Kitabı oku: «Rebellen», sayfa 3

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ZWEI Mittwoch, 2. August 1978

ES PASSIERTE NICHT OFT, aber an diesem Morgen traf Kriminalkommissar Peter Kappe als Erster im Büro in der Keithstraße ein. Unter seinem Arm trug er den Tagesspiegel. Im Präsidium war es um sieben Uhr ähnlich ruhig wie zu Hause, doch hier lockte kein Bett. Damit bestand keine Gefahr, dass er wieder einschlafen und Albträume haben würde.

Gestern Abend war Kappe das Bier in seiner Wohnstube noch wie ein Trost vorgekommen, doch nachts hatte ihn die viele Flüssigkeit immer wieder auf die Toilette getrieben. Nach jedem Einschlafen war stets aufs Neue Frau Buddewitz in seinen Träumen aufgetaucht, um ihn zu beschwören: «Sie werden mich nicht los, bevor sie nicht den Mörder meines Schwagers gefangen haben!» Dabei war noch nicht einmal klar, ob überhaupt ein Mord vorlag. Doch das interessierte Gestalten in Albträumen natürlich nicht.

Kappe knallte den Tagesspiegel mit Schwung auf den Tisch. Das verursachte einen Windstoß, und ein gelber Zettel flatterte in hohem Bogen zu Boden. Kappe bückte sich, hob das Papier auf und las: Vermerk 6.30 Uhr: Frau Dr. Niedergesäß bittet um Rückruf.

Die Gerichtsmedizinerin kam also auch nicht zum Schlafen. Kappe ahnte Schlimmes. Wenn die Ärztin ihn persönlich sprechen wollte, war der Tonmeister wohl kaum eines natürlichen Todes gestorben. Kurz überlegte Kappe, ob er noch ein paar Minuten der Hoffnung nutzen sollte, um in Ruhe Zeitung zu lesen. Der Tagesspiegel titelte: Oberstes Gericht weist Berufung Bahros gegen sein Urteil zurück.

Der Dissident aus dem Osten sollte für acht Jahre ins Gefängnis, weil er im Westen eine Analyse des DDR-Systems veröffentlicht hatte. Hochverrat, hieß es nun. Kappe hoffte, dass Rudolf Bahro in nicht so ferner Zukunft als politischer Gefangener freigekauft und in den Westen gelangen würde. Für weitere Lektüre fehlte ihm die Ruhe. Also nahm er den Telefonhörer zur Hand und wählte die Nummer der Gerichtsmedizin.

Es tutete. Kappe stellte sich vor, wie Doreen Niedergesäß zunächst ihre vor Blut triefenden Hände aus einer Leiche ziehen und anschließend waschen musste, bevor sie den Hörer abheben konnte.

«Hallo, hier Niederjesäß!» Die Gerichtsmedizinerin klang so barsch, dass Kappe zusammenzuckte.

«Kappe hier. Guten Morgen. Du wolltest mich sprechen. Was gibt es denn?»

«Um die Uhrzeit schon?» Die Stimme von Dr. Niedergesäß kippte ins Kumpelhafte. «Da war wohl zu Hause nich mehr ville inne Kühlschrank, wa?»

Frühstück – das hatte Kappe völlig vergessen. «Nur der übliche Sommerblues. Alle sind im Urlaub, sogar meine Eltern.»

«Deswegen kamste mir jestern schon so mürrisch vor. Wo issn die Familie?»

«In Amerika. Meine Eltern besuchen gerade meine Tochter.»

«Det klingt, als wärste der letzte Kappe in Berlin!», rief die Gerichtsmedizinerin lachend.

Kappe versuchte das Gespräch zurück zum Dienstlichen zu lenken. «Jedenfalls bin ich der letzte Kappe weit und breit, der arbeiten muss.»

«So früh am morjen und schon in Eile?», höhnte Dr. Niedergesäß noch, sie fügte jedoch gleich an: «Also jut, anne Arbeit.» Im Hörer raschelte es. Anscheinend blätterte die Gerichtsmedizinerin in einer Akte. «Hier. Det wollte ick dir sagen. Ick erspar dir det medizinische Kaudawelsch. Det war, wie ick es vamutet hatte, een Stromschlag. Aba hier is wat seltsam. Da sind Vabrennungen, als hätte der arme Buddewitz minutenlang unta Strom jestanden.»

Die Bürotür öffnete sich, und Kriminalmeister Wolf Landsberger polterte ins Zimmer.

Hastig hob Kappe die Hand, wies auf den Telefonhörer und führte anschließend den Zeigefinger vor den Mund.

