmer, sicher waren wir alle mal dort drin. Es befand sich oben unterm Dach, und als Elke mal dort einquartiert war, gab es zum Mittagessen Eintopf mit undefinierbaren und wahrscheinlich auch ungenießbaren Fleischklößchen. Der Teller musste unbedingt leer gegessen werden, sonst gab es Ärger. Also runter mit der Suppe, aber wohin mit den scheußlichen harten Klopsen? Schnell öffnete sie die Dachluke einen Spaltweit, und die Dinger kullerten ganz fix in die Dachrinne. So hinterließen sie auch keine Spuren. Das sprach sich unter den Kindern natürlich herum, und immer, wenn es regnete, hatten wir Angst, dass die dort entsorgten Dinge ans Tageslicht gespült würden. Als ich krank war, gab es keine Klopse.

In diesem Heim waren auch zwei Kinder einer Studienkollegin unserer Mutti untergebracht: Eckhard und Almut. Eckhard, genannt Akki, wurde mein Freund. Wir waren gleichaltrig und liefen Hand in Hand, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Jetzt war er mein Beschützer, Elke war abgemeldet.


Auf dem Balkon – Elke hinten links, ich vorn rechts

(neben mir vermutlich Almut)

Ein ganz besonderes Ereignis waren gelegentliche Kinobesuche in Schönebeck. Dazu mussten wir durch einen Wald laufen oder neben dem Wald her am Feld entlang gehen.

Der Wald war hochinteressant für uns. Es lagen Stahlhelme, Munitionsreste und Panzerteile darin, eben lauter Kriegsüberbleibsel. Heimlich sammelten wir diese »Schätze« auf. Natürlich war uns das streng verboten. Deshalb sollten wir auch immer den Feldweg nach Schönebeck nehmen.

Irgendwann ging das Gerücht um, in diesem Wald halte sich ein Mörder versteckt. Vielleicht war dem tatsächlich so, möglicherweise aber war das Ganze auch von den Erzieherinnen erdacht und verbreitet worden, um uns wirklich vom Wald fernzuhalten.

Einen Rückweg vom Kinobesuch werde ich nie vergessen: Wir kamen aus Schönebeck und wanderten in Gruppen den Feldweg entlang nach Hause, ins Heim. Plötzlich schrie ein Kind ganz laut: »Der Mörder!« – und zeigte wild gestikulierend in den Wald. Ich sah dort niemanden, aber alle rannten schreiend und wie verrückt los. Ich lief neben meiner Schwester Elke, die aufgrund ihres gelähmten Beins nicht so schnell laufen konnte. Bald waren alle Kinder verschwunden. Elke und ich liefen, so schnell sie konnte.

Ich litt Todesangst, wollte aber unter allen Umständen bei Elke bleiben. Verzweifelt schickte ich ein Gebet zum Himmel: »Lieber Gott, lass Akki kommen!«

Da hörte ich hinter uns ein mir bestens vertrautes Stimmchen rufen: »Urte!«

Es war Akki. Er war seiner Gruppe vorausgelaufen, weil er mich in der vorherigen wusste. Fortan glaubte ich an den weißbärtigen, alten Mann im Himmel.

Neben dem lieben Gott gab es noch einen Mann, den ich nie gesehen hatte, den ich aber toll fand. Er hatte nämlich am 21. Dezember Geburtstag – genau wie ich! Es war Josef Wissarionowitsch Stalin, natürlich ein »Russe«! Sein Lieblingslied »Suliko« gefiel mir so sehr. Suliko ist ein georgischer Vorname, und der Text des Liedes beginnt mit der Zeile: »Sucht ich, ach, das Grab meiner Liebsten …« Ich liebte dieses Lied, und weil der Mann mit diesem komischen Namen dieses Lied auch mochte, war er mein Freund.

Eines Tages fand eine große Feier statt. Stalins Bild stand im Essensaal, drum herum unzählige Blumen, jemand hielt eine Rede. Stalin war gestorben, ich weinte bitterlich. Ich glaube, ich war die Einzige, die das tat. Von nun an war ich ganz allein mit diesem 21.-Dezember-Geburtstag. Es reichte doch schon, dass ich mit meinem Namen so allein dastand. Kein anderes Kind hieß Urte, einfach doof! Ute war ein »richtiger« Name, aber Urte? Wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, nannte ich stolz meinen nicht so seltenen zweiten Namen dazu: »Urte Grabbiele.« Gabriele war zu kompliziert.

