Kitabı oku: «Elfenzeit 4: Eislava», sayfa 9

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Das erklärte, warum die Anderswelt ihre Tore hier offener halten konnte, ohne große Gefahren einzugehen – wenn in den meisten Gegenden auf einem Quadratkilometer im Schnitt nicht mal zwanzig Menschen lebten, war die Wahrscheinlichkeit recht gering, zufällig einem Elf zu begegnen. Die Jungtrolle waren nur in ihre Misere geraten, weil sie die Nähe der Menschen absichtlich gesucht hatten.

David und Rian nahmen sich zunächst ein Zimmer in einem Hotel, da die Kneipen erst am Abend wieder öffnen würden. Kaum waren sie eingezogen, ließ Rian warmes Wasser in die Badewanne und glitt mit einem Liebesroman, den sie am Bahnhof gekauft hatte, und den neu erstandenen Pralinen in Griffweite ins Wasser, um es für die nächsten zwei Stunden nicht mehr zu verlassen. David duschte, sah fern und leerte die Minibar von Chips und Erdnüssen.

Am Spätnachmittag machten sie sich auf, um die Stadt zu erkunden. Sie besorgten sich an der Rezeption einen Stadtplan und erkundigten sich nach Kinos, Spielhallen und Musikkneipen. Das Angebot war begrenzt, und das Gebiet, in dem sie sich würden umschauen müssen, war nicht besonders groß. Das meiste lag auf Höhe des Hauptbahnhofs in dem weniger als einen halben Kilometer breiten Streifen zwischen Bahnlinie und Fluss.

Sie folgten einer breiten Allee, an der nicht nur an den Seiten, sondern auch in der Mitte zwischen den Fahrbahnen lange Baumreihen standen. Birken, die aufgrund der Kälte auch im April noch immer kahl waren. Auch in der Innenstadt war nahezu jede Straße oder Gasse mindestens an einer Seite mit Birken gesäumt. Das helle Leuchten ihrer Rinde im Licht der Frühlingssonne prägte das Bild der Stadt ebenso wie die niedrigen, meist karmesinroten oder weißen historischen Häuser, zwischen die modernere Gebäude eingefügt worden waren. In den Parks lag teilweise noch Schnee, wie auch an der Uferpromenade, und das Weiß hielt sich auf dem Dach der gotischen Kathedrale.

Rian genoss den Spaziergang im Sonnenlicht. Die klirrende Kälte machte die Luft klar, und überall roch es wegen der vielen Bäume nach Frische und Natur. Die Häuser waren für ihren Geschmack allerdings zu schlicht, mit nordischem Pragmatismus und einer Neigung zu klaren Linien erbaut, die ihrer Vorliebe für Schnörkel und Verzierungen widersprach. Dennoch ergab sich aus allem ein Gefühl des Friedens und freundlicher Gelassenheit, das die Elfe fast vergessen ließ, warum sie hier waren.

Unterwegs dachte sie endlich daran, ein Prepaid-Handy zu kaufen, und ließ sich die Aktivierung und Funktionsweise erklären. David meinte, ein Handy würde ja wohl genügen, und interessierte sich nicht weiter dafür.

Schließlich kamen sie an dem Kino vorbei, das Mik gemeint haben musste. Es war ein typisches Multiplex, das jedoch von einem historischen Gebäude umrahmt war. Eine rote Neonreklame prangte auf dem Vordach über dem Eingang, und große Plakate bewarben die Filme im laufenden Programm oder Ankündigungen. Rian studierte sie.