Landsberger schien zu verstehen, denn er flüsterte ein «Guten Morgen» und schlich zu seinem Platz am Schreibtisch vis-à-vis.

«Hörst du mir, Kappe? Minutenlang!», wiederholte die Gerichtsmedizinerin.

«Ja und?», fragte Kappe und konzentrierte sich wieder auf das Telefonat.

«Det kann keena übaleben.»

Der Mann ist ja auch tot, dachte Kappe. Er sagte aber nichts.

«Det, wat hier vor mir liegt, war een junga Kerl um de dreißig. Bei ’nem normalen Stromschlag hätta jute Chancen jehabt», ergänzte die Gerichtsmedizinerin.

«Du meinst, jemand hat absichtlich für einen ausgiebigen Stromschlag gesorgt?»

«Det is eene Möglichkeit.»

«Und die andere?» Kappe spürte, wie Hoffnung in ihm aufkeimte.

«Det kann ick nich sagen. Da musste die Technika fragen. Ick seh ja nur, wat mit da Leiche is.»

Kappe stöhnte. «Also, was du sagen willst, ist Folgendes: Es kann ein Unfall gewesen sein oder auch ein Mord. Und das ist so dringend, dass ich zu Dienstbeginn eine Nachricht auf meinem Schreibtisch finde?»

Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. Dann lachte die Gerichtsmedizinerin, «Wenn du det so sagst, klingt det ’n bisschen banal. Aba ick hab noch ’ne weitere schlichte Wahrheit für dir, lieber Kappe. Du musst herausfinden, wat passiert is.»

Kappe hätte jetzt gern das Gesicht von Doreen Niedergesäß gesehen. War sie verärgert? Oder frotzelte sie nur herum? Aus dem Klang der Stimme hörte Kappe das nicht heraus. Also ging er auf Nummer sicher. «Danke für die Information. Zum Glück ist Kollege Landsberger gerade eingetroffen. Wir können uns also ans Werk machen und ermitteln, was passiert ist.»

Gery konnte seine Augen kaum noch offen halten. An Schlafen war allerdings nicht zu denken. Denn der Gitarrist spielte schon seit Stunden in ohrenbetäubender Lautstärke Tonleitern rauf und runter. Dabei gab es seit einer ganzen Weile nichts mehr auszupegeln. Die Mikrofone standen längst an den richtigen Stellen. Wahrscheinlich war der Mann froh, dass er einmal von seiner Band ungestört übers Griffbrett fegen konnte.

Die anderen Musiker schliefen sicher längst. Sie hatten ihre Instrumente und ihre Technik für die Aufnahme vorbereitet und waren gegangen. Der Schlagzeuger und der Bassist als Erste, schließlich wollten die beiden gleich morgens mit der Arbeit beginnen.

Gery drehte die Studioboxen in der Regie leiser und schaute durch das Glasfenster in den Aufnahmeraum. Ob der Kerl schon komplett taub war?

Gery setzte sich auf den Regiesessel, lehnte sich zurück und gähnte. Beim Blick auf die Uhr an der Wand erstarrte er. Es war schon zehn vor neun. Er hatte tatsächlich die Nacht durchgemacht. Bald würden die ersten Musiker eintreffen, um mit den Aufnahmen zu beginnen. Doch von Buddy fehlte nach wie vor jede Spur.

Gery überlegte, ob er sich heimlich aus dem Staub machen sollte. Wenn nur der Irre im Aufnahmeraum nicht wäre. Den konnte er schlecht allein in den Spreeblick-Studios lassen.

Die Tür ging auf, und der Studioleiter betrat den Raum. Gery sprang vom Regiestuhl auf.

«Guten Morgen», sagte der Boss. Seine Stimme klang, als hätte er die Stimmbänder mit einer Raspel aufgeraut. Er trug dasselbe Hemd wie am Vorabend und darüber ein zerknittertes Jackett.

«Morgen.» Gery drehte den Ton von den Studioboxen auf null. Nun dröhnte das Gitarrenspiel nur noch dumpf aus dem Aufnahmeraum herüber.

Der Studioboss zog eine Packung Zigaretten aus der Jacketttasche. Seine Hand zitterte. «Willst du eine?» Er klopfte gegen den Boden der Schachtel, bis zwei Filter aus der Packung herausragten.

«Danke.» Gery nahm eine Zigarette, zückte sein Feuerzeug und hielt es dem Studioleiter hin. Dann entzündete er die eigene Kippe.

«Das ist eine Scheiße!», maulte der Boss in den Rauch seiner Zigarette hinein.