Geliebt habe ich mein Poesiealbum. »Poeeeesi«, sagten wir dazu, und auch der Heimleiter hatte sich in dem meinen verewigt.

Die Zwergschule hatte nur drei Klassen. Da Elke aber am Schuljahresende in die 4. Klasse kam, zogen wir beide um. Wir kamen in das Martin-Schwantes-Heim nach Salzelmen, ebenfalls ein Ortsteil von Schönebeck. Das war ein reines Mädchenheim. Es wohnten dort Waisenkinder, Findelkinder, aber auch solche wie wir – Kinder von alleinerziehenden Müttern, die gerade studierten oder im Schichtdienst arbeiteten.


Ansicht von Bad Salzelmen (Foto: picture alliance / arkivi)

Immer wenn ich irgendwo erzähle, dass ich mehrere Jahre im Kinderheim gewesen bin, werde ich bedauert, weil das ja nach allgemeiner Auffassung eine schreckliche Zeit gewesen sein muss. Jahre voller Missbrauch und Gewalt. Gelegentlich werde ich dann bewundert, dass ich nicht kriminell geworden bin.

Ganz im Gegenteil. Meine Zeit im Martin-Schwantes-Heim war wirklich schön. Ich empfand das Ganze als eine Art Ferienlager. Vor allem hatte diese Phase einen ganz entscheidenden Einfluss auf meine musische Entwicklung. Nicht nur mir ging es so. Der Dirigent Günter Krause, den ich bei der Sendung »Von Polka bis Parademarsch« kennenlernte, erzählte mir, dass er in einem Kinderheim in Thüringen aufgewachsen war. Auch er hatte dieses »Ferienlager-Gefühl«, und es wurde ihm dort ermöglicht, ein Instrument zu erlernen, um später ein Musikstudium zu ergreifen. Wir erlebten ein besorgtes Behütetsein im Kinderheim!


Eine Gruppe von Kindern im Hof des Kinderheims Martin Schwantes, mit der Leiterin Frau Heuer. Elke und ich sind nicht dabei.

Frau Heuer war eine ganz besondere Heimleiterin. Meine Erinnerung an sie ist bleibend. Sie war nicht nur Chefin und Erzieherin, sondern vor allem bemüht, allen ihr anvertrauten Kindern musikalische Bildung zu vermitteln. Sie hatte das nie studiert, aber sie verfügte über ein großes musikalisches Wissen und konnte dieses auch weitergeben. Ich erinnere mich, dass wir irgendwann bei einer Chorprobe von einigen fremden Männern kritisch beobachtet wurden. Das war die praktische Prüfung für Frau Heuer, sie hatte gerade im Fernstudium ihren Abschluss als Chorleiterin bestanden!

Sehr gut entsinne ich mich an unsere erste Nacht im Martin-Schwantes-Heim. Elke und ich wohnten in verschiedenen Zimmern und ich musste – wie immer – aufs Klo. Ich wusste aber nicht mehr, wo das Klo war, und hatte Angst in diesem fremden Haus. Das Ende vom Lied: Ich machte ins Bett. Am nächsten Morgen erzählte ich das sofort Elke. Sie durfte im Zimmer bleiben und musste nicht mit auf den Hof zum Frühsport. Also deckte sie schnell das nasse Laken einfach ordentlich mit der Bettdecke zu, niemand merkte etwas und abends war alles wieder trocken.

Immerhin wusste ich, wo das Zimmer lag, in dem Elke schlief. Also ging ich in der folgenden Nacht meine Schwester wecken: »Ich muuuusssss!« Elke brachte mich aufs Klo. Ich war schon sehr froh, eine große Schwester zu haben.

An dieses Heim habe ich die buntesten Erinnerungen. Wir gingen in die ganz normale Schule des Ortes, und es dauerte gar nicht lang, bis ich wieder einen Freund fand. Einen aus der Stadt, der in die Parallelklasse ging. Wir hüteten zusammen Ziegen. Manfred Lachetta saß mit mir auf der Wiese und erzählte aus seinem achtjährigen Leben. Warum weiß ich seinen Namen noch? Seine Erzählungen müssen mich offenbar mächtig beeindruckt haben.