»Keine Nachtvorstellungen«, stellte sie fest. »Hierher zurückgekommen sind unsere Vermissten nicht.«

»Obwohl ein Kino vermutlich ein guter Schlafplatz für sie wäre«, meinte David. »Aber die letzte Vorstellung endet vor Mitternacht, und da sind sie in der Spielhalle gewesen. Ich glaube nicht, dass wir hier etwas erfahren können.«

Rian nickte und deutete die Straße hinunter. »Die Spielhalle da unten könnte passen. Fragen wir da nach, ob jemand sie gesehen hat. Um diese Zeit sind vielleicht schon die Leute von der Spätschicht da.«

Sie schlenderten die Straße hinunter, bis sie einen Eingang erreichten, über dem in kräftigen Lettern Megazone geschrieben stand. Mit zweifelndem Blick sah Rian durch das Fenster in der Tür.

»Billard-Tische und Spielautomaten. Sagte Mik nicht etwas von Laserschießen oder so?«

David zeigte auf einen Schriftzug. »Laserdome. Klingt das nicht passend?«

»Doch. Gehen wir rein.«

Sie traten ein und wurden von der verwirrenden Klangfülle unzähliger Spielautomaten empfangen. Überall blinkte und blitzte es, kleine Melodiefetzen wurden gespielt, oder Geräusche untermalten das Geschehen an den Automaten. Es wurde geschossen und gefahren, Bälle sausten durch komplizierte Aufbauten, und ein Metalltisch mit unzähligen kleinen Löchern lud dazu ein, Puks reibungsfrei über das aufgebaute Luftkissen in das Tor eines Gegners zu treiben.

Weiter hinten im Raum standen durch eine niedrige Mauer abgetrennt mehrere Billardtische. Zwischen den beiden Bereichen gab es Tische und Stühle und einen Tresen, an dem man Essen kaufen konnte. Außerdem konnte man dort auch für die Nutzung der Billardtische oder das Mitspielen im Laserdome bezahlen. Hinter dem Tresen stand ein junger Mann. Als Rian ihm die Bilder zeigte, erkannte er sie sofort.

»Klar waren die hier. Da war noch so einer in Militärkluft dabei, mit orangen Haaren, die nach allen Seiten abstanden«, erinnerte er sich. »Der hat da drin einen nach dem anderen abgeschossen. Wahnsinnige Punktzahl! Die anderen Spieler haben teilweise nen ziemlichen Hass geschoben, weil sie meinten, das wären Profispieler, die ihnen den Spaß verderben. Aber ich meine, man kann nicht immer gewinnen, oder?« Der junge Mann lächelte und hob die Schultern. »Soweit ich weiß, sind die alle zusammen gegangen, als wir Schluss gemacht haben. Vor der Tür haben sie dann rumdiskutiert …«

»Sie wollten noch zu einer Kneipe mit Musik«, warf David ein. »Fällt dir da eine ein?«

»Hm, um die Uhrzeit gibt es hier in der Gegend nicht mehr viele Möglichkeiten, abgesehen von den Discos. Da wäre das Invito, aber das passt nicht recht zu denen. Dann das Rex im Rathaus, oder das X3M, wenn man es richtig voll und laut mag. Die haben alle bis zur Sperrstunde offen.«

»Wann ist die?«, fragte der Prinz.

»Um zwei Uhr wird alles dicht gemacht, danach laufen höchstens noch private Sachen, Studentenparties und so.«

Rian gab ihm ihre Handynummer. »Falls dir noch was einfällt, schreib eine Nachricht an Rian Bonet. Nur SMS, bitte.«

»Mach ich«, versprach er. »Mein Name ist Peter Lindell – damit du weißt, von wem die Nachricht ist.« Dazu zwinkerte er verschwörerisch und David verdrehte die Augen.

Weil das Rex praktisch gegenüber der Spielhalle war, versuchten sie hier zuerst ihr Glück. Dumpf hörte man Bässe aus dem Obergeschoss, während vom Keller gelegentlich Schlagermusik hochschwappte, wenn jemand die Tür öffnete. Es dauerte eine Weile, bis sie herumgefragt hatten, und am Ende verlief die Suche ergebnislos. Im Invito hatten sie nicht mehr Glück.

