Kitabı oku: «Rabengelächter», sayfa 3
Kapitel 8
„Hey, wenn dein Plan ist, unsichtbar zu sein, dann solltest du mal die Glühbirne abstellen.“ Ich riss meine Augen auf, als eine melodische, tiefe Männerstimme die plötzliche Stille durchbrach. Mir tanzten Sterne vor den Augen. Ich ignorierte die helfende Hand, die er mir hinhielt, rollte mich zur Seite und übergab mich. Bei meinem Versuch, mich hochzurappeln, griff er mir unter die Arme und stellte mich, als wäre ich leicht wie eine Feder, auf meine Füße.
Er musterte mich und ich ihn. Wäre mein Stolz nicht irgendwo auf der Strecke zwischen dem Bushäuschen und hier verloren gegangen, dann würde ich jetzt vor Scham im Boden versinken; je tiefer, desto besser. Er war ein Wow! Ich glaube, ich hatte noch nie so einen heißen Typen gesehen wie ihn (mit Ausnahme meines Vaters, doch der zählte nicht). Er war groß, breitschultrig und muskulös. Seine Haare waren schlohweiß, mit einzelnen goldenen Strähnen. Sie waren im Nacken zusammengebunden und seine ebenmäßigen Züge wirkten angespannt. Er kniff seine mandelförmigen, blauen Augen zusammen. Während er mich musterte, strich er gedankenverloren über ein am Gürtel befestigtes Schwert.
Ich wirbelte auf dem Absatz herum und rannte, oder stolperte eher, los. Im selben Moment riss er mich zu Boden, setzte sich rittlings auf mich und packte mit einer mühelosen Bewegung meine Fäuste, die somit ihr Ziel verfehlten. Ruhig blickte er auf mich herab, während ich mich vergeblich freizukämpfen versuchte. Mit einem amüsierten Lächeln auf seinen vollen Lippen beobachtete er mich und in diesem Moment wünschte ich diesen schönen Teufel in die Hölle zurück, aus der er gekommen war.
Als er gerade seinen Mund öffnete, um höchstwahrscheinlich etwas Beleidigendes zu sagen, zog ich kurzerhand meine Knie an und drückte mich mit aller Kraft hoch, gleichzeitig gleißte ein Licht wahnsinnig hell auf. Ich weiß nicht, ob ich es meinen nicht vorhandenen Kampfkünsten oder dem Licht verdankte, denn jetzt war der superheiße Typ dort und ich hier, aber er saß nicht mehr auf mir, was ich im Stillen leise bedauerte. Oje, als ich mich aufrappelte und einen Blick auf ihn erhaschte, sah er sauer aus, sehr sauer. Zwischen zusammengebissenen Zähnen, sich auf die Knie stützend, zischte er wütend: „Es reicht, jetzt reicht es!“ Dann zückte er das Schwert, das an seinem Gürtel hing, und rannte auf mich zu, während ich ihn einfach nur anstarrte. Irgendwie irritierte ihn das, denn er blieb schwer atmend stehen. Es hielt ihn aber leider nicht davon ab, mich an der Kehle zu packen und an den Baum zu drücken, das Schwert zuschlagbereit „Was bist du?“
„Mein Name ist Anouk, Anouk Nelson!“ Warum antwortete ich eigentlich? Der Griff wurde fester. „Ich fragte nicht, wer, sondern WAS du bist.“ Jetzt wurde ich sauer! Ich hielt nichts von Typen, die Mädchen wehtaten. Ich versuchte, mich zu befreien und ihm die größtmögliche Dosis an Schmerz zuzufügen. „Hast du keine Augen im Kopf, du nordischer Arsch? Ich bin eine verdammte Halbgöttin, deren Daddy dir den Hintern versohlen wird, wenn du sie nicht sofort runterlässt!“ Ja, so weit war es also schon gekommen! Ich drohte ihm mit meinem Pseudo-Gott-Vater und bezeichnete mich als Halbgöttin. Psychiatrie, wir kommen!
