Kitabı oku: «Mörderisches Spiel in Leipzig»
Uwe Schimunek
Mörderisches Spiel
in Leipzig
Ein historischer Krimi
Jaron Verlag
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Epilog
Nachwort
Verzeichnis umbenannter Straßen
Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen
Originalausgabe
1. Auflage 2016
© 2016 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Carsten Tiemessen, Düsseldorf
Satz: Prill Partners|producing, Barcelona
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-95552-220-9
Prolog
Mensch! Pass doch auf, Willi!« Horst Ludewig trat gegen den Pfosten des Fußballtors, durch das der graue Lederball gekullert war.
Willibald Gelsenrath ließ die Schultern sinken. Neben ihm jubelte Heini Risio. Der Stürmer war ihm entwischt, schon zum dritten Mal bei diesem Training. Gelsenrath hatte ihn nur einen winzigen Moment aus dem Auge verloren, und schon stand es 3 : 0 für die gegnerische Mannschaft durch das dritte Tor von Heini Risio – seinen Gegenspieler.
»Kommt mal zum Mittelkreis!«, rief einer der beiden Friedrich-Brüder.
Gelsenrath konnte ihre Stimmen nie auseinanderhalten. Er trabte los, dem immer noch fröhlich hüpfenden Risio hinterher. Ludewig guckte im Vorbeigehen, als wolle er Gelsenrath bei lebendigem Leibe häuten, vierteilen oder Ähnliches. Es ist doch nur ein Trainingsspiel, dachte Gelsenrath, als er in der Spielfeldmitte antrat.
»Das hier ist unser letztes richtiges Training vor dem Halbfinale der Mitteldeutschen Meisterschaft, das wisst ihr alle«, begann Walter, der ältere der Friedrich-Brüder, seine Ansprache. »Wir können doch nicht über die Wiesen rennen wie eine Herde Schafe, nur weil Thoralf nicht da ist. Guckt auf eure Gegenspieler! Lauft so, dass ihr sie immer im Blick habt!«
Gelsenrath schaute zu Boden. Er wusste auch so, dass alle zu ihm sahen.
»Wir spielen jetzt erst mal eine Viertelstunde sieben gegen sieben und üben die Manndeckung. Ich teile die Mannschaften neu ein«, bestimmte Walter Friedrich.
Da brauchte Gelsenrath gar nicht mehr hinhören. Wenn kleine Mannschaften gebildet wurden, war ohnehin kein Platz für ihn. Tatsächlich zählte Friedrich nur die Namen der Besten auf. So kurz vor der wichtigen Partie ging es beim englischen Gentleman-Sport nicht mehr um Spaß.
»Willi, dich würde ich auch um etwas bitten«, riss Friedrich ihn aus seinen Gedanken. »Würdest du zu Thoralf fahren und nachschauen, warum er nicht zum Training gekommen ist? Du hast doch ein Fahrrad.«
Besser, als Ballholer zu spielen, dachte Gelsenrath. Diese Aufgabe musste Horst Ludewig übernehmen. Gelsenrath sah das verkniffene Gesicht des Ersatzverteidigers und nickte.
Die Spieler verteilten sich auf dem Feld, als Gelsenrath vom Platz trottete. Die Sportanlage war noch in das Grau des Märzes getaucht, aber an den Büschen ringsherum sprossen die Knospen bereits. Die zarten Triebe passten nicht zum rauen Ton, in dem die Friedrich-Brüder die VfB-Fußballer zum Trainingsspiel antrieben.
Das Fahrrad lehnte am Zaun, der den Sportplatz von der Oststraße trennte. Gelsenrath nahm seine Kleidung vom Gepäckträger und schlüpfte in Hose und Jacke. Hurtig schwang er sich auf den Sattel und trat in die Pedale. Die Wohnung des Mannschaftsführers lag in der Fregestraße, nur anderthalb Kilometer vom Sportplatz entfernt. Trotzdem fuhr Gelsenrath lieber etwas schneller, damit es nicht dunkel wurde und die Männer das Training beendeten, bevor er – hoffentlich mit Thoralf Schöpf – zurückkehrte.
