Kitabı oku: «Die Leiche im Landwehrkanal», sayfa 3
Gontard wechselte das Thema und fragte: »Eigentlich möchte ich nur wissen, was Sie hierher führt. Ist es der Erdrutsch oder der Mordfall?«
»Zunächst wollte ich mich über die mögliche Verzögerung bei den Kanalarbeiten informieren. Aber jetzt, da ich von dem Mord erfahren habe …« Grahsen ließ den Satz unvollendet in der Sommerhitze stehen.
»Sie haben mit Herrn Häußler ein angeregtes Gespräch geführt. Ging es um den Toten?«
»So eine Leiche ist schon etwas Außergewöhnliches.« Grahsen guckte, als wartete er, dass ihm weitere Worte zuflögen. Nach einem Moment fuhr er fort: »Das gilt natürlich besonders, wenn der Leichenfund mit einem Unglück an der Baustelle zusammentrifft.«
»Herr Häußler glaubt an einen Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Erdrutsch?«
»Ach was«, Grahsen winkte ab, »ich finde nur, dass hier zu viele Zufälle zusammenkommen. Die Sache stinkt. Das sage ich Ihnen.«
Was meinte Grahsen? Mit vagen Andeutungen konnte Gontard nichts anfangen. Aber wenn der Reporter so redete, hatte er sicher etwas mitzuteilen. Gontard tätschelte seinem Pferd die Mähne, auf dass es noch etwas Geduld habe.
»Das ist doch geradezu unglaublich.« Grahsen wies mit der Hand hinüber nach Berlin. »Vor den Thoren Berlins arbeiten eine Handvoll Menschen an einem Kanalstück. Dann liegt ein Schreiberling tot im Wasser, und alle hier draußen kannten den Mann. Wer wird da nicht stutzig.«
Tatsächlich erinnerte sich Gontard daran, dass Lenné das Opfer zumindest flüchtig gekannt hatte – aber die anderen? Da war ihm nichts aufgefallen. Er sagte: »Ich war hier mit niemandem bekannt, auch nicht mit dem Opfer.« Grahsen guckte, als wisse er nicht, ob er angelogen oder veralbert wurde.
»Nun gut, dem Herrn Gartendirektor bin ich schon zuvor begegnet«, gab Gontard zu. »Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er zu dem Todesopfer einen besonders engen Kontakt pflegte.«
»Das glaube ich auch nicht. Lenné wird wohl eher mit dem werten Herrn von Traunstein verkehrt sein.« Grahsen blickte um sich und fuhr dann leiser fort: »Und den Häußler kannten Sie nicht?«
»Nein, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.«
»Der war einer von den Kellerhalsrednern und hat große Volksreden gehalten, damals vor den Märztagen. Genauso wie Puch. Und dann standen die beiden Seit an Seit auf der Barrikade.« Grahsen lachte. »Und jetzt zieht der eine den anderen aus dem Wasser. Das finden Sie nicht seltsam?«
Tagebucheintrag No. 2, 23. August 1850
Den ganzen Tag habe ich auf diesen Moment gewartet. Darauf, dass ich meinen Stift ergreifen und Worte in dieses Buch schreiben kann. Nun ordne ich meine Gedanken. All das, was mir den ganzen Tag durch den Kopf geistert.
Es ist die Vergangenheit. Ich komme mir vor, als verfolge ich mich selbst. So als würde ich mein eigener Schatten sein. In einem fort suche ich dunkle Ecken. Aber ich entkomme nicht.
Auch Ablenkung will mir nicht gelingen. So wie heute Nachmittag. Ich sitze in der Conditorei und studiere Zeitungen. Noch vor ein paar Tagen hätte ich die Zeilen aufmerksam gelesen. Und heute? Mein Blick schwebt über die Absätze. Die Worte geben keinen Halt. Und ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich mich umschaue. Beobachtet einer, was ich lese? Erkennt einer, wonach ich suche? Nach einer Meldung über den Mordfall am Landwehrkanal?
Nein, Gedanken lesen können die nicht. Auch wenn Dr. Wiesenburg und seine Spitzel es gern täten. Die grauen Männer sitzen weiterhin nur herum und gucken dumm. Die machen lange Ohren und sehen aus wie Esel.
Wie schnell ich mich an diesen Unsinn wieder gewöhnt habe … Es ist wie vor dem ganzen Revolutionszauber. Das hätten wir wissen müssen. Nie ändert sich etwas. Vielleicht sieht es für ein paar Augenblicke so aus. Aber das geht schnell vorbei. Am Ende will das Geschmeiß einen vollen Wanst und seine Ruhe. Freiheit, pah! Als würde der Pöbel sich für so etwas interessieren.