Sie ließen sich den Weg zum X3M Club erklären, der auf der anderen Seite der Innenstadt lag. Es war längst dunkel, die Luft hatte trotz des bewölkten Himmels merklich weiter abgekühlt. Rian reckte die Nase und atmete tief ein. Es roch nach Schnee.

Eine Weile gingen die Zwillinge schweigend nebeneinander her. Rian warf immer wieder Blicke in die Schaufenster, an denen sie vorbeikamen – Kleidung, Schmuck, Bücher, DVDs und großflächige Fernseher luden dazu ein, Geld auszugeben. Nicht zum ersten Mal stellte die Elfe fest, dass sie mit den Trollen mitfühlen konnte. Das schnelle Leben der Menschenwelt faszinierte sie, der Glanz und Glitter, auch wenn er oft falsch war. Aber das war sie als Elfe gewohnt – kaum etwas, das sie umgab, war jemals echt gewesen. Und warum nicht? Warum sollte man sich seine Welt nicht so formen, wie sie einem gefiel, wenn man es konnte?

Trotzdem blieb das Verschwinden ein Rätsel. Wären die Trolle bei ihrem dritten oder vierten Besuch in der Stadt geblieben, hätte Rian vermutet, dass sie des Unterlandes überdrüssig geworden waren und Möglichkeiten gefunden hatten, auch im Sonnenland zu leben. Aber nicht beim ersten Mal.

»Was machen wir, wenn im letzten Club auch niemand etwas weiß?«, fragte sie.

David stopfte die Hände in die Taschen seiner hellen, wollgefütterten Lederjacke. »Dann fragen wir, ob sie noch andere Clubs wissen, wo die Jungtrolle hingegangen sein könnten. Und wenn die uns auch nicht weiter bringen, klappern wir morgen den Bahnhof und die Hotels ab.«

Rian nickte. Es klang nach einem Plan.

»Wir sollten allerdings auch überlegen, was wir tun, falls wir die Trolle nicht finden«, fuhr er fort. »Wir müssen dann auf jeden Fall Nadja anrufen, und wir müssen dafür sorgen, dass Fanmór Nachricht erhält.«

Rian musterte David von der Seite. Er hatte die Schultern etwas hochgezogen und den Kopf gesenkt, als wolle er sich gegen eine Kälte schützen, die in Wirklichkeit in seinem Inneren herrschte.

»Mach dir nicht so viele Sorgen, David«, sagte sie. »Wir schaffen das schon. Wir haben bisher noch immer alles hinbekommen, was wir uns vorgenommen haben – wer weiß, vielleicht auch deshalb, weil wir nie Zweifel daran hatten, dass wir Erfolg haben. Also, wirf die Zweifel über Bord. Sie können nicht helfen, aber behindern.«

David presste kurz die Lippen zusammen, dann hob er den Kopf und straffte die Schultern. »Du hast Recht. Machen wir uns Gedanken über die weiteren Schritte, wenn es soweit ist.«

Der Club war zum Bersten voll. Gleich an der Garderobe hatten sie Erfolg, die junge Frau erkannte sofort einen der Trolle.

»Er hat ungeschickt geflirtet und wollte mich sogar kneifen«, erinnerte sie sich. »Er war in Begleitung … die da könnten dabei gewesen sein. Sie haben mit ein paar Studenten Komasaufen gemacht und alles bezahlt. Eine Menge Geld, und sie sind als Letzte gegangen. Sie waren schwer entschlossen, noch weiter zu feiern, weil ja noch keiner unter den Tisch getrunken war. Die wollten mich sogar noch einladen …«

»Hast du eine Ahnung, wo sie hin wollten?«

Die Frau rieb sich mit einem Finger über die Wange. »Irgendwo in einer der Studentengegenden sollte noch eine Feier sein. Mal überlegen … Marienhem, glaube ich. Aber da werdet ihr heute kein Glück mehr haben.«

»Vielen Dank! Du hast uns sehr geholfen.«

Peter Lindell meldete sich am nächsten Morgen per SMS: Muss dich sofort sprechen. Wo bist du? Verwundert gab Rian die Hoteladresse durch und bat um eine halbe Stunde, damit sie vorher noch frühstücken konnten.