«Was ist denn passiert?»

«Buddy», sagte der Studioleiter nur. Er ließ sich in den Regiestuhl plumpsen. «Setz dich, Junge.»

Gery schnappte sich einen Stuhl aus einer Ecke. Durch den Regieraum waberte der Zigarettenrauch, es schien, als tanze er zum Dröhnen der Gitarre von nebenan.

«Er ist tot», sagte der Studioleiter.

«Buddy?»

Der Boss nickte.

«Was ist denn passiert?»

«Keine Ahnung. Ich war eben noch einmal bei seinem Studio. Ein Nachbar hat mir erzählt, dass erst die Polizei und dann der Leichenwagen kam. Buddys Bude ist versiegelt.» Der Studioleiter nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und wiederholte: «Versiegelt!»

Der Gitarrist spielte nicht mehr. Gery schaute durch die Scheibe in den Aufnahmeraum. Dort kniete der Musiker vor dem Verstärker. Er drehte an einem Regler und begann wieder zu spielen.

«Gut, dass der noch beschäftigt ist.» Der Boss deutete auf den Gitarristen im Nebenraum. «Wie bist du mit den Jungs klargekommen?»

Gery nahm die Frage kaum wahr. Er dachte an Buddy. Er hatte sich auf die Arbeit mit ihm gefreut – und jetzt? Er schaute zum Boss und murmelte: «Ich glaube, das war ganz in Ordnung.»

«Das ist echt klasse, dass du die ganze Nacht eingesprungen bist. Das wird für dich nicht von Nachteil sein, das verspreche ich dir!» Der Studioboss schaute den Rauchkringeln seiner Zigarette hinterher. Er war nachdenklich. «Ich muss den Jungs irgendetwas bieten. Das Management hat das Studio für sage und schreibe vier Wochen gebucht. Dann muss ein Sensationsalbum fertig sein.»

Vier Wochen! Gery staunte. Das war üppig.

«Du bist doch sowieso im Dienst, wenn die produzieren.» Der Boss lehnte sich zurück und zog an seiner Zigarette, bevor er fortfuhr. «Vielleicht ist es an der Zeit, dass du größere Aufgaben übernimmst.»

«Das geht ja schnell», rutschte es Gery heraus. Am liebsten hätte er die Worte wieder eingefangen. Da wurde ihm ein Job angeboten – und was tat er?

«Keine Bange. Du bist der Techniker, und es ist immer noch ein Produzent da.» Der Boss klang väterlich und sah prompt zehn Jahre älter aus.

«Klar», sagte Gery. Er hatte das Gefühl, dass er noch etwas hinzufügen sollte. Doch er fand keine passenden Worte. «Es ist nur wegen … Buddy …»

«Ach, Junge! Du darfst nicht glauben, dass mich so etwas kaltlässt.» Der Studioleiter schien in Sekundenschnelle zu vergreisen. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn. «Ich habe in den letzten Jahren so viele Kerle viel zu früh gehen sehen. Es hilft alles nichts. Wir müssen trotzdem weitermachen. Oder meinst du, Buddy hätte gewollt, dass die Band ihre Platte nicht aufnimmt?»

Gery nahm einen Zug von seiner Zigarette. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was ein Toter wollte.

«Los, Junge!», sagte der Boss. «Die Schlagzeugaufnahmen produziere ich selbst. Das dauert mindestens eine Woche, vielleicht zehn Tage. Dann hole ich dich ins Boot.» Er drückte seine Zigarette aus. «Aber jetzt legst du dich erst mal hin und schläfst dich aus.»

Peter Kappe sortierte seine Notizen. Seit Stunden arbeiteten er und Wolf Landsberger sich durch das sichergestellte Telefonbuch von Reinhard Buddewitz. Sie telefonierten jede Nummer ab, die sie darin fanden. Inzwischen brummte Kappes Schädel. Der Tote hatte einen sehr unsteten Lebenswandel geführt, er hatte weder Chef noch Kollegen im eigentlichen Sinne, dafür jede Menge Kontakte und Geschäftspartner.