Zwischen dem Sportplatz, der am Rande von Lindenau lag, und dem inneren Stadtgebiet von Leipzig erstreckte sich Weideland. Gelsenrath kam es so vor, als würde dort, wo die Häuser aufhörten, auch die moderne Zeit enden. Schon die Namen in dieser Gegend klangen nach bäuerlicher Idylle: Rechter Hand ragte der Kuhturm aus dem Boden, nach der Brücke über das Hochflutbett folgte auf der linken Seite die Viehweide. In wenigen Wochen würde hier endloses Grün das Auge erfreuen, noch lag das Gelände brach. Gelsenrath nahm einen unangenehmen Geruch wahr. So sauber das Frühlingswasser war, wenn es der Quelle im fernen Gebirge entsprang, so sehr wurde es auf seinem Weg bis nach Leipzig von den Abwässern der zahllosen neuen Fabriken verschmutzt.
Schnell überquerte Gelsenrath die nächste Brücke nach dem Versorgungshaus, das am linken Rand der Chaussee lag. Dieses Stück der Strecke fuhr er trotz der hier herrschenden Gerüche – im Sommer sorgte das Vieh für eine besondere Note – sehr gern. In aller Regel wirbelten hier keine Fuhrwerke Staub auf, und er konnte ungestört in die Pedale treten.
Vor ihm tauchten die ersten Häuser der Stadt auf. Bis vor ein paar Jahren war auch diese Gegend noch dörflich geprägt gewesen. Nun leuchteten die neuen, prächtigen Bürgerhäuser in der Märzsonne, als wären sie mit Edelsteinen besetzt. Vor dieser Häuserfront bog Gelsenrath in die Straße An der Alten Elster ein. Nun blieben nur noch ein paar Meter. Er guckte nach rechts und sah die Straßenschilder: Gustav-Adolph-Straße, Auenstraße und Fregestraße.
Gelsenrath war schon einmal in Schöpfs Wohnung gewesen, als der ihm in einer Nachhilfestunde ein paar Tricks der Defensive beim Fußballsport erklärt hatte. Theoretisch blieben da kaum Fragen: Stets am Gegenspieler kleben bleiben, und nebenbei den Ball im Blick behalten! Wenn solche Kerle wie der Risio und die Friedrich-Brüder nur nicht so schnell wären …
Gelsenrath trat durch die Haustür. Im Treppenhaus roch es nach dem abklingenden Winter, die feuchte Kälte schien noch im Putz des Mauerwerks zu stecken. Die Tür im ersten Stock führte zu der Gemeinschaftswohnung, in der Schöpf zwei Zimmer bewohnte.
Auf das Schellen hin öffnete allerdings eine alte Frau, dem Namensschild an der Tür nach handelte es sich um Frau Sauertopf. Ihr Gesicht passt zum Namen, ging es Gelsenrath durch den Kopf. Es war grau wie ein Regentag. Das Mütterchen hatte bestimmt seit dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 nicht mehr gelächelt, vielleicht sogar nicht mehr seit der Revolution 1848.
»Sie wollen sicher zum jungen Herrn Schöpf«, brummelte die Alte. »Ich habe ihn seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen, er wird sicher wieder seine Zeit mit dieser Fußlümmelei vergeuden.« Frau Sauertopf betrachtete Gelsenrath. Er spürte ihren Blick auf dem weißen Trikot, das unter seiner Jacke hervorlugte.
»Nein, bei der Fußballübungsstunde ist er nicht eingetroffen. Genau deshalb bin ich hier.«
»Na, dann treten Sie durch und schauen nach dem jungen Herrn!« Die Alte gab den Weg frei und wies auf die Tür an der Stirnseite des Korridors, wo Schöpfs Zimmer lagen.
»Danke sehr, meine Dame!«, entgegnete Gelsenrath und schlenderte durch den Korridor. Mit halbem Ohr hörte er die Alte hinter sich so etwas murmeln wie, eine Dame werde sie sonst nie genannt.