Auf meinen Wanderungen durch die Stadt passiere ich die abgerissenen Gestalten. Lange sah man die kaum noch. Ein paar Groschen am Tag mehr gab’s nach den Kämpfen. Und nun? Alles wieder weg. Da stehen sie wieder in den Schlangen und betteln nach den Arbeiten für billigen Tagelohn.
Ich laufe gern durch die Oranienburger Vorstadt mit ihren riesigen Fabriken. Ausgerechnet am Oranienburger Thor reißt mich an diesem Nachmittag ein bekanntes Gesicht aus meinen Gedanken. Da läuft dieser Criminal-Commissarius Werpel herum. Wie ein Schnüffler schaut er an jede einzelne Haustüre. Die ganze Straße entlang. Und dann verschwindet er in einem Hauseingang.
Ich trage meine Verkleidung, den Hut, den Umhang, den Zwicker mit dem Fensterglas und so weiter. Also spreche ich seinen Constabler an. Eine fürchterlich dumme Person. Schwer für seinen Dienstherrn, gut für mich. Der erkennt mich bei einer etwaigen späteren Begegnung niemals. Kein Wunder, dass Commissarius Werpel den draußen vor der Tür stehen lässt.
Ich frage ihn nach dem Grund seiner Untersuchungen. Er fragt, wer das wissen wolle.
Ich behaupte, ich arbeite für eine höchst geheime Revisionscommission Seiner Majestät. Und müsse routinemäßig die Arbeit der Polizeibehörde überprüfen. Das dürfe er aber unter keinen Umständen jemandem verraten.
Na, wenn das so sei, sagt er sichtlich beeindruckt und beginnt zu flüstern. Man sei in einem Mordfall unterwegs. Die Causa habe sich am neuen Landwehrkanal zugetragen. Der Commissarius verhöre gerade einen Gesellen, der da arbeite.
Das habe ich befürchtet. Ich nehme mich zusammen, lasse mir die Sorge nicht anmerken. Ob es denn eine Spur gebe, frage ich.
Er habe keine Ahnung. Da müsse ich schon den Commissarius selbst fragen. Der komme sicher gleich wieder, sagt der Tölpel. Dem Commissarius will ich freilich nicht begegnen. Ich weise den Constabler noch einmal mit Nachdruck auf meine geheime Mission hin. Er werde schwer bestraft, würde er nur ein Wort über unser Gespräch verlieren.
Der Strohkopf schwört hoch und heilig Verschwiegenheit. Ich muss aufpassen, dass ich nicht lache. Allein, viel schlauer bin ich nach dem Gespräch auch nicht.
Drei
Sonnabend, 24. August 1850
Christian Philipp von Gontard betrat den Hof der Werkstatt zur Mittagsstunde. Schon in der Toreinfahrt lagen Balken, vermutlich zum Trocknen. In dem winzigen Hof stapelten sich abgesägte Baumstämme in der Sonne. Es sah aus, als versuche jemand, einen babylonischen Turm aus Baumaterialien zu errichten. Die obersten Stämme befanden sich meterweit über Gontards Kopf, und die Stützen erschienen ihm nicht besonders vertrauenerweckend.
Er blieb in der Einfahrt zum Hof stehen und rief: »Meister Häußler! Sind Sie in Ihrer Werkstatt?«
Es kam keine Reaktion. Nur der Wind pfiff zwischen den Holzstapeln. Gontard trat in den Hof. Er wollte auf Häußler warten. Heye und sein Kumpan forschten noch im Labor. Sie wollten die Ergebnisse beim Diensthabenden hinterlegen. Also hatte er Zeit für den Mordfall – aber musste er deshalb sein Leben aufs Spiel setzen?
Er tippte mit dem Finger gegen eine der Stützen, bereit, sich sofort in die schützende Einfahrt zu retten. Die Strebe stand fest wie ein Soldat auf dem Exerzierplatz. Gontard drückte noch einmal mit etwas mehr Kraft dagegen, das Holz gab kein Stück nach, es knarrte nicht einmal. Nun, Häußler arbeitete jeden Tag hier und lebte immer noch, überlegte Gontard. Die Uferbefestigung am Landwehrkanal war hingegen eingebrochen. Sollte er auf die Fähigkeiten des Meisters vertrauen und über den Hof gehen?