Die Rinde des Baumes riss meinen Parka auf, während der gut aussehende Brutalo mich langsam herunterließ und den Griff um meine Kehle lockerte. Ich nutzte die Gelegenheit und trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß, doch er schien es nicht einmal zu bemerken. Wieder betrachtete er mich kritisch von oben bis unten. „Halbgöttin, sagst du?“ „Ja, eventuell! Hast du ein Problem damit? Übrigens, du hast da einen Pickel.“ Ich deutete auf seine Schläfe. Ich hatte keine Angst, nicht vor ihm – wenn er mich hätte töten wollen, läge ich jetzt hier bestimmt mit einer Axt im Schädel.
Ich linste über seine Schulter, während er sich in das Gesicht fasste. Er schien völlig aus der Bahn geworfen zu sein. In dem sanften Licht konnte ich eine Gestalt ausmachen, die in einer merkwürdig zusammengekrümmten Haltung dalag. Ich machte mich klein, schlüpfte unter den Armen von Mr. Superkrieger durch und huschte, bevor er mich wieder packen konnte, zu der Gestalt. Entsetzt sah ich das Messer in der Brust des absolut hässlichsten Wesens unter der Sonne stecken. Entgeistert drehte ich mich wieder um und zeigte anklagend auf ihn. „Du hast Hugo umgebracht! Mit einem Scheißmesser!“ Ich wusste, dass ich ihm eigentlich dankbar hätte sein sollen, dass er mir das Leben gerettet hatte, trotzdem lag da ein totes Irgendwas. Nicht dessen Tod schockierte mich, sondern dass der Tod unmittelbar in meiner Gegenwart eingetreten war.
„Das ist kein Messer, das ist ein Dolch. Und es tut mir leid, wenn ich eurer kleines Versteckspiel unterbrochen habe; vielleicht wollte Hugo ja einfach nur Hallo sagen!“ Mir reichte es, und zwar gründlich! „Ich geh jetzt! Und wehe, du folgst mir!“ Wütend wollte ich mit dem letzten bisschen Würde, das mir geblieben war, an ihm vorbeistolzieren, als er schon wieder vor mir stand. „Oh, ich werde dir nicht folgen, denn du bleibst schön hier!“ Mein Versuch, in die andere Richtung davonzumarschieren, scheiterte kläglich, und so fand ich mich ihm gegenüber auf meinen vier Buchstaben sitzend wieder. Oh, wie ich es hasste, wenn man mich bevormundete! Anscheinend sah man mir mein Missfallen deutlich an, denn er hob beschwichtigend die Hände. „Ich will nur reden.“ „Vielleicht will ich aber nicht reden!“ „Wir werden sehen“, meinte er nachdenklich und strich über sein Messer oder seinen Dolch oder was auch immer.
„Ich heiße Espen.“ Er blickte mich hochmütig an, als wäre das etwas ganz Besonderes, und ich entschloss mich, mal wieder den Kulturtrampel zu spielen und prustete los. „Also wie das Espenlaub?“ Ich ahmte ein übertriebenes Zittern nach. Er schien das allerdings nicht so lustig zu finden und sagte mit geschwellter Brust: „Eher wie Herrscher, aber das kann eine zu groß geratene Lichtalbi wie du ja nicht wissen!“ Ich schaute ihn an. „Kumpel, wenn deine Beleidigung sitzen soll, dann musst du mir erst mal erklären, was eine Lichtalbi ist …“ Moment mal, hatte mein Vater nicht so was erwähnt? Auch egal, wie es aussah, überraschte ich diesen Typen immer wieder aufs Neue. „Du hast keine Ahnung, was ein Lichtalb ist?“ „Nein, und ich kann dir auch versichern, dass ich keiner bin! Ich bin einfach nur ich, mit komischen Eltern.“ Als ich auf meine Hände schaute, kickste ich erschrocken auf; jetzt wusste ich, woher das Licht kam. Ich leuchtete, und zwar heller und strahlender als jede Christbaumbeleuchtung. Entgeistert nahm ich eine Haarsträhne zwischen meine Finger und krempelte meine Hose hoch. Ich war eine lebendige Glühbirne und hatte es in meiner Panik die ganze Zeit nicht bemerkt.