Und wieso hüteten wir Ziegen? Unser Heim hielt auf dem Hof allerhand Getier. Für die Hühner sammelten wir Maikäfer, die Schweine bekamen die Essenreste und die Ziegen wurden gehütet und gemolken. Anfang der fünfziger Jahre lief das mit der Verpflegung eben noch nicht so rosig bei uns. Da war diese Idee eines kleinen Bauernhofs schon ideal.

Die Hühner legten Eier, und manchmal schlüpften kleine Küken. Die waren so süß, dass wir sie heimlich mit aufs Zimmer nahmen. Das tat diesen kleinen Federbällchen leider gar nicht gut. Nur Liebe, das reichte nicht. Schließlich kam alles heraus. Es folgte Schelte, dann eine große Beerdigungsfeier und wir schworen uns: »Das machen wir ­niiieee wieder!«

Montags gab es Milchreis mit Zucker und Zimt oder Makkaroni mit Tomatensoße. Beide Gerichte mag ich bis heute nicht. Wenn das ganze Haus danach roch … o nein!

Makkaroni-Essen war für mich wie Schlauchschlucken. Alle Kinder spielten schon auf dem Hof, während ich noch immer vor meinem Teller saß. Die Makkaroni waren längst kalt. »Es wird aufgegessen, es wird nichts weggeschmissen!«, hieß es nämlich. Wieso eigentlich, fragte ich mich, wir hatten doch die Schweine! Aber gut, vielleicht mochten die ja auch keine Makkaroni.

Irgendwann kam eine Erzieherin und wollte das böse Spiel beenden. »Jetzt nimm doch wenigstens einen Happs«, sprach sie zu mir. Ich nahm – und erbrach mich, direkt auf den Teller. Ich musste nie wieder Makkaroni essen.

Blutwurst hingegen mochte ich sehr, zumindest damals. Fuhren wir zu Chor-Wettbewerben, bekamen wir jeder ein Futterpaket. Meistens war da auch Blutwurst drin, die die wenigsten Kinder mochten. Elke und ich schlugen uns damit den Bauch voll. Diese Blutwurstzeit reichte offenbar für mein ganzes Leben. Denke ich heute daran, schüttelt es mich.

Überhaupt war der Chor das Wunderbare hier. Die Heimleiterin, Frau Heuer, formte aus dem gesamten Kinderheim einen Chor. Ihr Motto lautete: »Jedes Kind kann singen!« Na ja, das stimmte … fast. Irgendwie konnten wir es tatsächlich alle. Nur ein Mädchen nicht, das brummte immer nur vor sich hin. Dieses Mädchen hieß ausgerechnet Helga Lerche. Natürlich kam Helga mit, wenn wir zu Auftritten fuhren. Allerdings hatte sie strengstes Verbot, mitzusingen. Sie sollte nur den Mund bewegen und tonlos den Text mitsingen. Frühes Vollplayback eben.

Helga stand natürlich immer ganz hinten. Noch weiter hinten stand bei einem Auftritt eine große Blumenvase. Kurz vor Beginn unserer Vorstellung nervte ich Elke:

»Duuuu, ich muss mal!!!« Elke wandte sich an eine Erzieherin, doch die wusste auch keine Lösung. Nach vorn raus konnte ich nicht mehr, und hinter der Bühne war keine Toilette, also hieß es: »Geh auf die Blumenvase.« Das klappte prima, erleichtert konnte ich mitsingen.

Apropos aufs Klo müssen und die Probleme damit: Ich hatte später das Glück, dass viele Frauen, die ich auf meinen Westtourneen kennenlernte, ihre Schränke für mich öffneten: »Du bist ja so dünn«, sagten sie zu mir, »ich habe so viele Klamotten, die mir zu klein sind. Würdest du die nehmen?« Und wie ich würde! So kam ich zu meinem ersten Overall. Kaum zurück zu Hause war ich schon wieder unterwegs zu einer Veranstaltung. Wir fuhren auf der Autobahn von Berlin nach Hohenstein-Ernstthal, als ich mal wieder ganz dringend musste! Raststätten: Null, Toi­letten: Null! Kein Problem, wir waren ja dran gewöhnt, in den Wald zu gehen. Also ging ich – und stellte mit Entsetzen fest, als ich den Overall runterzog: Ich saß, da ich keinen BH trug, völlig nackt inmitten der Bäume. FKK am Strand – logisch und kein Problem, aber im Wald, direkt neben der Autobahn? Fortan zog ich dieses schicke Teil nie wieder zu einer Mugge an.