Kappe wusste nun, dass Tonmeister bei Konzerten manchmal von den Betreibern der Konzerthalle gebucht wurden, des Öfteren auch von den auftretenden Künstlern oder von Veranstaltern, die ein Konzerthaus mieteten. Es schien ihm, als würden Menschen wie Buddewitz tagsüber vornehmlich dafür sorgen, dass all die potenziellen Auftraggeber im entscheidenden Moment an sie dachten, damit sie abends etwas verdienen konnten. Zudem war der Erfolg in dieser Branche nicht von langem Bestand. Eine Band, die heute noch Heerscharen von Fans begeisterte und Dutzenden von Menschen wie Buddewitz Arbeit verschaffte, konnte morgen schon vor leeren Hallen und dem finanziellen Ruin stehen. Dafür wurden andere Gruppen, die bislang nur vor einer Handvoll Menschen in einer kleinen Kneipe gespielt hatten, über Nacht berühmt.

Es klopfte an der Bürotür.

Kappe schaute Landsberger fragend an. Doch der zuckte nur mit den Schultern.

«Herein!», rief Kappe.

Lund von der Kriminaltechnik trat ins Büro. Sein Haar war streng gescheitelt und seine Uniform ausgeblichen. In seiner Hand hielt er eine dünne Mappe. Er grüßte freundlich und bat, eintreten zu dürfen.

«Aber gerne doch», sagte Kappe, und er merkte, wie müde er klang. «Was bringen Sie uns denn?»

«Wir haben uns diese Tontechnik des verstorbenen Reinhard Buddewitz einmal genauer angesehen», erklärte Lund, während er mit der Mappe herumwedelte. «Vielleicht ist es am besten, wenn ich Ihnen kurz erkläre, was wir herausgefunden haben, bevor Sie es zu den Akten nehmen.»

«Gute Idee», erwiderte Kappe. Er wies auf den Besucherstuhl, der für solche Fälle bereitstand.

Lund nahm Platz, legte die Mappe auf Kappes Schreibtisch und öffnete sie. Sie enthielt einige Bleistiftskizzen.

Landsberger stand auf, kam herbei und rief: «Das sind Schaltpläne!»

Kappe betrachtete die Zeichnungen näher, sie erinnerten ihn an abstrakte Kunst. Wieso kannte Landsberger sich mit so etwas aus?

«Meine erste Stereoanlage war ein Bausatz», erklärte Landsberger an Lund gewandt.

Der Kriminaltechniker legte den Zeigefinger der rechten Hand auf eine der Zeichnungen. «Sehen Sie das hier?»

Landsberger beugte sich über das Papier und murmelte: «Das soll vermutlich eine Überbrückung darstellen.»

Lund fuhr mit dem Finger eine Linie entlang.

«Das ist ja ein Ding!», sagte Landsberger.

«Hallo!», mischte sich Kappe ein. «Ich bin auch noch da. Und ich bin kein Elektriker und kaufe meine Radios bei Horten.»

«Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar», sagte Lund.

«Nicht so förmlich. Erklären Sie mir einfach, was ich wissen muss!»

«Allem Anschein nach hat ein sogenannter Kompressor den tödlichen Stromschlag ausgelöst. Das ist ein Effektgerät, und das Teil war augenscheinlich ein Eigenbau. Es wurden zwar verschiedene Sicherungen installiert, aber dann wieder überbrückt.» Lund fuhr mit dem Finger über weitere Linien, auf denen einzelne Schaltzeichen elektronischer Bauteile mit Bleistiftkreuzen markiert waren. «Deswegen sind all diese Bauteile durchgebrannt, bevor der Stromfluss unterbrochen wurde. Herr Buddewitz war dem Stromschlag dadurch erhebliche Zeit ausgesetzt.»

«Sie meinen also, dass der Mann ohne diese Bastelei überlebt hätte?», fragte Kappe.

«Gut möglich.»

«Das würde Doktor Niedergesäß’ Einschätzung bestätigen.»

«Aber …», Landsberger blickte auf, «… müsste nicht die Sicherung in seinem Studio rausgeflogen sein?»

«Eigentlich schon», antwortete Lund. «Anscheinend ist die aber viel zu oft rausgesprungen, wenn Herr Buddewitz seine Technik benutzt hat. Denn die war ganz klassisch in Silberpapier eingewickelt und so ebenfalls überbrückt worden. Ich würde sagen, in Hinterhäusern in dieser Gegend ist das nichts Ungewöhnliches.»

«Stimmt. Das machen viele», bestätigte Landsberger in fachmännischem Ton.

Kappe lag die Frage auf der Zunge, ob auch Landsberger derartigen Leichtsinn betrieb und ob das legal war. Doch hier ging es um Reinhard Buddewitz. Irgendetwas kam Kappe an den Ausführungen seltsam vor. Nur was? Moment … «Herr Lund, wissen Sie, ob Herr Buddewitz diese Sicherung in seinem Gerät selbst überbrückt hat?»