„Ich unterbreche deinen Selbstfindungskurs ja nur ungern, aber wer, sagtest du, waren deine Eltern?“ Mir war sein lauernder Blick nicht entgangen, doch ich tat ihm den Gefallen und antwortete wahrheitsgemäß: „Mein Vater ist der festen Meinung, Odin zu sein, dieser Rabengott halt, und meine Mutter hat beschlossen, eine Lichtelfe, oder wie auch immer du sie nennen willst, zu sein.“ Als ich mein Hosenbein wieder in Ordnung gebracht hatte und aufblickte, schaute ich in sein verblüfftes Gesicht „Du bist Odins Tochter?“ „Ähm, ja, ist das etwa so schwer vorstellbar?“ Er stand auf und bot mir seine Hand an, die ich erneut ignorierte. Umständlich rappelte ich mich hoch. Er verdrehte die Augen. „Komm, wir bringen dich zu deinen Eltern.“
Der Ton, in dem er das sagte, duldete keinen Widerspruch, und da ich schon einige Male die Erfahrung hatte machen müssen, dass ich sowieso nicht abhauen konnte, fügte ich mich widerwillig und brummend. Während er nun so vor mir lief, hatte ich genug Zeit, ihn ausgiebig zu betrachten. Anscheinend war da, wo er herkam, der Wikingerlook angesagt, und ich musste zähneknirschend zugeben, dass diese Kriegermode echt verdammt gut aussah. Espen trug Oberkörper-, Arm- und Beinschützer, und zu meiner großen Verwunderung Jeans und Sneakers. Als hätte er meine Blicke gespürt, wandte er sich zu mir um. „Ach übrigens, das ist kein Pickel, das ist ein Muttermal.“ Sagte es, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.
Kapitel 9
Als ich nach einer Weile nicht mehr mit seinen langen Beinen mithalten konnte, blieb ich keuchend stehen. „Um Gottes willen, ich kann nicht mehr!“ Er drehte sich zu mir um. Sein Gesicht zeigte nichts als Verachtung. „Und du willst Odins Tochter sein?“ Seine Geringschätzung traf mich kein bisschen. „Sieht ganz so aus“, erwiderte ich lässig und ließ mich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt heruntergleiten. Espen stellte sich neben mich. Nach einer Weile setzte auch er sich zu mir. „Warum bist du hier draußen gewesen, Anouk?“ Es klang schön, wie er meinen Namen aussprach, das „k“ klang wie ein „g“. Ich zuckte mit den Schultern. „Wollte weg von meinen Eltern. Sie haben versucht, mir weiszumachen, dass ich eine Art Halbgöttin wäre. Tut mir leid, aber aus dem Alter bin ich raus.“
Wieder machte sich Schweigen zwischen uns breit, bis er schließlich meinte: „Das alles ist kein Scherz! Hast du nicht genug gesehen, um deinen Eltern Glauben zu schenken?“ Es stimmte, ich hatte viel gesehen, und ich fühlte mich immer unwohler. „Was war das da vorhin für ein Ding?“ Jetzt war er es, der mich einfach nur anschaute. „Du hast nicht den leisesten Schimmer vom nordischen Leben, oder?“ Ich musste grinsen. „Ach, so was Ähnliches habe ich heute schon mal gehört.“ Er schüttelte nur den Kopf. „Das war ein Ausgestoßener, er hätte gar nicht hier sein dürfen.“ Den letzten Satz sagte er mehr zu sich selbst als zu mir, und ich beschloss, jetzt nicht auch noch zu fragen, wer oder was dieser Ausgestoßene war, um nicht wie der letzte Idiot dazustehen.