Gelsenrath klopfte an die Tür. Doch in Schöpfs kleinem Reich regte sich nichts. Gelsenrath drehte sich herum, die alte Frau war in einem Zimmer verschwunden – dem Geruch nach in der Küche. Also öffnete er vorsichtig die Tür zu Schöpfs Zimmern.
In der Stube herrschte penible Ordnung. Der Schreibtisch sah aus, als sei er noch nie benutzt worden. Die Platte war beinahe völlig leer, und auch das Tintenfässchen mit der altmodischen Feder machte eher den Eindruck eines Ziergegenstands denn eines Schreibgeräts. Außerdem stand ein Kelch auf dem Tisch. Vielleicht trank Schöpf gelegentlich Limonade aus dem Gefäß. Jetzt aber war es leer.
In einem Regal über dem Schreibtisch blinkten ein gutes Dutzend blitzeblank geputzte Trophäen, die genauso wie die Medaillen an der Wand von Schöpfs sportlichen Erfolgen zeugten. Neben der Tür zur Schlafkammer hingen Zeichnungen. Gelsenrath erkannte den Strich. Es handelte sich eindeutig um Übungen von Rosalinde Fritzschmann. Er hatte Schöpfs Verlobte bei mehreren Vereinsfestivitäten getroffen und stets ein wenig Mitleid mit der hübschen Brünetten empfunden. Schöpf kümmerte sich bei den gesellschaftlichen Anlässen viel zu wenig um das Fräulein. Wenn Gelsenrath so eine junge Dame ausführen würde …
Er dachte lieber nicht mehr an die Verlobte seines Mannschaftsführers und betrachtete die größte der Zeichnungen genauer: Eine Aphrodite stieg aus dem Meeresschaum und hielt eine Lanze in der Hand. Wenngleich die Züge der Göttin voller Anmut waren, strahlte das Bild doch etwas Bedrohliches aus.
Genug der Kunst. Wo konnte Schöpf stecken? Wenn er auf den Sportplatz gefahren wäre, hätte er Gelsenrath entgegenkommen müssen. Im Büro war er sicher auch nicht mehr, es ging schließlich schon auf halb sechs Uhr zu. Vielleicht hatte der Mannschaftsführer nach der Arbeit ein wenig geruht und war dabei eingeschlafen. Gelsenrath überlegte, ob er in der Schlafkammer nachsehen sollte. Damit würde er tief in Schöpfs privates Reich eindringen. Andererseits kam die Meisterschaft in ihre entscheidende Phase, und der Verein brauchte den Spielführer. Das war eine besondere Situation, die besondere Taten erforderte.
Entschlossen öffnete Gelsenrath die Tür zur Schlafkammer und trat auf die Schwelle. Tatsächlich, da lag Schöpf auf dem Bett, in seiner Sportlerkluft, mit dem Gesicht zum Fenster am anderen Ende des Zimmers. Der Mannschaftsführer ruhte mit angezogenen Beinen wie ein Kleinkind. Nein, mit der weißen VfB-Tracht wirkte er eher wie ein zu groß geratener Engel. Eigentlich war es ein Frevel, den Mann zu wecken. Dennoch trat Gelsenrath an das Bett und legte den Arm auf Schöpfs Schulter. Der Körper gab der leichten Berührung nicht nach. Also ruckelte Gelsenrath etwas stärker an der Schulter des Mannschaftsführers, und der Körper rollte in die Rückenstellung.
Nun erst sah Gelsenrath Schöpfs Gesicht. Die Wange, mit der Schöpf bis eben auf dem Bett gelegen hatte, war mit dunklen Flecken übersät. Der offene Mund und die aufgerissenen Augen bildeten eine Fratze. In dem starren Blick war pure Angst zu lesen. Es sah so aus, als hätte Schöpf mit einem Dämon gekämpft. Und verloren.
Gelsenrath schrie.