Als sie in die Lobby kamen, sahen sie Peter sofort. Mit ernstem Gesicht saß er in einem Sessel und hielt eine Zeitung in der Hand, die er ständig auseinander- und wieder zusammenrollte. Als er sie sah, sprang er auf, als habe er auf einer Spiralfeder gesessen.

Rian ging mit strahlendem Lächeln auf ihn zu. »Peter, guten Morgen! Hast du Neuigkeiten für uns?«

Der junge Mann nickte langsam. »Ja. Aber … schaut am besten selbst.« Er deutete auf einen Artikel.

»Rätselhafter Leichenfund am Nyalasee«, las Rian vor. »Gestern fanden Angler auf dem Weg zum Nyalasee in einem Gebüsch am Wegrand die Leiche eines jungen Mannes. Sie alarmierten sofort die Polizei … blablabla … konnte den Todeszeitpunkt nicht feststellen, da die Leiche eine seltsame … oh, Verhärtung der Haut zeigte. Die Ursache dafür ist unbekannt. Der Tote konnte bislang nicht identifiziert werden … vermutlich Student … die Polizei bittet um die Mithilfe der Bevölkerung …« Sie runzelte die Stirn, drehte die Zeitung herum und starrte auf die Skizze, die dort abgebildet war. Sie spürte die Kälte sich in ihrem Magen ausbreiten und sah zu David auf.

»Es ist Murtik«, stellte sie fest.

10.
Geflügelte Worte

Es gab nicht mehr viele Dinge, die vor Ainfar verborgen blieben, und so konnte er bald selbst erleben, dass die Gerüchte stimmten, von denen die Schwanenfrau Branid ihm erzählt hatte. Die Leichtigkeit, mit welcher Bandorchu die Energien des Landes an diesem Tag aufsog, bewies, wie sehr es bereits ihre Heimat war. Augenblicke später griff sie hinaus, um mit nicht mehr als einer Handbewegung die Realität aufzureißen. Wabernd hing eine bläulich schimmernde Wunde im Gewebe des Schattenlands vor der Königin in der Luft, deren Mitte sich erst mit sternglitzernder Schwärze füllte, während der Spalt sich weitete, und dann zu einem grauen, gestaltlosen Nichts verblasste.

Ein Portal in eine andere Welt.

Wie oft musste sie das schon getan haben, dass sie inzwischen nicht mehr Konzentration dafür benötigte als für das Formen eines neuen Kerzenleuchters? Woher kam diese Kraft? Allein aus den Seelen? Oder hatte sie noch andere Quellen?

Das ungeformte Grau geriet in Bewegung, und für Augenblicke glaubte Ainfar, Umrisse erkennen zu können. Ein breiter Fluss, eine Brücke, getragen von dünnen Seilen an schlanken Pfeilern, eine gepflasterte Promenade. Dann trat eine kleine Gestalt hindurch, die Ainfar als den Kau erkannte – dünne Spinnenglieder, spitz aufragende Ohren und glitzernde dunkle Augenschlitze. Er schleifte einen Sack hinter sich her, von dem der Tiermann gehofft hatte, ihn nicht so bald wiedersehen zu müssen. Wie beim ersten Mal zuckte der Stoff unter den Versuchen der gefangenen Seelen, ihrem Schicksal zu entkommen.

Bandorchu trat vor und streckte ihre Hand aus, ein gieriges Glitzern in den Augen. Der Kau duckte sich ein wenig, als könne die Bewegung ihn aus dem Einfluss ihrer Machtaura bringen, und hielt ihr bereitwillig den Sack entgegen. Sie nahm ihn mit einem grazilen Neigen des Kopfes und entspannte sich. Ihre Beute war sicher.