Er nahm sich einen kleinen Zweig und fing an, damit im Boden herumzustochern. Ich beobachtete ihn mit halb geschlossenen Augen. Ein paar weiße und hellblonde Haarsträhnen hatten sich aus dem mit einem Lederband zusammengebundenen Pferdeschwanz gelöst und umspielten sein Kinn; seine vollen, geschwungenen Lippen waren aufeinandergepresst. Alles in seinem Gesicht hatte einen leichten Schwung: seine mandelförmigen blauen Augen, seine hohen Wangenknochen; nur seine gerade Nase bildete eine Ausnahme. Ohne aufzublicken, meinte er: „Jemanden unauffällig zu beobachten, kommt dir wohl nicht in den Sinn, was?“ Hoppla! „Bild dir bloß nichts drauf ein! Man wird ja wohl noch seine Schlüsse ziehen dürfen!“ Er schmunzelte. „Und die wären?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist arrogant, humorlos und nicht mein Typ.“ Na, wenn diese Lüge nicht zum Himmel schrie! Doch zu meinem großen Ärger fing er an zu lachen. „Na dann!“ Er beugte sich leicht vor. „Vielleicht kann ich dich ja noch vom Gegenteil überzeugen.“ War das gerade eine Anmache gewesen? Meine Wangen wurden heiß. „Viel Spaß dabei!“, murmelte ich, stand auf und marschierte davon. Erst als ich sein Gelächter hörte, merkte ich, dass ich in die falsche Richtung gelaufen war.
Meine Fußsohlen brannten, meine Beine spürte ich nicht mehr und mein Magen hing mir zwischen den Kniekehlen. Doch das Letzte, was ich tun würde, war, mir das anmerken zu lassen. Ich dackelte also brav, ohne das geringste Murren, hinter ihm her und genoss die Aussicht.
Doch mit jedem Schritt, mit dem wir uns meinen Eltern näherten, wurde mir das Herz schwerer; was eben noch wie ein wirrer Traum kurz vor dem Erwachen schien, war jetzt Realität geworden; mein Gehirn wusste und akzeptierte, dass das alles echt war, und dafür hasste ich es. Ich wollte nicht irgend so ein Mischwesen sein. Halbgöttin-Halbalb, das hatte schon was, aber nur solange man es nicht selbst war. Ich blickte da irgendwie nicht ganz durch und kam mir wie im falschen Film vor.
Espen war stehen geblieben und hielt mir einen Ast zurück, sodass dieser mich nicht streifen und meine Haut zerkratzen würde. Ich ging schweigend an ihm vorbei. Seinetwegen hatte ich meine nicht sehr erfolgreiche Flucht abbrechen müssen und musste nun wieder zurück nach Hause, da sollte er sich bloß nicht einbilden, dass er das wiedergutmachen konnte, indem er mir einmal einen Ast zurückhielt! Ich war schon gut drei Schritte weitergegangen, als seine Stimme das eisige Schweigen durchbrach: „Bist du zu allen so, die dir das Leben retten?“
Oh bitte, nicht doch! Was sollte jetzt diese Ich-bin-beleidigt-weil-du-nicht-Danke-gesagt-hast-Nummer? Ohne zurückzuschauen, meinte ich lakonisch: „Nur zu denen, die mich nicht um Erlaubnis gefragt haben.“ War ich schon immer so unhöflich gewesen?
Und da war es, mein Heim. Wir waren angekommen. Ich blieb stehen, atmete tief durch und wollte mir gar nicht vorstellen, was für ein Donnerwetter mich jetzt erwarten würde. Mit einem Blick auf die nachtschwarzen Raben, die nur durch das Aufblitzen ihrer Augen im Licht erkennbar waren (ja, ich leuchtete immer noch), murmelte ich leise: „Trautes Heim, Glück allein.“
Ungeduldigen Schrittes ging sie auf und ab. Ihre langen Gewänder strichen bei jeder Bewegung mit einem sanften Rascheln um ihre Beine. Nur das hielt sie davon ab, zu glauben, dass dies ein Albtraum war. Nie musste sie lange auf eine Auskunft warten, nie! Sie ging die Stufen zu ihrem metallenen Thron hinauf und ließ sich auf die gepolsterte Oberfläche fallen. Ein Kratzen an der hohen, morschen, modrigen Tür ließ sie jedoch wieder aufspringen. Mit einem hastigen Wink ihrer Hand schwangen die beiden Türflügel auf. Durch den Luftzug drang der Geruch von Schwefel und säuerlich riechender Verwesung herein. In dem Schatten des Türrahmens erfassten ihre scharfen Augen eine kleine, zusammengekrümmte Gestalt, auf die sie nun zueilte. Als befürchtete die Gestalt, geschlagen zu werden, hob sie ihre Arme schützend vor das Gesicht. Doch sie hatte andere Absichten. Sie packte die Gestalt, den von ihr ausgehenden Gestank nicht beachtend, an den Schultern und zerrte sie in einen helleren Teil des gewaltigen Saales. Sie blickte auf das unschöne Gesicht ihres Gegenübers. In dem gedämpften Licht konnte man das vermodernde Fleisch und die blanken Knochen aufblitzen sehen.