Eins
Freitag, 22. Mai 1903, vormittags
In Leipzig toben die Irren, dachte Edgar Wank, als er sein Manuskript mit den Notizen abglich. Sein morgendlicher Besuch bei der Polizei war sehr erfolgreich verlaufen. Hauptwachtmeister Machuntze hatte mit spannenden Geschichten geradezu um sich geworfen. Mit den Informationen könnte Wank auch noch die morgige Ausgabe füllen. Er legte das Notizbuch auf den Schreibtisch und widmete sich noch einmal dem Text für die heutige Zeitung. Gleich musste er ihn bei Doktor Richter abgeben.
Am Mittwoch abend ½ 10 Uhr sind im Hause Zentralstraße 1 zwei Barbiere im Treppenhause in Balgerei geraten und beide etwa 8 m tief durch den Treppenschacht in den Hausflur hinabgestürzt. Hierbei ist einer infolge Schädelbruchs sofort verstorben, während der andere nicht unerhebliche Verletzungen am Kopfe und Rücken erlitt und dem Krankenhaus zugeführt werden musste.
Natürlich war es immer bitter, wenn es Tote zu beklagen gab. Doch durch solche Berichte wurde Polizeiliches aus Leipzig zu einer vielgelesenen Rubrik, auf die niemand verzichten wollte. Das Blatt erschien jeden Nachmittag mit einem Amtlichen Teil für die Stadt und den Artikeln im Nichtamtlichen Teil. Die Herausgeber bei der Königlichen Expedition der Leipziger Zeitung hielten täglich den Platz für Wanks Berichte frei. Es gab sicherlich Ehrenvolleres, aber die Toten sicherten Wanks Arbeitsstelle.
Freilich gab es nicht jeden Tag Todesfälle zu verzeichnen. Die restlichen Delikte, die Machuntze ihm gemeldet hatte, waren weniger spektakulär: Unterschlagung, Diebstahl, Zechbetrug, mal ein Einbruch. Die meisten Ganoven in der Stadt beließen es bei kleineren Vergehen. Der Erpresser, den die Polizeibehörden gestern gefasst hatten, war eigens aus Berlin angereist.
Machuntze tat stets, als retteten die Polizisten die Stadt vor dem Untergang, gerade heute hatte er Reden geführt wie ein Schauspieler beim Monolog. Aber im Grunde war nicht viel los in Leipzigs Ganovenwelt, zumindest nichts, was die Leser über längere Zeit in Atem hielt. Freilich konnte Wank schlecht selbst zum Mörder werden, nur um einen guten Artikel verfassen zu können.
Wank stand auf und machte sich auf den Weg zu seinem Vorgesetzten. Er schritt den Flur entlang, vorbei an den anderen Redaktionsstuben. Immer wieder erstaunte ihn, wie die Themen auf die Kollegen an den Schreibtischen abfärbten. Die Politikredakteure gaben sich geschäftig, als hinge von ihnen der Lauf der Geschichte ab und nicht von den Ministern und Geheimräten, über die sie berichteten. Die Wirtschaftsredakteure wirbelten stets umher, als würden sie selbst unablässig Aktien kaufen und verkaufen – dabei hatte kaum einer von ihnen genügend Geld für Börsenspekulationen. Da kam ihm die Ruhe in den Kulturbüros schon beinahe wie eine Erlösung vor.
Im Treppenhaus begegnete er Schliemeyer, dem Sportreporter. Schliemeyers Krawatte hing locker um seinen Hals, es sah beinahe so aus, als ob da ein Galgenstrick baumelte. Der Sportreporter berichtete vornehmlich über die Ergebnisse der Pferderennen. In kurzen Hauptsätzen empfahl er Wank nun, Doktor Richter schnell aufzusuchen, der Direktor der Königlichen Expedition der Leipziger Zeitung habe vorzügliche Laune, sei gar zu Scherzen aufgelegt.
Wank hatte ohnehin nicht vor zu trödeln, doch nun flitzte er die Treppe noch schneller hinauf. Als er vor dem Büro des Direktors angekommen war, war er völlig aus der Puste. Er holte tief Luft und klopfte.