«Nicht zu einhundert Prozent. Doch die Arbeiten an der Überbrückung weisen keinen erkennbaren Unterschied zu der anderen Elektronik in seinem Studio auf, an der er augenscheinlich auch selbst Hand angelegt hat.» Lund nahm den Finger vom Plan und fügte hinzu: «Wir haben auch keine fremden Fingerabdrücke gefunden.»

«Aber jemand mit Ahnung und Handschuhen könnte durchaus …», sinnierte Kappe.

«Das wäre möglich», räumte Lund ein. Er zögerte einen Moment und sagte dann: «Wir sind mit dem Studio durch und würden die Schlüssel jetzt dem Bruder des Toten übergeben, der wohl der rechtmäßige Erbe ist. Ist das in Ordnung?»

«Machen Sie das», murmelte Kappe.

Die Sonne brannte auf Gerys nackte Arme. An diesen tropischen Sommertagen war ein Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln nicht nur optisch ein Gewinn. Die Hitze hatte die Stadt fest im Griff. Der Berufsverkehr ebbte bereits ab. Noch zogen die Abgasschwaden von der Yorckstraße auf den Gehweg, doch der laue Wind roch schon ein wenig nach Sommerabend.

Gery hatte den ganzen Tag verschlafen. Um genau zu sein, hatte er sich unruhig auf seiner Matratze hin und her gewälzt. Bis zum Morgen war der Tod für ihn noch etwas unendlich Entferntes gewesen, etwas, das alte Menschen traf oder verrückte Stars wie Elvis Presley. An die Hysterie um dessen Tod im vergangenen Jahr konnte Gery sich noch gut erinnern. Er wusste nicht mehr, wie oft er Jailhouse Rock in seinem Kinderzimmer oder später mit seiner Provinzband im Übungsraum oder auf einer Dorfbühne gespielt hatte. Kurz vor dem Tod des King of Rock ’n’ Roll war Gery mit seiner Lehre fertig geworden und vor dem Einberufungsbefehl zur Bundeswehr nach West-Berlin geflüchtet. Hier verkehrte er mit Leuten, für die Elvis nichts anderes als ein alternder Hausfrauenheld war. Der tote Sänger verblich mit der Zeit zu einem fernen Abstraktum. Ganz im Gegensatz zu Buddy.

Obwohl er den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen hatte, verspürte Gery keinen Hunger. Er bekam jedoch Lust auf ein Bier in der «Gefahrbar». Hoffentlich hatte die schon geöffnet.

Er erreichte die Kneipe hinter den Yorckbrücken. Die Konzertplakate am Fenster verbargen das Innere der Bar. Gery drückte die Klinke hinunter, und die Tür öffnete sich. Zum Glück! Franz Freibier stand hinter dem Tresen. Das versprach weiteres Glück. Denn Gery spielte mit Franz in einer Band, und wie dessen selbstgewählter Nachname besagte, gab er gerne einen aus.

«Hey, Gery Granulat!», rief ihm Franz gut gelaunt entgegen. Er trug ein schwarzes Hemd, das bis zum Kragen zugeknöpft und bestimmt zwei Nummern zu groß war. Vermutlich gab es kaum Hemden in seiner Größe, denn Franz war dürr wie ein Gitarrenhals. Er strich sich den Scheitel gerade und fuhr fort: «Dufte, dass du kommst! Dann hänge ich hier nicht mehr alleine rum.»

«Moin. Grade erst aufgemacht?» Gery schlurfte in den Laden und stellte fest, dass tatsächlich kein weiterer Gast anwesend war.

«Vor ein paar Minuten, Herr Granulat.»

«Kannste mal mit dem bescheuerten Namen aufhören?»

«Wieso? Der passt zu dir.»

«Warum?»

«Na, Granulat! Schwer fassbar, glitzert manchmal im Dunkeln, im Grunde ziemlich hart …»

Gery hatte keine Lust, über diesen Unsinn nachzudenken. «Gib mir mal ’n Bier!»

«Schlechte Laune?», fragte Franz, während er eine Flasche unter dem Tresen hervorzauberte.

Gery nahm auf dem nächsten Barhocker Platz und trank einen Schluck. «Wenn du’s genau wissen willst: Ich hab andere Sorgen als meinen Spitznamen. Buddy ist tot.»

«Der alte Knacker, der immer die halb toten Rockbands abgemischt hat?»

«Der war noch nicht so alt.»

«Tatsächlich nicht? Aber über dreißig war der schon, oder?»