Ja, das ganze Kinderheim war ein einziger Chor, und mir jedenfalls machte das Singen riesigen Spaß. Elke wurde sofort als Sopran eingeteilt. Ich mit meinem kindlichen Alt stand hinten, sang die zweite oder dritte Stimme.

Wir hatten täglich Proben. Unser Tag begann mit einem Morgenkreis. Da sangen wir ein Morgenlied, zum Beispiel: »Bald prangt, den Morgen zu verkünden, die Sonn auf gold’ner Bahn …« Erst viele Jahre später wurde mir klar, was ich da als Achtjährige mit Inbrunst trällerte: Das Lied der drei Knaben aus Mozarts Zauberflöte.

So unendlich viele Lieder sind leider vergessen, die meisten werden nicht mehr gesungen. Wie oft rufen Elke und ich uns an, weil da plötzlich ein Lied im Kopf ist und die Frage steht: »Wie geht es weiter?« Gemeinsam packen wir das dann. Am Ende singen wir am Telefon ein Lied, das außer uns fast keiner mehr kennt.

»Es ließ sich ein Bauer ein’ Paltrock schneid’n« – dieses Lied haben wir im Heim nicht nur gesungen. Wir stellten musikalisch dar, wie sich Bauer und Schneider stritten, weil besagter Rock verschnitten war. Oder das »Besenbinderlied«. An seinem Schluss sang ich voller Inbrunst: »Leute, wer kauft mir Besen ab!« Frau Heuer gab uns also nicht nur Gesangsunterricht, sondern vermittelte uns auch die Freude an der darstellenden Kunst.

Diese Freude verspürte ich schon immer. Ganz früh hatte ich in Wismar im Kino Schwarzwaldmädel mit Sonja Ziemann gesehen und auch jede Menge Heimatfilme mit ihr. In irgendeinem Film muss sie ein Reh mit der Flasche aufgezogen haben. Ich weiß jedenfalls ganz genau, dass Sonja Ziemann einen meiner Berufswünsche prägte: Förstersfrau!

Meine zauberhafte Erzieherin hieß ebenfalls Fräulein Ziemann. Natürlich war sie für mich dem Film entstiegen und ich liebte sie als mein Schwarzwaldmädel.

Mit meiner Freundin Romanda Keller sang ich nicht nur. Wir beide gingen gern in den Krämerladen, um uns für zehn Pfennig eine riesige saure Gurke zu kaufen. Ich weiß bis heute nicht, ob die Schönebecker auch diesen geringen Preis zahlen mussten, oder ob der Ladenbesitzer nur den Heimkindern eine Freude bereiten wollte. Romanda wurde als namenloses Baby in einem Keller in Rumänien gefunden und bekam vom Jugendamt ihren wunderschönen Namen.

Ein anderes Mädchen beschäftigte mich am 17. Juni des Jahres 1953. Ihre Mutti arbeitete in Magdeburg als Polizistin. Das Mädchen weinte, und uns wurde gesagt: »Seid bitte lieb zu ihr, denn sie hat Angst um ihre Mutter.« In Magdeburg sei ganz viel los, hieß es. Ihre Mutti sei in Gefahr, sogar Schüsse sollen gefallen sein.

Am Abend erfuhren wir, dass es ihrer Mutti gutgehe. Das war schön, wir freuten uns. Und eigentlich war das ja ein schöner Tag, wir hatten nämlich schulfrei. Seine wirkliche Bedeutung als Volksaufstand wurde mir, wie so vieles im Leben, erst sehr viel später klar.

Sehr schöne Erinnerungen habe ich an die Saline, das Gradierwerk. Dorthinauf durften wir natürlich nur in Begleitung Erwachsener. Auf dem Gradierwerk stehen und überall von der riesigen Wand glitzernde salzige Tropfen auffangen, einfach wunderbar!