»Herein!«, rief die Vorzimmerdame.
Wank trat ein und wurde direkt zu Doktor Richter gebeten.
»Ah, unser Polizeireporter, ganz vorzüglich!«, rief der Direktor und winkte ihn herbei. »Das wird ein gutes Blatt heute, das habe ich im Gefühl. Zeigen Sie her, was Sie haben, Herr Wank!«
Wank reichte Richter das Manuskript, und der begann sofort, die Zeilen zu überfliegen.
»Eine tragische Sache«, sagte der Direktor nach wenigen Sekunden und klang dabei, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Sogar sein gezwirbelter Schnurrbart wippte fröhlich, als er fortfuhr: »Sie haben das ganz prächtig formuliert, Herr Wank.«
Ein Lob vom Herrn Direktor persönlich, das musste er im Kalender notieren. »Danke, Herr Direktor«, sagte Wank.
»Sie sollten auch mal längere Texte über besonders interessante Fälle für die Rubrik Vermischtes in unserer Beilage verfassen, junger Mann. Schlagen Sie doch bei Gelegenheit etwas vor!«
Ein großer Report! Langsam wurde Wank die Sache unheimlich.
Richter legte das Manuskript auf seinen Schreibtisch und fuhr fort: »Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Wank?«
Wank zögerte kurz und überlegte, ob nicht doch Ärger drohte. Dann sagte er: »Selbstverständlich.«
Richter blickte auf. Seine fröhliche Miene war verschwunden. Der Direktor legte das Manuskript auf den Stapel mit den Artikeln des Tages und fragte: »Ihre Zusammenarbeit mit Herrn Polizeihauptwachtmeister Machuntze läuft ordentlich?«
»Gab es Beschwerden?«
Richters Gesichtszüge schienen zu gefrieren. »Hat er denn Grund für Beschwerden?«
»Nein, nein. Ich dachte nur …«
»Ich will doch hoffen, dass es nur Gutes zu berichten gibt, denn ich treffe mich morgen Abend mit dem Herrn Polizeidirektor.« Richter richtete seinen Oberkörper auf, als wolle er auf seinem Sessel exerzieren. »Da wäre ich gern auf eventuelle Ärgernisse vorbereitet.«
Deswegen also war Machuntze am Morgen geschwätzig wie ein Liebesroman gewesen. »Nein, nein«, sagte Wank. »Der Herr Hauptwachtmeister hat keinerlei Anzeichen irgendeiner Verstimmung gezeigt.«
»Das ist gut. Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass wir auch als Amtsblatt Seiner Majestät in unserer Stadt fungieren.«
»Nein, selbstverständlich nicht, Herr Direktor«, antwortete Wank. Insbesondere nicht, weil der Direktor es bei jeder Gelegenheit wiederholte. Er beschloss, dem Hauptwachtmeister vorsichtshalber doch am nächsten Morgen einen Besuch abzustatten.
Willibald Gelsenrath fuhr mit seinem Fahrrad von der Johannisgasse auf den Augustusplatz. Die Neorenaissancefassade des Museums strahlte in der Maisonne. Gelsenrath nahm sich Zeit, den Anblick zu genießen. Wenn er ein paar Minuten zu spät im Büro ankam, würde ihm niemand einen Strick daraus drehen. Schließlich hatte er gute Nachrichten zu verkünden. Der Bau in der Reitzenhainer Straße, den er für das Architekturbüro von Paul Möbius und Arthur Starke überwachte, kam gut voran.
Auf dem Augustusplatz wimmelte es von Pferdedroschken und Fuhrwerken. Die neuen elektrischen Straßenbahnen bimmelten fröhlich durcheinander. In dem Gedränge boten Kolporteure ihre Waren feil.
Vor dem Mendebrunnen trat ihm ein Mann in einem schäbigen Anzug in den Weg und wies auf die illustrierten Blätter und Romanhefte in seinem Bauchladen. Gelsenrath fragte sich, ob er etwa wie ein Familienoberhaupt aussah, mit seinem Fahrrad und dem Zylinder nach der neuesten englischen Mode. Oder glaubte der Kolporteur etwa, ein junger Mann würde diesen Schund selbst lesen?