«Keine Ahnung. Ich war nicht zu seinem Geburtstag eingeladen.» Gery rieb sich die Stirn. «Und außerdem, mit dreißig stirbt man noch nicht!»

«Hast recht! Ist immer Mist, wenn einer stirbt», bestätigte Franz. «Was ist denn passiert?»

«Ich weiß es nicht. Aber die Bullen haben sein Studio versiegelt», antwortete Gery. «Buddy war echt in Ordnung. Viele Techniker bei diesen großen Konzerten meinen, sie seien sonst wer. Aber Buddy war da anders. Manchmal hat er mich sogar auf ein Feierabendbier in den Backstage eingeladen.»

«Dieses alberne Rockstar-Gehabe ist ja auch von gestern!», sagte Franz, «Was ist nun mit deinem Job?»

«Der Studioboss hat mich gleich befördert. Das ist meine kleinste Sorge.»

«Ich frag ja nur.» Franz klang etwas eingeschnappt. Dann schien er sich wieder zu fangen. «Ich habe sowieso nicht verstanden, was du so toll daran findest, für andere die Verstärker und Kabel durch die Gegend zu schleppen.»

«Es hat nun mal etwas mit Musik zu tun. Das ist doch das Wichtigste.»

Franz machte ein Gesicht, als wollte er über den Tresen klettern und Gery kräftig durchschütteln. «Ist das dein Ernst – was mit Musik? Und wenn einer Heino vorm Einmarsch ins Riesengebirge den Arsch abwischt – macht der dann auch was mit Musik?»

«Das ist ein Scheißvergleich.» Gery lachte kurz und trank einen Schluck Bier.

«Kann sein.» Auch Franz grinste übers ganze Gesicht. «Kann aber auch sein, dass du auf dem Weg bist, dich für die Arschlöcher abzurackern, die sich für was Besseres halten, weil sie was mit Musik machen.» Franz rollte mit den Augen. Dabei fiel ihm eine Haarsträhne in die Stirn. «Wenn du was mit Musik machen willst, dann mach verdammt noch mal selbst Musik!»

Gery war nicht in der Stimmung, über ihre gemeinsame Band zu sprechen. Da verfiel Franz schnell in epische Vorträge. Gery lenkte das Gespräch lieber in eine andere Richtung. «Apropos Musik – wieso ist es hier eigentlich so still?»

«Mensch, da sagst du was!», stieß Franz hervor. «Dabei hab ich einen ganz heißen Scheiß aus England!»

Schon wieder einer mit heißem Scheiß! Gery trank lieber Bier.

Franz schob eine Kassette ins Abspielgerät, das hinter dem Tresen stand, und erklärte: «Das ist ’ne ganz neue Band. Die hat noch nicht mal ’ne Platte, war aber schon bei einer Peel Session.»

Gery hatte von dem legendären englischen Radiomoderator und DJ gehört. John Peel lud schon seit Jahren Bands ins Studio des BBC-Senders ein. In den letzten Monaten hatte er eine ganze Reihe von Punkbands protegiert.

Aus den Lautsprechern erklang eine Art Glockenspiel, dann setzten Bass, Gitarre und Schlagzeug ein. Eine Frau sang: «Harmful elements in the air / Symbols clashing everywhere …»

«Siouxsie and the Banshees», erklärte Franz. «So was sollten wir auch mal machen. Findest du nicht?»

Die Sängerin rief: «Hong Kong Garden / Oh oh, oh oh …»

Das klang fetzig, musste Gery zugeben. «Das müssen wir Debbie vorspielen», sagte er. «Kommt die heute noch?»

«Die ist im ‹Punkhouse›.»

«Ach ja, heute ist Mittwoch. Da ist das Konzert von PVC.» Gery überlegte kurz und fragte dann: «Und da bist du hier hinterm Tresen?»

«Ich habe die Band schon so oft gesehen. Da kann ich auch mal fehlen und ein bisschen Taschengeld verdienen.» Franz wischte sich die Haarsträhne aus der Stirn. «Aber du kannst ruhig gehen. Wird schon noch jemand kommen.»

«Ist ja noch Zeit. Ich trink erst noch ein Bier.»