Elke und ich auf dem Gradierwerkturm, Salzelmen, Anfang der 1950er Jahre

Wir fuhren mit dem Kinderheim auch ins Ferienlager. Das heißt, wir fuhren in ein anderes großes Kinderheim in der Nähe und dessen Kinder wohnten in der Zeit in unserem Heim. Ein toller Tausch. Das war herrlich, denn wir schliefen auf einem Heuboden – Abenteuer pur! Dieses Vergnügen genoss ich später noch einmal, von Schwerin aus zusammen mit Freunden aus dem Arbeitertheater.

1955 hatte meine Mutti ihr Studium beendet und eine Anstellung in Schwerin gefunden. Dort war alles fremd, sie musste sich ja erst noch eine neue Existenz aufbauen, eine Wohnung einrichten und dergleichen mehr. Deshalb sollte zuerst nur ich nach Hause kommen, während Elke noch ein Schuljahr länger im Heim blieb.

Das bedeutete für mich: tränenreicher Abschied von meiner Schwester und den Freundinnen im Kinderheim. Eine Erzieherin setzte mich mit Sack und Pack in Magdeburg in den Zug. In meinem Brustbeutel befanden sich meine Papiere und die Fahrkarte. Ich war jetzt elf Jahre alt und freute mich auf die Mutti, die mich in Schwerin am Zug erwartete. Ganz allein saß ich im Abteil, bis die Schaffnerin kam. Sie sah sich meine Fahrkarte an und fragte nach irgendwas, was ich nicht verstand.

»Ja, hast du das etwa nicht?«, hakte sie nach.

Ich konnte darauf nur mit den Schultern zucken und sagte ängstlich: »Das ist alles, was ich bekommen habe.«

Die Schaffnerin schüttelte den Kopf. »Also, so geht das nicht, da muss ich mich erst mal erkundigen gehen.«

Ab dem Moment saß ich, sicherlich fälschlicherweise in der 1. Klasse, völlig verängstigt in dem Abteil. Bei jedem Halt dachte ich: Gleich kommen sie und schmeißen mich aus dem Zug.

Die Schaffnerin sah ich nicht wieder, aber endlich die Mutti auf dem Bahnhof in Schwerin, der ich weinend von meiner Angst erzählte. Aber nun war ja alles gut …

Arbeitertheater und meine zweite Schwester

Unsere Schweriner Wohnung erstreckte sich wieder mal über zwei Stockwerke. Im ersten Stock befand sich das Wohnzimmer, im zweiten das Schlafzimmer von Elke und mir. In einem klitzekleinen Raum daneben schlief Mutti. Oben wohnte auf demselben Flur noch eine Familie, durch deren Küche wir gingen, um in unsere Küche zu gelangen. Zwischen beiden Küchen befand sich das Bad, das beide Familien nutzten.

Glasermeister Bolze und seiner Familie gehörte nicht nur die Glaserei im Haus, sondern auch die Wohnung, in der sie das Bad mit uns teilen mussten. Wir kamen uns nie in die Quere. Vielleicht verließen wir morgens früher das Haus und gingen am Abend eher schlafen? Es war ein gutes Nebeneinander. Bolzes hatten drei Kinder, mit ihrem Sohn Helmut freundeten wir uns an. Wunderbar war, dass diese Familie in späteren Jahren einen Fernseher besaß. Wir Kinder durften dann öfter mal in ihr Wohnzimmer zum Fernsehen.

Unsere Wohnung lag in der Salzstraße, die zum Theater führte. Wie oft hingen Elke und ich am Fenster und bewunderten die festlich gekleideten Theatergänger! Manchmal hatten wir das Fenster weit geöffnet, und wenn die eleganten Besucher die Straße entlangkamen, begannen wir laut im Kauderwelsch zu reden: »Etabachterumsdadrumsda …« Wir sprachen ausländisch. Die sollten gucken, wir waren etwas ganz Besonderes!