Mit einem gekonnten Schwung umkurvte Gelsenrath den Kerl. Der Händler musste aus dem Weg springen und fluchte ihm hinterher. Schnell weg, dachte Gelsenrath, ehe noch ein Tumult entsteht! Mit ein paar kräftigen Tritten in die Pedale näherte er sich der Universität. Nach ein paar Metern ließ er das Rad rollen und bog in die Goethestraße.
»Mann, Willi, das war ja eine sportliche Einlage!«, rief jemand von der Paulinerkirche her.
Gelsenrath blickte über die Straße, da stand Horst Ludewig, sein Sportkamerad vom VfB. Der junge Kerl hatte den Hut keck nach hinten gerückt, sodass sein Haaransatz zu sehen war, und schlenderte in Hemdsärmeln herbei. Sein Jackett hielt er zusammen mit einer Mappe unterm linken Arm.
»So solltest du mal über das Spielfeld rasen, Willi!«, sagte Ludewig. Seine Worte wurden beinahe von seinem Kichern verschluckt.
Gelsenrath stieg vom Rad und schob es auf die andere Straßenseite. Er streckte dem Kamerad die Hand entgegen und frotzelte: »Wenn ich an einem Freitag um die Mittagszeit über den Augustusplatz schlendern könnte, hätte ich beim Training auch mehr Kraft übrig.«
Ludewig ergriff Gelsenraths Rechte und schüttelte sie mit unerwarteter Herzlichkeit.
»Allerdings bin ich heute auch nicht in Eile«, fügte Gelsenrath hinzu.
»Ich muss um die Ecke in die Bibliothek, ich nehme den Weg über die Grimmaische.«
»Dann begleite ich dich ein paar Meter.«
Sie gingen an der neogotischen Gebäudefront vorbei, die den Platz seit seinem Umbau prägte. Die jüngst gepflanzten Bäume spendeten nur spärlichen Schatten. Ohne den Fahrtwind begann Gelsenrath in seinem Jackett zu schwitzen.
»Du warst seit dem Halbfinale bei keiner Sonderübung, Willi«, stellte Ludewig fest. Es klang nicht wie eine Anklage, eher wie eine Bitte.
»Ach, weißt du …« Gelsenrath suchte nach Worten, er wollte den Kameraden nicht verletzen. »Ich habe gerade im Büro viel zu tun. Ich bin kein Student mehr.«
»Das wissen wir.«
Sie trotteten schweigend am »Café Français« vorbei in die Grimmaische Straße hinein. Auch hier herrschte Trubel, doch es blieb genug Platz, nebeneinanderher zu spazieren.
»Es ist auch ein wenig so, dass ich den Eindruck habe, ich werde nicht so recht gebraucht«, fuhr Gelsenrath fort.
»So ein Unsinn!« Ludewig rief die Worte so laut aus, dass eine Mamsell mit einem riesigen Krug unter dem Arm sich herumdrehte und grimmig guckte. »Wir brauchen jeden Mann. Gerade seitdem unser Spielführer nicht mehr unter uns weilt.«
»Nun«, antwortete Gelsenrath ruhig, »seien wir ehrlich, Horst, ich werde ganz sicher im Endspiel nicht aufgestellt.«
»Das mag sein. Ich bestimmt auch nicht. Aber wir sind eine Mannschaft. Wir haben eine gemeinsame Aufgabe, ein gemeinsames Ziel. Wir sind Gentlemen und unterstützen uns gegenseitig, wo wir können.«
»Ja, ja!«
»Im Ernst. Wir müssen unsere Besten so gut wie möglich vorbereiten. Wenn wir beim Training abwechselnd gegen Heini, Bert und die anderen spielen, dann werden sie stärker gefordert. Im Endspiel gegen Prag werden sie alle Kraft brauchen.« Ludewig senkte die Stimme. »Wir erkämpfen diesen Titel auch für Thoralf Schöpf. Das sind wir ihm schuldig.«
Gelsenrath betrachtete den jungen Kameraden. Der schaute ihm in die Augen und schien doch in einer anderen Welt zu weilen.