Gontard rief abermals nach Häußler. Als erneut keine Reaktion erfolgte, ging er noch ein paar Schritte in den Hof hinein. Immerhin roch es hier nach frischem Holz und nicht mehr nach den Ausdünstungen der Großstadt. Gontard nahm beim Gehen den Helm ab und zog das Taschentuch hervor – ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Nachdem er die Tropfen abgetupft hatte, verstaute er das Tuch im Waffenrock.
Die Tür zum Werkstattgebäude war geschlossen, also klopfte Gontard an. Drinnen brummte jemand etwas Unverständliches, Gontard wertete es als Aufforderung und trat ein.
Hier herrschte noch größere Enge als auf dem Hof. Inmitten des Raumes saß Häußler hinter einem Tisch, mit einer Feile in der Hand und einem Winkel im Schraubstock. Das Spannwerkzeug musste recht neu sein, denn es bestand aus Gusseisen. Schraubstöcke aus diesem Material waren erst 1830 in England erfunden worden – das dozierte Gontard in seinen Vorlesungen.
Der Meister stand auf und sagte: »Guten Tag, Herr Oberst-Lieutenant! Sie beehren meine kleine Manufactur …«
Gontard erwiderte den Gruß und schaute sich in der Werkstatt um. Der Raum war kaum größer als die Dienstküche in seinem Haus. An allen Wänden hing Werkzeug, vom Boden bis zur Decke.
»Das ist nicht gerade eine Fabrikhalle. Aber ich kann hier arbeiten.« Häußler wies auf einen Hocker, der neben der Tür stand. »Und wenn Ihnen dieser bescheidene Schemel genügt, können Sie gern Platz nehmen.«
Gontard nickte und setzte sich auf den Hocker. »Erlaubt Ihnen ein Auftrag wie der Kanalbau nicht eine Erweiterung des Geschäfts?«
»Oh, sicher, ich könnte mich vergrößern. Aber dann bräuchte ich auch mehr Gesellen, mehr Arbeiter, mehr Aufträge, mehr Vertragsverhandlungen.« Häußler klopfte auf den Winkel im Schraubstock. »Ich bin Handwerker und kein Fabrikherr.«
»Sie haben nur die beiden Gesellen in Diensten, die ich am Kanal gesehen habe?«
»Das sind zwei zuverlässige junge Leute. So etwas findet man heutzutage nicht mehr oft, gerade hier in Berlin.« Gontard fragte sich, wo die Burschen nach Häußlers Ansicht mehr taugten. Er dachte an Quappe, der kam vom Dorf und war ein Schlingel wie aus dem Bilderbuch. Andererseits diente Quappe nun schon seit mehreren Jahren in Berlin, er musste wohl zu den Lausebengeln der Residenzstadt gezählt werden.
»Die beiden verstehen ihr Handwerk inzwischen ordentlich«, fuhr Häußler fort. »Ich kann sie allein auf Baustellen senden, so wie jetzt. Dem einen werde ich wohl demnächst den Gesellenbrief aushändigen.«
»Da scheint es mir nicht wahrscheinlich, dass einer Ihrer Gesellen den Erdrutsch am Landwehrkanal durch eine fehlerhafte Arbeit verursacht hat.«
»Das ist in der Tat ausgeschlossen. Bei so einer Baustelle erledige ich die allermeisten Arbeiten selbst, und auch jeden Arbeitsschritt meiner Stifte habe ich höchstpersönlich überwacht und in Augenschein genommen.«
Gontard sagte nichts – er schaute Häußler einfach in die Augen. Häußlers Gesicht wirkte beinahe so hart wie der Schraubstock an seinem Tisch.
Der Handwerker fragte, fast ohne den Mund zu bewegen: »Haben Sie in Ihrem Labor schon etwas Gegenteiliges entdeckt?«
»Nein, nein, ich frage aus reiner Neugier.« Gontard setzte sein verbindliches Lächeln auf. »Ich will mir nur ein umfassendes Bild verschaffen.«
»Nur zu, machen Sie sich Ihr Bild!«, brummte Häußler.
»Vielen Dank, Herr Häußler. Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen.« Gontard beugte sich zum Tisch und erkundigte sich dann leiser: »Wissen Sie, ob Ihre Gesellen den Toten kannten?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist nur eine Frage.«
»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich habe sie allerdings nicht danach gefragt.«
»Würden Sie das für mich erledigen?«
Häußler überlegte und strich sich durch den Bart.