Das schemenhafte Bild wurde erneut verdeckt, und reine Dunkelheit schien durch das Tor in den Raum zu dringen, die sich im nächsten Moment zur schwarz verhüllten Gestalt des Getreuen materialisierte. Er trat auf die Königin zu und verbeugte sich tief.

»Unser Einsatz hier war erfolgreich«, berichtete er mit der gewohnten heiseren Stimme, die er in Gegenwart anderer stets benutzte. »Der vierte Knotenpunkt steht unter unserer Kontrolle. Es wird nicht mehr lange dauern, und es wird Euch frei stehen, in der Welt der Sterblichen zu wandeln, meine Königin.«

Bandorchu trat einen Schritt vor und ihre aufgerichtete Gestalt reckte sich noch ein wenig mehr. Sanft umschmeichelte ihr hüftlanges goldblondes Haar ihre schlanke, in ein blütenweißes Gewand gehüllte Gestalt, und die Aura der Macht umflorte sie wie ein sichtbares Glühen.

»Ich werde dort nicht nur wandeln, ich werde herrschen«, sagte sie mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die keine Zweifel zuließ. »Es gibt nichts, was diese Sterblichen mir entgegensetzen können, wenn ich in der Fülle meiner Macht in ihre Welt komme. Sie werden mir dienen dürfen, um meine Kräfte zu mehren für mein eigentliches Ziel …« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber zu mehr, vielleicht noch als interessante Spielzeuge, taugen sie nicht.«

»Wir sollten den Löwen nicht häuten, ehe er erlegt ist, wie man hier gelegentlich sagt«, antwortete der Getreue. »Auch wenn ich keine Zweifel habe, dass die Jagd erfolgreich sein wird. Ich werde Cor und den Kau nach Süden zum fünften Knotenpunkt schicken, um den genauen Ort zu finden, an dem die beiden nördlichen Linien sich treffen. Sie werden dafür sorgen, dass alles für uns vorbereitet wird, während unsere Verbündeten sich auf der Insel in einem Dorf nahe des Vulkans sammeln. Ich selbst werde abwarten, bis die Wellen der Übernahme abgeklungen sind und sie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann – auch um zu verhindern, dass Fanmór davon erfährt und er sich weiter in Sicherheit wähnt, bis wir den fünften Knoten besetzt und das Tor stabil halten.«

»Vergiss nicht das Mischblut«, warf Bandorchu scharf ein. »Sie ist ebenso wichtig wie die Knotenpunkte. Sie wird mir den Übergang erleichtern. Bring sie endlich her, wie du es versprochen hast!«

Der Getreue neigte den Kopf. »Das war meine Absicht. Ihre Heimat liegt auf dem Weg. Alebin hat mir bestätigt, dass Fanmór nicht geneigt ist, die Zwillinge wieder gehen zu lassen, nachdem Dafydd in solche Gefahr geraten ist. Sie werden mir also nicht mehr in die Quere kommen.«

»Gut. Bring mir die Frau, und dann können wir den Anbeginn des neuen Zeitalters feiern, bevor du dich zum letzten Knotenpunkt aufmachst.« Ein leises Schnurren schwang in ihrer Stimme mit. Der Getreue atmete hörbar ein. Das Versprechen, das in ihren Worten lag, ließ ihn offensichtlich nicht unberührt.

»Ich lebe darauf hin.« Er hob eine Hand an die Brust und verneigte sich erneut, ehe er sich zum Kau umwandte und diesen mit einer herrischen Geste zurück durch das Tor scheuchte. Kaum war die Gestalt des Kobolds verschwunden, folgte auch er. Die Ränder des Tors waberten und stürzten schließlich mit dem Geräusch einer vom Sturm zugeschlagenen Tür zusammen. Einen Moment starrte Bandorchu reglos auf die Stelle, an der sich das Portal geschlossen hatte. Dann drehte sie den Kopf, bis ihr Smaragdblick auf Ainfar fiel. Sie lächelte, hob ihn vorsichtig von der Ablage, auf der sie ihn abgesetzt hatte, und hielt ihn auf Augenhöhe.