»Wir haben alle unsere Kämpfe auszutragen, Willi. Ich bekomme zwar nicht mehr Hiebe, wenn ich über unseren Sport spreche, wie noch in der höheren Bürgerschule. Doch auch an der Uni gibt es Professoren, die mich mit Argusaugen betrachten«, sagte Ludewig nun wieder etwas lauter.
Mit Möbius hatte Gelsenrath keinerlei Probleme, was den Fußballsport anging. Der Architekt interessierte sich nicht im Geringsten für seine Privatangelegenheiten. Nein, Gelsenrath war die Lust auf das Ballgetrete vielmehr vergangen, seit die anderen in der Mannschaft um die Meisterschaft spielten, als ginge es um ihr Leben.
»Wir brauchen wirklich jeden Mann«, schloss Ludewig seinen Vortrag. »Wir üben morgen in der kleinen Gruppe im Park und am Sonntag alle zusammen auf dem Sportplatz.«
Gelsenrath zuckte zusammen. Am Sonntag hatte er anderes vor.
»Wir beginnen gleich nach dem Renntag im Scheibenholz. Es ist ja schon länger hell.«
Fast hatte Gelsenrath das Gefühl, die ganze Grimmaische Straße könnte hören, wie ihm ein Stein vom Herzen purzelte. Hastig nickte er. »Ich werde da sein, Sportfreund. Am Sonntag auf jeden Fall. Und ich sehe zu, dass ich es morgen auch einrichten kann.«
Edgar Wank saß im Café im Oertelschen Haus in der Katharinenstraße und wartete auf Thomas Kutscher. Der weilte bestimmt noch im Alten Theater um die Ecke und versuchte die Dramaturgen von seinem neuen Bühnenstück zu überzeugen, so wie täglich in den letzten Wochen. Das konnte seine Zeit dauern. Auch wenn Wank den Freund in seinen Bemühungen unterstützte, fand er doch, dass Pünktlichkeit einem Theaterdichter gut zu Gesicht stünde.
Derweil widmete Wank sich der Leipziger Zeitung, das Nachmittagsblatt war gerade frisch aus der Druckerei eingetroffen. Ein Blick auf den Leitartikel erklärte die gute Laune des Direktors. Die Freisinnigen hatten sich im Wahlkampf klar gegen die Sozialdemokratie gestellt. Der Artikel zitierte einen Aufruf der Freisinnigen Zeitung. Demnach müsse der Kampf gegen die SPD mit voller Wucht geführt werden, in erster Reihe für die wirtschaftliche und persönliche Freiheit der Arbeiter selbst, weiterhin auch für die politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften aller Klassen der Bevölkerung.
Gelsenrath interessierte sich nicht sonderlich für Politik, deswegen überflog er die weiteren Ausführungen über die Stärkung des Staates und die Einordnung in die Entwicklung des Liberalismus in der ganzen Welt nur noch. Seine Stimme würde am 16. Juni an die liberale Deutsche Volkspartei gehen. Nicht, weil er die Ziele und die Führer dieser Partei besonders schätzte, sondern weil unter seinen Freunden eben Dt VP gewählt wurde.
Er blätterte weiter und studierte die Meldungen aus Sachsen.Vom königlichen Hofe. Dresden, 22. Mai. Se. Majestät der König besuchte am gestrigen Vormittag mit Ihrer Königl. Hoheit der Prinzessin Mathilde den Gottesdienst in der Hauskapelle zu Hosterwitz. Hernach, so berichtete die Leipziger Zeitung, hielt der König anlässlich der Eröffnung der Städteausstellung eine Tafel im Residenzschloss ab. Es folgte eine schier endlose Aufzählung der Gäste: der Königliche Preußische Staatsminister, Staatssekretär des Innern Doktor Graf von Posadowsky-Wehner, der Königliche Preußische Staatsminister und Minister des Innern, Freiherr von Hammerstein, der Gesandte Staatsrat und Kämmerer Freiherr von Niethammer …
Schon beim dritten Namen drohten Wank die Augen zuzuklappen, dabei folgte noch eine halbe Spalte adliger Namen mit vollständigen Titeln. Wer sollte so etwas lesen?