»Nun ja, warum eigentlich nicht …«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden.« Gontard zögerte einen Moment. »Ich habe schon gehört, dass Sie auch mit Herrn Puch bekannt waren.«
»Das ist kein Geheimnis. Ich habe ihn allerdings in den letzten zwei Jahren nicht mehr gesehen. Die Zeiten sind nicht danach. Ich hörte, Sie wissen das nur zu gut.«
Gontard zuckte zusammen. Was wusste der Baumeister über ihn?
Häußler zwinkerte ihm zu und richtete sich auf seinem Hocker auf. »Ich habe mich nicht mehr politisch betätigt. Bei ihm war das etwas anders. Vielleicht eruieren Sie mal bei der Obrigkeit, ob Puch jemandem auf die Füße getreten ist.«
Paul Quappe öffnete die Tür zur Speisekammer – ganz vorsichtig, denn die Scharniere neigten zum Knarren. Und Lärm konnte er nicht gebrauchen. Die Küchenmamsell war zum Einkaufen gegangen, von der drohte keine Gefahr. Aber die Hausherrin weilte in den oberen Stockwerken, und Ferdinand stromerte auch durch das Haus.
Nun war der Spalt breit genug, um hineinzugreifen. Quappe tastete nach Obst. Ein Apfel wäre nicht schlecht – oder zwei oder drei. Bis zur Vesper blieben noch Stunden. Seine Fingerspitzen streiften über Papiertüten, einen Kartoffelsack, Gurken. Er näherte sich der Sache. Da, das fühlte sich wie ein Apfel an …
Es klopfte – hinter ihm.
Quappe zuckte zusammen. Er ließ den Apfel fallen, der rollte über den Boden der Speisekammer und polterte gegen die Tür. Die quietschte sofort los.
Es klopfte erneut an der Dienstbotentür.
»Hallo? Ist da wer?« Das war eine Frauenstimme, und sie klang nicht nach Henriette von Gontard und auch nicht nach der Küchenmamsell.
»Ja doch! Eenen Momang bitteschön.« Quappe schlug die Tür zur Speisekammer zu. »Ick eile!«
Er lief durch die Dienstküche und drückte die Türklinke herunter. Vor Paul Quappe stand eine Frau. Eine schöne Frau. Eine sagenhaft schöne Frau. Ihre brünetten Locken fielen auf ein Decolleté, von dem Quappe seine Augen gar nicht lösen konnte. Er versuchte etwas zu sagen, doch es gelang ihm nicht.
Die Frau lächelte und fragte: »Ist jemand zu Hause?« Normalweise hätte Quappe etwas wie »Ick steh ja jenau vor Ihn« geantwortet. Allein, er brachte immer noch kein Wort hervor. Sogar sein Mund stand offen. Das bemerkte Quappe erst jetzt.
»Na, junger Mann, können Sie meine Worte verstehen?« Quappe klappte das Kinn hoch und nickte. Warum klopfte die Frau am Dienstboteneingang? Sie sah nicht wie eine Magd oder eine Mamsell aus. Vor ihm stand ganz ohne Zweifel eine feine Dame. Und was für eine!
Sie zwinkerte ihm zu.
Quappe nahm sich zusammen und sagte: »Wen vonne Herrschaften wolln Se denn jerne sprechn?«
»Ist Herrn von Gontard im Hause?«
Sie meinte bestimmt den Herrn Oberst-Lieutenant und nicht seinen Sohn Ferdinand. Denn bei aller Schönheit konnte die Madame ihr Alter nicht verbergen. Sie war bestimmt zehn Jahre älter als Quappe – mindestens Ende zwanzig, vielleicht schon über dreißig.
»Wollen Sie die Dame nicht hereinbitten, Herr Quappe?« Ferdinand stand hinter Quappe und presste die Stimme, damit sie tiefer klang. Quappe trat beiseite, und die Madame betrat die Dienstküche.
»Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen im bescheidenen Heim der Gontards! Warum haben Sie nicht den Vordereingang gewählt, meine Dame?«
Die Madame sah sich um und lächelte spitzbübisch.
»Ich kam wohl aus der falschen Richtung, von der Charlottenstraße her.« Sie trat einen Schritt auf Ferdinand zu.
»Sie sind der junge Herr des Hauses?«
»In der Tat, das bin ich. Ferdinand von Gontard.« Der Junge verbeugte sich so tief, wie Quappe es bestimmt schon seit Jahren nicht mehr gemacht hatte.
Die Madame machte einen Knicks und erwiderte: »Mein Name ist Martha von Traunstein.«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte der Junge.