»Bald werden wir aus dieser Welt der Schatten entkommen, mein kleiner Silberschatz«, murmelte sie. »Und dort werde ich endlich meine Kräfte auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren. Die Menschenwelt wird mir gehören, und dann …« Sie hob die andere Hand und schloss sie, als wolle sie darin etwas zerdrücken. »Dann wird Fanmór bereuen, was er mir, was er uns allen angetan hat. Und ich werde dafür sorgen, dass sich seine Reue und die seiner treuen Gefolgsleute sehr, sehr lange hinzieht.« Kalte Grausamkeit lag in diesem Versprechen, obwohl sie unverändert weiter lächelte. Ainfar fühlte sich, als würde sie mit einem ihrer langen Fingernägel sein Rückgrat entlang fahren, anstatt ihn zärtlich zu kraulen. Er schloss die Augen und rollte sich auf der Hand der Königin zusammen.

Regiatus muss davon erfahren! Es muss gelingen, oder alles ist verloren! Sie darf nicht aus dem Schattenland entkommen … nicht, solange sie Bandorchu ist!

Es war ein Wagnis, gerade hier in seine eigene Gestalt zurückzukehren, doch es war eines, das er eingehen musste.

Ainfar saß auf dem Dach der Zitadelle, unter den jagenden Schatten und dem grellen Licht, und spürte, wie die Angst an ihm zerrte. Doch das, wofür er hier heraufgekommen war, während die Königin schlief, konnte er nicht als Ariàn tun. Und welche Bedeutung hatten schon seine Furcht und sein Leiden im Verhältnis zu dem, was die Königin für zwei Welten plante, und vielleicht sogar darüber hinaus?

Regiatus! Ich wünschte, du wärst hier, um mir zu helfen …

Er hielt das Bild seines Halbbruders in seinem Geist fest, um Mut und Stärke daraus zu beziehen. Der Cervide hatte stets Notwendigkeit vor seine eigenen Bedürfnisse gesetzt, und jetzt wurde es Zeit, dass Ainfar das auch tat. Er hatte lange genug die Bequemlichkeiten des Lebens als Schoßtier genossen. Es wurde Zeit, seinem Dasein wieder einen Sinn zu verleihen.

Ainfar schloss die Augen, ließ das Bild des Silberhörnchens aus seinem Bewusstsein gleiten und wollte es durch seine eigene Gestalt ersetzen. Er griff nach der Erinnerung, doch sie zerfloss unter seinen Händen, zerbröckelte wie ein altes Stück Papier.

Zu lang! Der Schreck fuhr ihm bis in die Knochen. Ich bin zu lange in dieser Gestalt gewesen … ich habe die Erinnerung verloren!

Für Momente blendete Panik alle anderen Empfindungen aus. Es war erneut das aufblitzende Bild von Regiatus, das ihn zurück zu klarem Denken brachte.

»Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, nutzt es dir nichts, in Angst zu versinken«, hörte er in seinem Geist die Stimme des Älteren. »Du brauchst in diesen Momenten deinen klaren Verstand mehr als sonst. Leere ihn von aller Furcht, von allem Gefühl, und fokussiere ihn darauf, das Problem zu untersuchen, um Lösungen zu finden.«

Ainfar atmete tief ein und wieder aus und zwang seinen Körper, sich zu entkrampfen. Einige Atemzüge später kehrte er zu dem Problem zurück, das vor ihm lag. Die Rückverwandlung …

Rückverwandlung! Ich brauche keine Gestalt! Ich kehre zurück!

Ainfar wollte erleichtert auflachen, doch Silberhörnchen waren nicht dafür ausgelegt. Wie hatte er das nur vergessen können? Wie hatte ein so grundlegender Teil seines Lebens seinem Bewusstsein entgleiten können, wenn auch nur für Augenblicke?

Vielleicht, weil etwas in mir sich gegen die Rückverwandlung sträubt?