Auch die anderen Meldungen weckten kaum sein Interesse. Der Bund Deutscher Verkehrsvereine tagte in Leipzig, in der Reichsstraße zeigte die Schmiedeberger Klöppelschule eine Sammlung ihrer wertvollen geklöppelten echten Spitzen. Das sei eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, befanden die Kollegen.
Wank legte das Blatt auf den Tisch und zog seine Uhr aus der Tasche – gleich halb fünf. Wenn Kutscher nicht bald kam, würde er nach Hause gehen. Als hätte Wank den Auftritt herbeibeschworen, eilte der Freund in diesem Moment durch den Gastraum. Sein offenes Jackett streifte die Stuhllehnen, den Hut trug er in der Hand. Die etwas zu lang geratenen Haare wippten im Gleichtakt mit dem Stoff des Rocks.
»Guten Tag, Edgar, ich muss dich leider auf heute Abend vertrösten«, sagte Kutscher. Der Freund blieb neben dem Tisch stehen. »Ich bin im Theater aufgehalten worden und habe gleich eine Verabredung, von der ich dir gern beim Bier erzähle.«
Wank nippte an seinem Kaffee und entgegnete nichts. Er sah seinem Freund vieles nach, doch einen leichten Ärger konnte und wollte er nicht verbergen.
»Also gut, ganz kurz.« Kutscher setzte sich und bat den Ober per Handzeichen um einen Kaffee. »Ich betreibe einen neuen Sport.«
»Du und Sport?«
»Eine englische Sportart. Sie nennt sich Fußball. Dabei wird ein Ball mit dem Fuß getreten, möglichst in ein Tor.« Kutscher bekam seinen Kaffee. »Doch das Beste, mein Freund, kommt noch. Ich habe da eine Geschichte gehört, die wie für dich erdacht erscheint. Der beste Leipziger Fußballsportler ist vor ein paar Wochen unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen.«
Das ging Wank zu schnell. Er wunderte sich noch über den plötzlichen Ehrgeiz seines Freundes in Sachen Körperertüchtigung und stammelte die Worte: »Ein … Mord?«
»Das lässt sich noch nicht sagen. Ein seltsamer Schwächeanfall, berichteten die Sportfreunde. Ich höre mich um.« Kutscher trank seinen Kaffee, als handle es sich um Bier. »Ich muss leider gehen. Allerdings nicht ohne eine weitere Neuigkeit.«
»Hm«, murmelte Wank. In seinem Kopf begann es zu brummen.
»Du willst es nicht wissen?« Kutscher klang, als habe er einen Orden erhalten.
»Hm.«
»Es ist eine gute Nachricht für dich, mein Freund.«
»Hm.«
»Ich habe gerade Eleonore Rada getroffen. Die Eleonore Rada!«, sagte Kutscher.
Wank nahm noch einen Schluck Kaffee. Der Freund wusste, wie sehr er für die Schauspielerin am Alten Theater schwärmte.
»Sie hat vor der Vorstellung eine Vakanz und würde sich freuen, mit dir etwas Zeit zu verbringen.«
Sollte er diese Freude teilen? Wenn Fräulein Rada auf seine Avancen einginge, wäre ihm das angenehm. Doch so, mit dem Freund als Kuppler? Wank hörte sich seufzen.
»Los, mein Freund!« Kutscher stupste ihn über den Tisch hinweg an die Schulter. Der Ärmel des Jacketts stieß beinahe Wanks Kaffeetasse um. »Trink aus und begib dich zum Alten Theater! Heute Abend erstattest du Rapport. Und ich erzähle dir Neuigkeiten vom englischen Sport.«