Unser Vormieter hatte ein Klavier in der Wohnung stehen lassen. Das gefiel mir: Mutti am Klavier, wenn wir feierlich zweistimmig Weihnachtslieder sangen. Das Klavier war nun mal da, also lag es auf der Hand, dass Elke und ich Klavierunterricht bekamen. Ich ging auf die Musikschule, da war der Unterricht kostenlos. Elke hatte eine Klavierlehrerin. Meine Schwester spielte längst bekannte Musikstücke, während ich monatelang endlos »Czerny-Fingerübungen« in die Tasten hämmerte. Das reichte mir irgendwann, ich weigerte mich, weiterzumachen. Leider gab die Mutti meinem Wunsch nach. Ich wollte eben richtig Musik machen – und kann genau das bis heute nicht.

In unserem Schlafzimmer hatte ich eine Wäscheleine gespannt, an die ich Fotos von Schlagersängern klammerte. Auch Fotos von Schauspielern hingen dort. Das alles ertrug Elke ja noch. Aber als ich auf unserer »Goebbels Schnauze«, dem einzigen Radio in unserer Wohnung, Sender suchte, die Schlager spielten, gab es mächtigen Krach.

Mutti schritt ein und jede von uns bekam bestimmte Zeiten, in denen sie ihre Musik hören durfte. Elke konnte ihre Opern und Operetten genießen und ich meine Cornelia Froboess und Peter Kraus: »Wenn Teenager träumen« und dergleichen mehr. Schlimm war nur, dass jede von uns beiden die Musik der anderen mithören musste.

Wie das Leben so spielt: Elke wurde Opernregisseurin, ich moderierte die Sendung »Musikalisches Intermezzo« (Operette/Musical) – und konnte dank Elke fast jeden Titel mitsingen. Fantastisch! Meine Liebe zu Schlagern teile ich heute mit meinem Publikum beim Seniorenprogramm.

Ich kam in die 5. Klasse und wurde sehr schnell in den Kreis meiner neuen Mitschüler aufgenommen. Mein großes Problem hieß Mathematik. Unser Mathelehrer Herr Hoffmann war ein Kriegsheimkehrer, der zwar von Hause aus kein Lehrer war, wohl aber ein kluger Mensch. Es mangelte an Lehrern. Mit Herrn Hoffmann machten wir uns gern den Spaß und stellten »Hoffmannstropfen« auf seinen Tisch. Diese kamen vornehmlich bei Übelkeit und Ohnmacht zum Einsatz, und wir waren stolz auf diesen grandiosen Einfall. Herr Hoffmann spielte mit.

Nie vergessen werde ich meine Mathematikprüfung in der 8. Klasse. Herr Hoffmann gab mir einen Zettel, auf dem die Aufgabe stand. An der Tafel sollte ich deren Lösung finden. Die war so leicht, dass ich zunächst dachte, es sei eine Falle. So begann ich, mit Hilfe irgendeiner Formel auf dem umständlichsten Weg mit den Zahlen zu jonglieren. Zum Glück stimmte letzten Endes meine Lösung. Warum einfach, wenn’s auch umständlich geht?

Heute weiß ich, dass mir dieser liebe, kluge Mensch ganz bewusst die leichteste aller möglichen Aufgaben zugedacht hatte. Ich denke, er wird während meiner Rechnerei noch mehr geschwitzt haben als ich. Übrigens stehe ich mit Mathe immer noch auf totalem Kriegsfuß. Ich bin nicht fähig, Mathematik logisch zu erfassen. Inzwischen hat das Ganze sogar einen Namen: Dyskalkulie, zu Deutsch: Rechenschwäche. Offenbar haben sich zwei Synapsen nicht getroffen in meinem Hirn. Und ich bin sicher, das ist erblich. Tut mir leid, meine Lieben.

Ganz anders erging es mir in Religion, was damals noch ein normales Schulfach war. Ich liebte dieses Fach, der schönen Märchen wegen. Ziel jenes Unterrichts war die Konfirmation. Diese zu erreichen, hatten wir im Dom von Schwerin nachmittags zusätzlich Christenlehre. Es gab bunte Bilderchen und einen Stempel, wenn wir erschienen. Wer am Ende zu wenig Stempel vorwies, wurde nicht konfirmiert. Die Sammelbilder waren schön, bei den Stempeln schummelten wir oft. Wir stempelten einfach die Karte einer Freundin mit ab, die nicht anwesend war.