Mit einem inneren Seufzen rollte Ainfar sich zusammen, schloss erneut die Augen und verbannte alle Bilder aus seinem Geist, ehe er die Energien freiließ, die seinen Körper formten.

Das Ziehen und Zerren an allen Teilen seines Leibs war schlimmer als bei den üblichen Verwandlungen der letzten Zeit. Sein Aufschrei aus einem noch ungeformten Mund ließ hunderte kleine Schillerflügler aufsteigen, die sich an den Wänden und dem Dach der Zitadelle angesiedelt hatten, um sich an den Restschwingungen der Energien und Erinnerungen zu laben, mit welchen die Königin den Kristall geformt und geschwärzt hatte. Eine Ewigkeit lang war es, als hätten wilde Tiere ihre Zähne in Ainfars Glieder geschlagen und zerrten daran, um ein Stück aus der Beute zu reißen, während ihm zugleich jemand bei lebendigem Leibe die Haut vom Fleisch riss. Neu geformte Stimmbänder vibrierten unter einem Heulen, das sie nicht lange würden ertragen können, und das in den neu geformten Ohren schmerzte. Endlich endete das Ziehen, und seine gequälten Nerven kamen zur Ruhe. Er öffnete die Augen, starrte auf die dunklen Muster, von denen die grüne Haut seiner Hand durchzogen wurde, und die wilden braunen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht hingen.

Ich, dachte er.

Er drehte sich auf den Rücken, ohne die Wolken über sich wahrzunehmen, strich mit seinen Händen über den nackten Körper, als wolle er jeden Fleck davon neu kennenlernen. Ichichichichich … Ein erleichtertes Lachen drang aus seinem Mund.

»Ich!«

Seine Stimme war rau von der langen Zeit, in der sie nicht benutzt worden war. Einen Moment lang fühlte er sich versucht, zu singen, doch der Anblick der über ihm schwebenden Schillerflügler ernüchterte ihn. Er hob eine Hand, sah zu ihnen hinauf und wartete geduldig, bis eines der kaum daumengroßen Wesen sich aus dem Schwarm löste und auf seiner Handfläche niederließ. Es faltete die Flügel wie einen Kokon um den Körper und betrachtete den Tiermann aufmerksam.

Auf den ersten Blick hätte man den Schillerflügler mit einem Blumen- oder Seidenelfchen verwechseln können. Die sechs schillernden Flügel, welche das Licht in allen Farben brachen, setzten an einem schlanken hellen Körper mit zwei dünnen Beinen und einem beweglichen Kopf an, aus dem zwei blaue Augen Ainfar anleuchteten. Damit endete die Ähnlichkeit, denn Mund, Nase und Ohren fehlten, und im Gegensatz zu den Seidenelfchen hatte dieses Wesen auch keine Arme. Die Füße hatten drei Krallen statt Zehen, mit denen sie kopfunter hängen konnten.

Schillerflügler nährten sich ausschließlich von magischen Energien, und das war es, was Ainfar ausnutzen wollte. In der Welt der Sterblichen würden sie sich instinktiv zu den Kraftfeldlinien hingezogen fühlen, und wo Ley-Linien waren, würden sie früher oder später auch auf Tore treffen. Sie würden die Energien spüren, die auf der anderen Seite warteten, und hindurchstoßen.

Das hoffte er zumindest. Und da es die einzige Hoffnung war, die er im Moment sah, klammerte er sich daran fest.

»Hallo, mein Kleiner«, sagte er sanft und streckte seinen Geist nach dem des Schillerflüglers aus. Eine milde Form von Intelligenz antwortete ihm.

Was bist du?

»Ich bin ein Freund«, antwortete er und sandte das Bild eines anderen Schillerflüglers in den Geist des Wesens. »Wer bist du?«

Das Bild, das er empfing, zeigte einen schwachen gelben Fleck auf einem der Flügel des Wesens. Er hob es gegenüber den anderen aus dem Schwarm hervor.