„Berichte!“, forderte sie ihn rüde auf. Doch er gestikulierte nur stöhnend mit den Händen, kein Wort kam über seine eingefallenen Lippen. Das brauchte es auch nicht. Sie verstand auch so. Die Ihren hatten versagt. Und wie immer war es der Botschafter, den der Zorn der Mächtigen traf. Mit einem beinahe gleichgültigen, wenn nicht kalten Blick sah sie dem Torso beim Ausbluten zu und trat den abgerissenen Kopf beiseite. Dann wischte sie sich eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Dabei kratzten die Fingernägel über ihre Wange und hinterließen einen kleinen, feinen Schnitt. Ein dünnes Blutrinnsal floss ihren Finger entlang, und während sie zusah, wie sich das Blut an ihrer Fingerspitze sammelte, wich der angespannte Gesichtsausdruck einem feinen Lächeln. Was tat der Frieden, wenn es Krieg gab? Er starb. Und Anouk würde es ihm gleichtun, sie würde sterben.
Der Blutstropfen fiel herab.
Kapitel 10
Mein „Vater“ hüllte sich in demonstratives Schweigen und meine Mutter weinte, was mir alles hätte passieren können und dass ich jetzt tot sein könnte. Im Nachhinein tat es mir leid, einfach so mir nichts, dir nichts verschwunden zu sein, ohne Auf Wiedersehen gesagt zu haben, doch als mein Vater mich darauf ansprach, schaute ich ihm, dem Menschen/Gott, der nie für mich da gewesen war, in die Augen und meinte: „Das nächste Mal werde ich Tschüss sagen.“
Ich drehte mich um und ging die Treppen ins Bad hoch, knallte die Tür zu und setzte mich mit einem tauben Gefühl auf den Boden. Ich zog meine Beine an und legte mein Kinn auf meine Knie. Ich war so wütend! Da la, mein Vater, ein ach so toller Gott, der es sechzehn Jahre nicht für nötig gehalten hatte, ein Lebenszeichen von sich zu geben, einfach so zu uns, stellte mein Leben auf den Kopf und erwartete dann auch noch, dass ich ihm jubelnd um den Hals fiel! Ich stand auf und drehte mich zum Spiegel herum. Oh mein Gott! War das ich?! Meine Haare quollen unter meiner Mütze hervor und hatten den halben Wald mitgenommen. Der Dreck in meinem Gesicht kam einer Kriegsbemalung gleich und durch das vermaledeite Leuchten sah ich aus wie eine dreckige Glühbirne. Ich zog meine schmutzigen Klamotten aus und duschte. Als ich mich endlich von dem ganzen Schmutz befreit fühlte, wickelte ich mich in ein übergroßes Handtuch ein und widmete mich meinen Haaren.
Meine Haare nass und entknotet, das Handtuch immer noch um mich gewickelt, drückte ich die Klinke der Badezimmertür herunter und stieß direkt mit diesem Espen zusammen, der sich wie ein Türsteher vor mir aufgebaut hatte. „Was machst denn du hier?“, fragte er. Die bessere Frage wäre wohl gewesen, was er immer noch hier machte. Hinter ihm tauchte Odin auf. „Espen ist ein angesehener Schüler der Halvarschule, und er ist mein persönlicher Schüler“, Odin klopfte ihm mit väterlichem Stolz auf die Schulter. Ein kurzer Stich der Eifersucht durchzuckte mich. „Er wird dein Mentor sein, also habe ein bisschen mehr Respekt vor ihm. Er ist auf meinen Befehl hier, um sicherzugehen, dass du nicht noch mehr unüberlegte Dinge tust.“ Unüberlegte Dinge? Ich?