Quappe wurde das langsam zu viel. Dieses Getue! Kaum kam eine feine Dame des Weges, spielten alle verrückt. Sogar er selber. Damit musste Schluss sein. Er rief: »Un ick bin Paul Quappe!«
Ferdinand und Martha von Traunstein drehten sich herum. Quappe kam sich vor, als sei er der Bengel und nicht Ferdinand. Nein, eigentlich guckten die beiden ihn eher an wie einen Kläffer, der mit ungebührlichem Lärm störte.
»Fein«, übernahm Ferdinand das Wort, »Herr Quappe ist der Bursche meines Vaters.«
Die Dame wandte sich wieder dem Jungen zu. Sehr lange hatte seine Einmischung nicht Wirkung gezeigt, dachte Quappe.
»Dürfen wir Ihnen etwas anbieten, meine Dame?« Ferdinand spielte weiterhin den Erwachsenen.
»Nein, vielen Dank, mein Herr«, flötete die Dame. »Ich bin eigentlich auf der Suche nach Ihrem Vater. Oberst-Lieutenant von Gontard ist doch Ihr Herr Vater?«
»Ja, in der Tat. Darf ich nach Ihrem Anliegen an meinen Herrn Papa fragen?«
Die Dame fummelte an ihrem Hut herum. Quappe war sich ziemlich sicher, dass sie ihre Verlegenheit nur spielte. Doch sie sah hinreißend dabei aus. Sie trat noch einen Schritt näher an Ferdinand heran und flüsterte: »Ich habe da eine wichtige Information für Ihren Herrn Vater. Es geht um …«, sie zögerte kurz, »… um seine aktuelle Forschung.«
Quappe fiel auf, dass die Dame gerade so laut flüsterte, dass er die Worte auch verstehen konnte. Ferdinand hatte für solche Eigentümlichkeiten anscheinend keine Aufmerksamkeit übrig. Sein Blick klebte an den Lippen der Dame, und er nickte.
Madame von Traunstein fuhr etwas lauter fort: »Sie werden doch die Freundlichkeit besitzen und Ihrem Herrn Vater die Information und einen Gruß von mir übermitteln? Er findet mich heute am Abend im Opernhaus.«
»Aber natürlich, meine Dame.« Ferdinand schwang den Arm wie ein Galan bei einer Einladung. »Es ist mir eine Ehre, Ihre Grüße zu überbringen.«
Nach einem erneuten Knicks verabschiedete sich Madame von Traunstein und verließ das Gontard’sche Haus wieder durch die Dienstbotentür.
Quappe sah zu Ferdinand. Der guckte der Dame noch hinterher, obwohl die Tür längst ins Schloss gefallen war.
Der Junge drehte sich zu Quappe um und sagte: »Haben Sie das mitbekommen, Herr Quappe?«
Quappe fragte sich, was Ferdinand meinte. Etwa, dass der Junge wie ein liebestoller Verehrer um die Dame herumscharwenzelt war? Quappe schüttelte vorsichtshalber den Kopf.
»Herr Quappe! Sie weiß etwas über den Mord.«
»Ach so, meenen Se?«, fragte Quappe und dachte: Uns wird sie aber bestimmt nicht erzählen, was sie weiß.
»So ist es!«, rief Ferdinand aufgeregt. »Wir müssen die Dame unbedingt im Auge behalten!«
»Dit is dit Zimma von dem Herrn Puch«, sagte die alte Frau und wies in die Kammer, in die gerade so ein Bett, zwei Stühle, ein Schreibtisch und eine Kommode passten. Zwischen den Möbelstücken konnte Gontard sich kaum noch um die eigene Achse drehen. Obendrein herrschte in der Bude nicht gerade preußische Ordnung. Auf der Kommode häuften sich Kleider, die augenscheinlich einer Wäsche bedurften. Der Tisch zeugte, freundlich betrachtet, vom Fleiß seines Besitzers, weniger wohlwollend formuliert, handelte es sich um einen Saustall. In der Kammer stand der Staub in der Luft. Immerhin gab es ein Fenster.
»Wenn Se mir fragen, war der Herr Puch nich so fein, wia imma tat.«
Gontard trat ans Fenster und öffnete es einen Spalt. Von draußen wehte ein Schwall Luft herein. Es roch nach dem Moder des Hinterhofs mit seinen Latrinen, dennoch ließ sich die Luft von draußen besser atmen. Gontard schaute zur Alten.