Schließlich kam der große Tag der Konfirmation: Ich in einem schwarzen Taftkleid, meine Locken gebändigt im Pferdeschwanz, im Dom von Schwerin. Alle Familienangehörigen waren da, die Orgel spielte, es war sehr feierlich.


Meine Konfirmation, in schwarzem Taft und mit Pferdeschwanz

Religionsunterricht und Christenlehre gehörten damit der Vergangenheit an. Deutsch, Geschichte, und Staatsbürgerkunde waren Fächer, in denen ich meiner Phantasie freien Lauf lassen konnte. Unser Klassenlehrer Herr Klosa, genau wie Herr Hoffmann ein älterer Herr, unterrichtete uns darin. Er forderte und förderte mich. Meine Aufsätze musste ich immer vor versammelter Mannschaft vorlesen, besonders in Staatsbürgerkunde erfand ich die tollsten Geschichten.

Diese erfundenen Storys habe ich leider allesamt vergessen. Ich weiß aber noch, dass ich zu aller Erheiterung Berichte vom letzten Ernteeinsatz schrieb, vom Kartoffelkäfersammeln oder vom Rübenverziehen. Darin vermeldete ich, dass Rosi sich vor den Käfern ekelte und wir das nutzten, um sie in die Flucht zu schlagen. Wer am meisten Kartoffelkäfer gesammelt hatte, war der Käferkönig und wurde gekrönt und überraschend getauft, indem er einen Topf Wasser über den Kopf gegossen bekam.

Wer beim Kartoffeleinsatz die meisten Körbe am Lkw ablieferte, durfte auf dem Lkw mitfahren. Letztlich fuhren fast alle mit. Unvergessen die Fahrten auf dem Pferdewagen, einer von uns durfte die Zügel halten. Der größte Anreiz war aber, dass wir am Abend auf dem Ackergaul reiten durften.

Ich malte alle Pannen, aber auch die erstaunlichen Begebenheiten in den buntesten Farben, und unter Lachen erkannten sich die jeweiligen Akteure wieder. Wenn ich die Figuren beschrieb, die wir, mich inbegriffen, auf dem dicken Gaul abgaben, erklang beim Vorlesen jeweils großes Gelächter.

Wunderschön waren die Abschlussabende am Lagerfeuer, mit Kartoffeln am Stock und Würstchen. Erzähle ich heute, dass wir im Ernteeinsatz waren, sagen die Leute oft entrüstet: »Ihr musstet bei der Ernte helfen? Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Aber wir Zeitzeugen sind ja noch da, um kundzutun, wie viel Spaß wir bei dieser »Arbeit« hatten.

Mit der Unterstützung von Herrn Klosa schrieb ich auch Sketche, die dann unter meiner Regie einstudiert und von Mitschülern aufgeführt wurden. Darin ging es um den Schulalltag, um Freundschaften, ums Verliebtsein …

Meine Mutti setzte sich jedes Mal an die Schreibmaschine und tippte etliche Durchschläge für die Darsteller. Ich fand neulich einige dieser Manuskripte … o nein, wie grausig!

Letztes Jahr allerdings, beim Klassentreffen in Schwerin, erzählten Mitschüler von genau diesen Aufführungen und wie viel Spaß es ihnen gemacht hatte, meine Sketche zu spielen. Eine Klassenkameradin sagte sogar, dass sie sich damals von mir ein Autogramm geben ließ. Für den Fall, dass ich mal berühmt werde.

Anfang der achtziger Jahre war ich mit meinem Kinderprogramm in Schwerin. Wir traten im Alten Garten auf den Museumstreppen auf. Die halbe Klasse – alle, die noch in Schwerin lebten, saßen im Publikum. Eine mir unbekannte Frau ließ mich wissen: »Robert kommt auch gleich.«

Ich lächelte, ohne die geringste Ahnung, wer sie oder Robert waren. Dann stand er vor mir, ihr Mann Robert. Herr Klosa war es, der mich an jenem Tag mit großer Freude agieren sah. Ich umarmte ihn anschließend und bestätigte ihm, dass er einen großen Anteil an meinem Tun hat. Spielte ich in Schwerin, veranstaltete er fortan ein kleines Klassentreffen in seiner Wohnung.