Espen lächelte mich nur herablassend an und zog eine Augenbraue hoch. „Aber ich denke, in diesem Aufzug würdest selbst du nicht einen erneuten Fluchtversuch wagen.“ Mit brennenden Wangen wurde mir bewusst, dass ich nur in einem Handtuch eingewickelt vor meinem fremden Vater und einem gut aussehenden Krieger stand. Ich warf meine Haare über die Schulter und rauschte mit einem „Seid euch da mal nicht so sicher!“ und einem gemurmelten „Spanner!“ in mein Zimmer.
Als die Tür mit einem befriedigenden Knall hinter mir zufiel, setzte ich mich auf mein Bett und stellte mir, um den Überblick zu behalten, eine Personen- und Sachverhaltsliste auf. Also: Mein Vater, er war gut aussehend. Das war’s dann aber auch schon bei „positive Eigenschaften“, wenn man „Hauptgott“ nicht dazuzählte. Er wollte mich auf diese Schule schicken, auf der seltsame Kinder wie ich das ABC lernten, nur war ich anscheinend noch seltsamer als die anderen, da meine Mutter und er ja „Romeo und Julia“ hatten spielen müssen. Kommen wir zu meiner Mutter: Soweit ich bis jetzt wusste, war sie eine Lichtalbi/Elfe und hatte mir freundlicherweise das Tausend-Watt-Leuchten weitervererbt (wie konnte man das nur ausstellen?). Sie stand natürlich ganz und gar hinter der Entscheidung meines göttlichen Vaters, wie das nach sechzehn Jahren Trennung eben so ist. So weit, so gut. Espen hatte mir das Leben gerettet und sich nach ein paar Stunden Bekanntschaft schon vor meiner Badezimmertür positioniert. Nicht zu vergessen: Er war so schön, machohaft, herablassend und verwirrend, dass es fast schon wehtat. Und dann war da noch ich. Alles hatte sich verändert, trotzdem hieß ich weiterhin Anouk Nelson, und war so blass, dass ich eher einem Vampir als einem gebräunten Gott ähnelte. (Wer weiß, vielleicht war Dracula ja mein Onkel?) Ich war eine Halbgöttin-Halbelfe (das konnte doch alles nicht wahr sein!!!) und hatte nicht den blassesten Schimmer, was das alles hier bedeuten sollte. Ich wurde vor ein paar Stunden von einer potthässlichen Kreatur angegriffen und verfolgt, und wenn ich ehrlich war, herrschte in meinem Kopf so ein Durcheinander, dass mir das komplett egal war.
Ich musste, ob ich wollte oder nicht, auf diese Schule und Espen sollte mein Mentor sein. Das konnte ja heiter werden, aber wer weiß, vielleicht war er ja gar nicht so übel, wie ich dachte. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich hatte Angst. Angst, wie ich mich in dieser Schule für Abnormale einfinden sollte. Ich war noch nie auf einem Internat gewesen und es war immer schwer für mich gewesen, Anschluss zu finden. Ich konnte mit Gleichaltrigen und ihrem komischen Verhalten einfach nichts anfangen. Die meisten sechzehnjährigen Mädchen waren albern und selbstverliebt und vertuschten hinter ihrem Beste-Freundinnen-Getue nur ihren Hass und ihren Neid und sprachen eine andere Sprache. In dieser hieß: „Hi, der neue Look steht dir, kauf dir mehr von diesen Sachen!“ so viel wie: „Oh mein Gott, das sieht so hässlich aus, aber lass das an, dann habe ich die besseren Chancen bei den Jungs!“ Und mit männlichen Wesen im Alter von sechzehn Jahren abzuhängen, war einfach nur lästig, da ich es bevorzugte, dass man mir bei einem Gespräch in die Augen schaute. Prinzipiell zählte ich mich eher zu den Menschen, die andere Menschen hassten und es auch bei jeder Gelegenheit betonten. Ich war jemand, der sich in der Regel allein wohler fühlte als mit anderen. Wie sollte ich das dort alles nur schaffen? Was lernte man denn an so einer Schule? Ich wollte später studieren, aber nicht Nordische Kultur, sondern Biochemie (urteilt nicht zu hart über mich).