An den unverputzten Wänden des ehemaligen Bootshauses, das John Pistol zu seinem Atelier umgebaut hatte, hingen jede Menge Bilder im Comicstil. Josef Bolp schlenderte mit einem Glas Sekt in der Hand an ihnen vorbei. Die Reihe mit den Porträts von männlichen Rockstars hatte er bereits hinter sich gelassen. Für die beinahe lebensechten Abbildungen hatten Mick Jagger, Iggy Pop, Elton John und Udo Lindenberg dem Zeichner offenkundig Modell gestanden. Mehr als die Porträts der Männer begeisterten Bolp allerdings die Bilder von Schauspielerinnen und Sängerinnen. Einige der Damen kannte Bolp von Interviews, über andere standen hin und wieder Artikel im Berliner Blitz, die er nicht selbst geschrieben hatte. Dieser John Pistol musste in den letzten Jahren ganz schön auf Achse gewesen sein. Denn neben deutschen Sternchen hatte er auch eine Menge amerikanischer und englischer Schönheiten gezeichnet. Bolp entdeckte Porträts von Tina Turner und Stevie Nicks von Fleetwood Mac.

Er blieb vor einem Bild von Donna Summer stehen. Die Sängerin lachte, zwischen ihren vollen Lippen strahlten die geraden Zähne hervor. Die Zeichnung hatte einen leichten Sepia-Stich. Dadurch bekam das Bild etwas Verruchtes, so als wäre es aus den Zwanzigerjahren. Der Zeichner hatte einen Moment eingefangen, in dem die Discoqueen einen Hauch Persönlichkeit ausstrahlte und nicht ihren Plattencover-Schlafzimmerblick zeigte, mit dem sie immer ein bisschen wie ein debiles Luder wirkte.

Bolp trank einen Schluck Sekt und schaute sich im Raum um. John Pistol stand in der Nähe der Tür. Er plauderte mit einer Frau. Ihre Frisur sah beinahe so aus, als wäre nachts ein Nagetier zu ihr ans Kopfkissen geschlichen und hätte wahllos an ihrem Schopf herumgeknabbert. Bolp wollte ebenfalls ein paar Worte mit dem Gastgeber wechseln und schlenderte in dessen Richtung.

Pistol trug eine schwarze Hose, ein kurzärmliges schwarzes Hemd und einen schmalen schwarzen Schlips, sogar sein Hut war pechschwarz. Ein paar Meter vor Pistol und der Stoppelhaarigen lagen Ausstellungskataloge auf einem Tisch. Bolp trat an die Auslage heran und nahm eine der Broschüren zur Hand.

«Möchten Sie einen Katalog mitnehmen?», fragte eine Servicedame. «Kostet nur zehn Mark.»

«Ich schaue erst mal», blaffte Bolp.

Der Ton wirkte. Die Kleine zuckte zusammen und wandte sich ab. Bolp blätterte durch den Katalog. Erwartungsgemäß zeigte der Pistols Bilder mit kurzen Erklärtexten. Bolp trat einen Schritt näher an den Zeichner und die Stoppelhaarige heran. Nun konnte er ihren Small Talk verfolgen.

«… da komme ich einfach dieser Tage mal vorbei, und dann können wir ja schauen», sagte der Künstler gerade zu der Frau.

«Das klingt toll.» Die Stoppelhaarige hörte sich an, als hätte sie ein paar Gläschen zu viel getrunken. Sie wandte sich zum Gehen.

«Bis dahin, Else!» Pistol warf der Frau einen Luftkuss hinterher.

Bolp legte den Katalog zurück auf den Tisch und trat zum Zeichner. «Haben Sie eine Minute für mich?»

Pistol runzelte die Stirn. Offenbar suchte er nach dem Namen zu Bolps Gesicht. «Kennen wir uns?»

«Noch nicht. Bolp, Berliner Blitz.»

«Berliner Blitz? Ich glaube, ich muss gerade …»

«Nur zwei Fragen», unterbrach ihn Bolp, bevor sich Pistol aus dem Staub machen konnte.

«Ich weiß wirklich nicht, ob das gerade so gut passt», wich Pistol aus und schaute sich im Raum um. Er schien jemanden entdeckt zu haben und winkte.

Ein dicker Mann tapste herbei. Trotz des lauen Augustabends trug er einen Mantel. Von dem Haarkranz um seine Halbglatze fielen dünne Strähnen bis auf seine Schultern. Bolp grinste, er kannte den Mann: Gernot von Traunstein – hauptberuflich Sohn einer reichen Adelsfamilie, stadtbekannter Betreiber des Konzerthauses B-Rock und Kunstmäzen. Bolp hatte im Laufe der Jahre schon eine Menge Schnäpse mit ihm gekippt. Der Mann soff wie ein Loch, vermied jedoch eisern Bier oder Wein. Von Traunstein bevorzugte Whisky, vormittags trank er Cognac und im Notfall auch einen schnöden Branntwein, stets braunen, nie weißen Schnaps.