»Ick hab allet jenau so jelassen, wie et war. Anjefasst hab ick ooch nix. So wie da Herr Commissarius dit jesacht hat.«
Gontard schwieg.
»Lange jeht dit aba nich mehr. Ick muss dit Zimma ooch ma wieda vamieten. Da Tote wird wohl nix jeben.«
»Hatten Sie mit Herrn Puch Schwierigkeiten?«
»Nee, jar nich. Von dem hat ma kaum wat jehört. Ick meene, unten wohnen die Kasulkes. Acht Leute in drei Zimman. Dit issn Krach! Da kriegn Se von hier obn nix mit.«
»Wohnt hier oben noch jemand?«, fragte Gontard.
»Nee. Wir haben hier hinten noch den Trocknbodn«, die Alte wies auf den Nachbarraum unterm Dach, »da häng ick die Wäsche uff.«
»Vielen Dank, meine Dame«, erwiderte Gontard. »Ich werde mich nur ein paar Minuten umschauen.«
»Dit mit die Dame könn Se lassn, Herr Offizier. Ick geh ja schon.« Die Haushälterin trollte sich und murmelte auf ihrem Weg die Treppe hinunter unverständliches Zeug.
Gontard trat an den Tisch. Dieser bog sich geradezu unter einem Haufen von Papier. Ganz oben lag eine Ausgabe der Deutschen Zeitung, sie war gerade ein paar Tage alt. Darunter kam ein zusammengefalteter Brief zum Vorschein. Es handelte sich um handschriftliche Correspondenz, er erkannte die Schrift. Rudolf Virchow schrieb aus Würzburg. Der Mediciner hatte Berlin wegen der Restauration verlassen und einen Ruf an der Würzburger Universität angenommen. Ironischerweise, dachte Gontard, würde Puch jetzt wohl auf Virchows Tisch liegen, wenn der Mediciner noch in Berlin wäre. Schließlich hatte der Arzt die Pathologie begründet und in der Charité geleitet.
Gontard faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Tasche seines Waffenrocks und wandte sich wieder dem Papierhaufen auf dem Tisch zu. Er legte ein Blatt mit Notizen beiseite und kramte weiter. So recht wusste er nicht, wonach er suchte. Er wühlte sich durch die Stapel, betrachtete Briefe, Gedichte für Jubilare, Briefe, Zeitungsausrisse mit Anzeigen für Druckerzeugnisse und immer wieder Briefe.
Ganz unten auf der Tischplatte fand Gontard ein Bündel mit Couverts. Die Schrift darauf stammte von einer Frau, vermutete er. Gontard zog einen Brief aus einem der Umschläge und sah seine Annahme bestätigt – Martha von Traunstein schloss das Schreiben mit herzlichsten Grüßen. Er steckte das ganze Bündel in die Innentasche an seiner Brust.
»Herr Oberst-Lieutenant!« Werpels Stimme erklang aus dem Treppenhaus. »Welch ein Zufall! Gut, dass ich Sie treffe.«
Gontard drehte sich herum, begrüßte den Commissarius und fragte sich, ob das Bündel den Waffenrock so sehr ausbeulte, dass Werpel es erahnen konnte.
»Ich sehe, Sie kümmern sich auch um den Mordfall«, sagte der Commissarius.
»Wollen Sie mich davon abhalten?«
Werpel wiegte den Kopf, als würde er die Möglichkeit erwägen, sagte aber: »Sie würden sowieso nicht auf mich hören, Herr Oberst-Lieutenant. Nein, ich würde es eher begrüßen, wenn wir uns regelmäßig über unsere Ermittlungen austauschen könnten.« Werpel trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Nun stand der Criminal-Commissarius beinahe Schulter an Schulter mit Gontard. War das nicht ein bisschen zu nah? Der Commissarius guckte wie ein Pferd – diese Mischung aus Zuvorkommenheit und Trottelei machte Gontard skeptisch.
»Ich, Herr Oberst-Lieutenant, war gestern zum Beispiel bei einem von Häußlers Stiften. Sie werden sicher auch noch Ihre Erkundigungen einholen, aber ich glaube, die beiden haben nichts mit der Mordsache zu tun.«
Gontard überlegte, welche leicht zu ermittelnde Information er dem Commissarius im Gegenzug überlassen könnte. Er sagte: »Ich habe auch eher die Befürchtung, dass Herr Puch sich in etwas Politisches verwickelt haben könnte.«
»Wie kommen Sie darauf?«
War das plötzlich ein Verhör? Gontard ignorierte den scharfen Ton und zeigte auf den Tisch. »Haben Sie schon über diese Papiere geschaut?«
»Aha, daher weht der Wind. Ja, ich habe bereits einen Blick auf den Haufen geworfen und eine erste Auswahl konfisziert.«
Gontard stutzte. Hatte Werpel die Briefe von Virchow und Martha von Traunstein nicht für wichtig befunden, oder hatte er nur nicht so tief gekramt? Und was für Schriften lagen jetzt bei der Polizei?