»Gelbfleck also. Ich bin Blaufell.« Er stattete sein eigenes Bild eines Schillerflüglers mit einem bläulichen Flaum aus anstatt des üblichen hellen, der sich kaum von der Haut abhob. »Ich brauche Hilfe, um einen anderen Schwarm zu warnen, vor Gefahr.« Er visualisierte ein großes, lederflügliges Tier, das sich auf einen Schillerflügler stürzte und ihn auffraß, dann sich selbst, wie er den anderen warnte und der Raubvogel daher ins Leere flog. »Willst du mir helfen?«

Gelbfleck betrachtete ihn aus großen Augen. Dann nickte er langsam.

Anspannung ließ Ainfars Muskeln sich verkrampfen, während er auf das sich öffnende Portal starrte. Bandorchus Hunger schien immer mehr zu steigen, und sie beschränkte sich nicht mehr nur auf das, was der Getreue ihr brachte. Schon zuvor hatte sie direkt Agenten ausgeschickt, um für sie auf Seelenfang zu gehen. Ainfar hatte auf solch eine Gelegenheit gehofft, denn wenn sich das Portal erst wieder geöffnet hätte, wenn der Getreue das Halbblut brachte, das Bandorchu von ihm gefordert hatte, wäre es womöglich zu spät gewesen.

Folge den Linien, schickte Ainfar in Gelbflecks Gedanken. Suche das Tor zur Welt der frei fließenden Kräfte. Der Mann mit dem Geweih wird dich dort finden. Ich habe dir mein Muster aufgeprägt, das er schon von Ferne spürt, sobald du in unserer Welt bist …

Das Bild, das von dem Schillerflügler zu Ainfar zurückkam, war das eines von den Flügeln schützend umfassten Jungflüglers.

Keine Angst … sei ruhig …

Ainfar atmete durch. Es war leichter gesagt als getan …

Der Schillerflügler hatte sich in den Gängen in die Kleidung eines der Diener Bandorchus gehängt, die dieses Mal das Tor durchschreiten würden. Schon vor Tagen hatte Ainfar ihm den Weg durch die Schlitze gezeigt, und seither konnten die Schillerflügler sich noch dichter an den Quellen nähren, deren Magie das Schloss gestaltete. Bisher war die Anwesenheit der neuen Bewohner nicht aufgefallen, oder sie störten niemanden. Ainfar hoffte, dass es so bleiben würde. Vielleicht würde ihm das einen Weg eröffnen, in Zukunft jedes Mal Botschaften an Regiatus zu schicken, wenn ein Portal geöffnet wurde. Aber zunächst musste diese eine ankommen, oder alles andere wäre sinnlos.

»Geht und erntet«, erfüllte Bandorchus Befehl den Raum. »Bringt mir Nahrung für den Moment, der uns alle zurück in die Freiheit führen wird!«

Die Mitglieder der Gruppe verneigten sich. Ein Umhang schlug dabei zurück, und für einen winzigen Augenblick jagten Reflexionen von Gelbflecks Flügeln wie prismatische Lichtspeere durch den Raum. Ainfar winselte innerlich, doch seine Sorge war grundlos. Anscheinend war er der Einzige, der es bemerkt hatte.

»Wir hören und gehorchen«, schnarrte ein braunhäutiger Fassgeist, ehe er sich als erster durch das Portal warf. Die anderen folgten schnell, und hinter ihnen schnurrte die Lücke wieder zu einem Strich zusammen und verschwand.

Ainfar atmete auf.

Dieser Teil ist erledigt. Ich habe getan, was ich konnte, um vor der drohenden Gefahr zu warnen. Er straffte sich und sah zu Bandorchu, die sich damit beschäftigte, ihr Haar auf neue Weise zu bändigen und zu schmücken.

Jetzt liegt es an mir, ob es gelingt, die Gefahr zu unterbinden, ehe sie eintritt.

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