«John Pistol, der Pinselhexer, und Bolp mit der flinken Feder – da haben sich ja zwei gefunden!», rief von Traunstein redselig. Er wandte sich Pistol zu. «Eine ganz hervorragende Schau haben Sie hier zusammengestellt. Ich habe bereits zwei Bilder vorgemerkt. Wenn die Damen noch ein bisschen knapper bekleidet wären, würde ich noch viel mehr kaufen!» Von Traunstein warf Bolp einen verschwörerischen Blick zu.

«Eine treffliche Kritik», scherzte Bolp.

Von Traunstein stieß ein Lachen aus, das wie ein Wiehern klang. Das Lächeln auf Pistols Gesicht sah allerdings so aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

«Woher kennt ihr zwei euch eigentlich?», fragte von Traunstein.

«Wir kennen uns gar nicht», sagte Pistol flugs.

«Das ist ja eine Schande!», rief von Traunstein aus. Er klang wie ein Conférencier in einem Schmierentheater. «Dabei ist unser Künstler immer für eine Story gut, mein lieber Bolp. Was glauben Sie, was unser Freund hier über all die Sternchen berichten könnte!»

«Das wollen wir jetzt nicht weiter vertiefen», wehrte Pistol ab.

«So bescheiden, der junge Mann – was, mein lieber Bolp?» Der Sammler beugte sich zu Bolp und raunte ihm in einem Flüsterton, den aber auch Pistol verstehen musste, zu: «Er kennt viele Künstler von Seiten, die vielen anderen verborgen bleiben. Er hat allerdings auch selbst ein paar spannende junge Musiker als Manager unter Vertrag. Ich habe da ein paar bemerkenswerte Liveaufnahmen gehört.»

«Ach, so etwas ist doch nichts für den Leser des Berliner Blitz», wiegelte Pistol ab.

Das würde ich gern selbst entscheiden, dachte Bolp. Er sagte aber nur: «Mein verehrter Herr von Traunstein, heute geht es um die hehre Kunst. Nur deshalb bin ich hier. Herr Pistol zeigt bewundernswerte Bilder.»

Peter Kappe bestellte ein zweites Bier zu seiner Currywurst mit Pommes. Er saß in einer ranzigen Kneipe in der Kurfürstenstraße, nur einen Steinwurf vom Dienstgebäude in der Keithstraße entfernt. Wolf Landsberger hatte ihn zum gemeinsamen Abendbrot überredet.

Vor dem Kollegen standen ein großer Teller mit einem Omelett und ein Glas Cola auf dem Tisch. Kappe wusste, dass Landsberger bodenständig speiste, täglich sogar Stullen im Büro mithatte.

Kappe spießte ein Stück Wurst auf seine Gabel. «Es ist wohl nicht auszuschließen, dass beim Tod von diesem Buddewitz jemand nachgeholfen hat.»

«Entweder der Täter war clever und hat keine Spuren hinterlassen, oder es war doch ein Unfall. Wir kennen jetzt ein paar Details mehr, sind aber im Grunde so schlau wie zuvor», fasste Landsberger zusammen. Es sagte es leichthin, als ginge ihn die Sache nichts an.

«Warum bekommen wir nicht einmal einen eindeutigen Fall? So einen, bei dem einer mit dem Bügeleisen erschlagen wird und die Ehefrau es noch in der Hand hält, wenn wir kommen», brummte Kappe.

Landsberger lachte. «Für so etwas braucht aber niemand einen hochqualifizierten Fachmann wie dich.»

«Nein, im Ernst. Da liegt einer seit Tagen tot in seiner Bude, und es merkt keiner, zudem gibt es keine Spuren, und die paar dürftigen Hinweise, die wir haben, zeigen in alle Himmelsrichtungen. Da braucht es keine Fachleute, sondern eine Glaskugel.»

«Immer die Abkürzung nehmen, der Herr Kriminalkommissar.» Landsberger aß ein Stück von seinem Omelett, und nach kurzem Kauen fuhr er fort: «Die Situation hat auch ihre Vorteile.» Er legte die Gabel auf dem Tellerrand ab, hob die rechte Hand und zählte auf: «Wir haben erst einmal Feierabend. Und wenn wir in den nächsten Tagen keine Hinweise finden, erklären wir einen Unfall für wahrscheinlich, legen den Fall zu den Akten, und niemand wird uns Vorhaltungen machen.» Zwei Finger wiesen in die Höhe, als er ergänzte: «So einen Fall haben wir eigentlich viel zu selten. Findest du nicht auch?»

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22 aralık 2023
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9783955520458
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