»Vermutlich haben Sie recht mit Ihrer These. Puch schien absonderliche politische Ansichten vertreten zu haben«, sagte der Commissarius. »Stellen Sie sich vor, ich habe eine Neue Rheinische Zeitung gefunden. Und wer hat gleich auf der zweiten Seite einen Artikel verfasst? Unser Mordopfer.«
Die Neue Rheinische Zeitung war die Postille von diesem Karl Marx, die kürzlich ihr Erscheinen hatte einstellen müssen – Gontard hätte den Artikel zu gern gelesen.
»Kommen Sie beizeiten vorbei! Dann können Sie einen Blick auf die Papiere werfen. Und, Herr Oberst-Lieutenant, haben Sie schon etwas gefunden?«
Gontard schaute den Polizisten an – seinen alten Bekannten Virchow wollte er ihm nicht auf dem Silbertablett servieren und auch über die Verwicklung von Martha von Traunstein machte er sich zunächst lieber selbst ein Bild. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bin gerade erst hereingekommen. Lassen Sie uns den Haufen doch gemeinsam durchsehen.«
»Ick hab den Ufftrag vom Herrn Oberst-Lieutenant, zu Herrn Lenné zu jehen. Könn’ Se mir nich einfach in Ruhe lassn?« Paul Quappe versuchte schon den ganzen Weg von der Dorotheenstraße bis ins Thiergartenviertel, Ferdinand von Gontard loszuwerden. Aber der Junge grinste immer nur verschwörerisch, redete von Mordermittlungen und Abenteuern. Quappe sah eher Bestrafungen auf sich zukommen.
»Wat soll da Herr denn denkn, wenn wa da zu zweet uffschlagn tun?«
»Ich sage einfach, ich solle auf Sie aufpassen«, sagte Ferdinand in frechem Ton.
Quappe hielt das für keine gute Lösung. Ihm musste etwas einfallen, wie er den Jungen beschäftigen konnte. Und zwar schnell. Sie sahen die Lennéstraße bereits. In der No. 1 wohnte der Herr Gartendirektor und Stadtplaner Seiner Majestät. Wieso hatte der eigentlich eine eigene Straße? Also, eine mit seinem Namen? Weil er ein paar Sträucher und Bäume zwischen Brandenburger Thor und Charlottenburg angepflanzt hatte? Das mit dem Landwehrkanal schien er nicht so recht hinzubekommen, dachte Quappe. Trotzdem konnte er sicher jeden Abend in Geld baden. So sahen jedenfalls die Villen hier aus.
Quappe schaute auf die Hausnummern. Es war nicht mehr weit. Ihm musste etwas einfallen … Er sagte: »Wir müsstn dit Haus von allen Seiten ankieken. Da fällt uns sicha irjendwat uff.«
Ferdinand bekam große Augen.
»Ick muss ja leida anna Tür kloppn. Aba Sie, junga Herr …«
»Sie meinen, ich …« Ferdinand guckte sich um. »Was soll ich denn da finden?«
»Ja, watt weeß ick. Watt Vadächtiget ebent.«
»Und in dieser Zeit könnten Sie in Ruhe die Nachricht meines Vaters überbringen, nicht wahr?« Ferdinand zog ein Gesicht wie ein Bengel, dem jemand sein Spielzeug wegnehmen wollte.
»Dit schon. Aba Sie tun vielleicht watt üba den Mord rausfinden.«
Ferdinand schien sich nicht entscheiden zu können. Quappe blieb stehen, um ihm etwas Zeit zu geben. Ihm blieb auch nichts anderes übrig. Bis zur Lenné-Villa blieben nur noch ein paar Schritte.