Wenn Mutti nicht gerade einen meiner Sketche abtippte, arbeitete sie als Tbc- und Krebs-Fürsorgerin. Sie fuhr auf die Dörfer, setzte Spritzen und kümmerte sich um die Angelegenheiten der Kranken. Manchmal erzählte sie, dass es in einigen Haushalten so viele Kinder gibt. Da war zum Beispiel eine Familie mit sage und schreibe acht Kindern! Auf meine Frage hin, warum das gerade in den Dörfern so sei, meinte sie nur: »Da ist ja sonst nichts, kein Kino, kein Theater, manche haben nicht mal ein Radio – was sollen sie denn anderes machen?«

Mutti erlebte noch während ihrer Tätigkeit, dass in der DDR der Kampf gegen die Tuberkulose siegreich endete. Es blieben ihr die Krebspatienten.

Ich hatte nie auch nur im Geringsten das Gefühl, dass wir arm sind. Wenn die Klasse am Wandertag eine Radtour unternahm, war ich nicht die Einzige, die zu Hause blieb. Die Hälfte der Klasse besaß kein Fahrrad. Ich und einige andere konnten ja nicht mal fahren! Wir trafen uns zum Spielen oder gingen baden. Auf jeden Fall unternahmen wir gemeinsam etwas.

Mir fehlte es an nichts. Gut, ich fand es ja auch völlig normal, dass beim Essen, wenn es zum Beispiel Königsberger Klopse gab, die Mutti einen Klops nahm und Elke und ich je zwei bekamen. Was ich wirklich schätzte: dass wir zu Hause sehr wenig helfen mussten. In meiner Klasse gab es ein Mädchen, das musste daheim den ganzen Haushalt schmeißen. Wir halfen ihr manchmal dabei. Einmal fiel mir beim Abwaschen ein Teller runter. Sie bekam dafür von ihrer Mutter eine Ohrfeige. In diesem Moment begann ich Muttis Handlungen, die ich bis dahin immer als selbstverständlich angesehen hatte, zu schätzen.


Mutti in jenen Tagen

Wie unbeschwert ich alles mitnahm! Wir spielten sehr viel auf der Straße, eigentlich ständig. Besonders beliebt war Völkerball. Das funktionierte, weil so gut wie nie ein Auto vorbeifuhr. Auch Gummihopse spielten wir und Kreiseln. Letzteres mit einem kleinen Kreisel aus Holz, den wir mit einer Peitsche antrieben. Wir rollten den Kreisel in das Peitschenband ein, entrollten dieses mit Schwung und peitschten, dass er lustig tanzte. Das waren Freuden! Auch das Murmeln war beliebt, besonders bei demjenigen, der am Ende die meisten Glasbugger sein Eigen nannte. Das waren echte Besitztümer! Unser Springseil war ständig dabei, und wir hatten alle diese kunstvollen Figuren drauf.

Da wir um die Ecke vom Schweriner Schloss wohnten, ging es mit Puppenwagen, Kind und Kegel unter das Schloss, in die Katakomben. Dort hatten wir unsere vielen »Zimmer« und konnten herrlich Vater, Mutter, Kind spielen.

Um das Fahrradfahren zu üben, fuhr ich einmal zusammen mit einer Freundin nach Zippendorf. Auf dem Weg dorthin hielt meine Freundin im Wald ihr Rad fest. Ich stieg auf, die Pedale bewegten sich – ich fuhr, allerdings nur mit Festhalten. Da riefen ein paar Jungens durch den Wald: »Guckt mal, die lernt fahren!«, und alle lachten mich aus. Das war es dann für lange Zeit mit dem Radfahrenlernen …

Aber schwimmen konnte ich, dazu brauchte man schließlich nur sich selbst. In Zippendorf befand sich das Schweriner Strandbad. Auch die Seen um Schwerin und, wenngleich es verboten war, selbst der Schlossteich waren unser! Für Wasserratten wie mich war Schwerin ideal.

Unsere Nachbarin Frau Geik hatte ein Radio, das Westsender empfangen konnte. Wir Kinder durften manchmal bei ihr Kalle Blomquist – Meisterdetektiv hören. Die Erkennungsmelodie habe ich noch heute im Ohr. Das war wirklich nett, obwohl die Nachbarin ansonsten nicht nett war. Sie mochte keine Katzen! Wir hatten eine …