»Na gut«, sagte Ferdinand, »ich laufe eine Runde ums Carré und mache mir ein Bild. Aber ich schaue mich nur um. Wenn Sie danach nicht fertig sind, treffe ich Sie zufällig an der Villa des Herrn Gartendirektors an.«
Mehr ließ sich wohl nicht herausschlagen. Quappe sagte: »Kieken Sie jenau, junga Herr! Mir wolln ja nix übasehn.«
Ferdinand entschwand in einen Fußweg zwischen zwei Grundstücken. Quappe guckte ihm hinterher. Wenn jemand den jungen Herrn beobachtete, gab es sicher Ärger. Ferdinand schlich wie ein Spion hinter den Feindeslinien. Quappe musste sich beeilen, bevor jemand das Treiben bemerkte! Schnell lief er um die Ecke in die Lennéstraße hinein. Das Grundstück des Gartendirektors lag im langen Schatten der Spätsommersonne. Die Villa wirkte in dem Licht noch größer. Wohnten hier Riesen?
Quappe erreichte das gusseiserne Tor und überlegte, ob er eintreten oder lieber rufen sollte. Wachte ein Hund über das Grundstück? Nein, der hätte bestimmt schon längst gebellt. Quappe flitzte über den Kiesweg und klopfte am Dienstboteneingang.
Ein hagerer Alter in Livree öffnete, als hätte er an der Klinke auf Gäste gewartet. Er fragte nach Quappes Wunsch und klang dabei, als müsse er einen frisch antrainierten französischen Akzent unterdrücken.
»Ick soll dem Herrn Lenné eine Botschaft übabringen. Von mei’m Herrn, was da Oberst-Lieutenant von Gontard is.«
Der Hagere hob die rechte Augenbraue und entgegnete: »Und wen darf ich der Herrschaft melden?«
»Ick bin Paul Quappe. So wie Kaulquappe, nur mit ’m P. Also um jenau zu sein, mit drei P. Eens janz vorn un zwee inne Quappe drin.«
Der Alte verzog keine Miene und antwortete: »Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld, Monseigneur Quappe!« Der Diener hob den Kopf und tappelte ins Haus.
Quappe überlegte, wie lange es noch dauern konnte, bis Ferdinand wiederauftauchte. Viel Zeit blieb nicht, befürchtete er.
Der Lakai kam und führte ihn ohne ein Wort nach drinnen. Sie schritten durch das Foyer zu einem Raum, in dem das Fenster größer war als die Wände in der Kate von Quappes Eltern. In dem Raum standen drei Herren. Die Männer sahen trotz der feinen Kleidung wie Jahrmarktsgestalten aus. Der eine trug einen gewaltigen Bauch unter dem Wams – als hätte er ein Kissen unterm Gürtel versteckt. Das Gesicht des zweiten Mannes war voller Narben. Der dritte reichte den beiden anderen allenfalls bis zur Schulter.
»Sie sind der Bursche von Oberst-Lieutenant von Gontard?«, fragte das Narbengesicht.
»Dit bin ick.«
»Ich bin Peter Joseph Lenné«, sagte das Narbengesicht und wies auf den Dicken und den Kleinen, »und das sind Erhardt von Richtenau und Johann Jakob Helfft. Hat Ihr Herr neue Informationen über den bedauerlichen Zwischenfall am Kanal?«
Meinte das Narbengesicht den Mord oder das abgerutschte Ufer? Quappe dachte nach – er wollte nichts Falsches sagen, sonst gab es wieder Ärger.
»Die Studenten des Herrn Oberst-Lieutenant von Gontard unterstützen mich bei der Untersuchung der unangenehmen Sache«, erklärte Lenné dem Dicken.
»Jenau dit isses. Ick soll um een Termin anhalten. Am besten jleich am Montag inne Frühe.«
Lenné zog ein Büchlein aus dem Gehrock und blätterte darin. »Mir wäre um elf sehr recht. Würden Sie das dem Herr Oberst-Lieutenant mitteilen?«
»Dit mach ick, mein hochvaerhta Herr!« Quappe verbeugte sich.
Der Lakai hob die Augenbraue und schritt wieder zum Ausgang. Quappe lief hinterher. Er dachte an Ferdinand. Kam der Junge auf dumme Gedanken und klopfte an die Tür der Villa? Das Foyer schien größer geworden zu sein. Oder ging der Lakai nur langsamer?
Endlich erreichten sie die Tür. Quappe sauste los. Mit ein paar großen Schritten brachte er den Kiesweg hinter sich. Er trat auf die Straße. Im selben Augenblick erreichte Ferdinand das Tor. Quappe wandte sich um und sah den Diener kopfschüttelnd in die Villa gehen.
»Haben Sie den Dicken gesehen, Herr Quappe?«, fragte Ferdinand außer Atem.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.