Ich stand auf und suchte mir Anziehsachen heraus. Zugegeben, nicht ganz so schlicht wie sonst, ich musste schließlich klarstellen, dass dreckige und zerrissene Kleider nicht mein Markenzeichen waren. Also zog ich einen grünen Pullover mit Paillettenstickereien an, der gut mit meinem braunen Haar harmonierte. Die Hose blieb aber wie üblich schwarz und mein Schmuck beschränkte sich auf eine flache, bronzefarbene Armbanduhr, die größer als mein Handgelenk war, und zwei rotgoldene Ohrringe, die meine Mutter in kleine Schnörkel geschmiedet hatte. Ich tupfte mein nasses, schweres Haar ab und sah zufrieden in dem Schrankspiegel, wie dieses wie ein glatter, leicht welliger Vorhang über meine Hüfte fiel. Ich ließ das Handtuch auf meinem Bett liegen und öffnete meine Zimmertür. Davor stand kein Espen mehr. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Auf dem letzten Treppenabsatz angekommen, hörte ich die leisen Stimmen von meiner Mutter, Odin und Espen. Angestrengt lauschend, blieb ich stehen und hörte das tiefe Brummen meines Vaters: „Wir müssen sie so schnell wie möglich in die Halvarschule bringen, dort ist sie so sicher wie sonst nirgendwo. Selbst Walhalla ist zurzeit nicht so gut geschützt wie diese Schule.“ Schweigen. „Espen, kann ich mich darauf verlassen, dass du sie nicht aus den Augen lassen wirst?“
„Natürlich, Odin, das steht außer Frage.“
„Und pass auch im Hinblick auf ihre Mitschüler auf; viele werden ihr gegenüber feindlich gesinnt sein.“
„Ich werde sie nicht aus den Augen lassen!“
„Und denk dran, sie darf auf gar keinen Fall in eine romantische Beziehung verwickelt werden, das würde ihren Starrsinn nur noch weiter bestärken!“
„Mach dir keine Sorgen, das ist ja dann auch in meinem Interesse.“
Nun schaltete sich auch meine Mutter ein. „Unterstehe dich, Odin, dich in die Zukunft meiner Tochter einzumischen! Du wirst in meinem Haus nicht über dieses Thema reden!“ Verwirrt setzte ich mich leise, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, hin. Was meinte mein Vater damit, dass ich keine romantischen Beziehungen haben dürfe? Glaubte er ernsthaft, dass ich mich an seine Sittenverbote halten würde? Und was meinte Espen damit, dass dies auch in seinem Interesse sei? Doch ich konnte nicht länger darüber nachdenken, die Diskussion in der Küche wurde fortgesetzt.
„Hast du schon irgendeinen Hinweis, warum ein Ausgestoßener hinter Anouk her war, Espen?“
„Nein, aber ich vermute, dass Hel ihn geschickt hat.“
„Warum sollte die Totengöttin meine Tochter behelligen?“
„Vielleicht weiß sie etwas, was Anouk in ihren Augen für sie wertvoll macht und ihr dazu verhelfen würde, ihre Macht zurückzugewinnen, nachdem sie letztes Jahr in die Verbannung geschickt worden ist.“ Seine Vermutung klang jedoch eher wie eine Frage. „Odin, du weißt, dass Hel nicht die Einzige sein wird, die Anouk für ihre Interessen missbrauchen würde. Da draußen sind viele Kreaturen, die sie einfach nur töten möchten, weil sie in ihren Augen ein Fehler der Natur ist. Selbst wir, ihre Eltern, wissen nicht, wie mächtig sie tatsächlich ist. Wahrscheinlich ist sie sogar mächtiger als alle Götter zusammen, du eingeschlossen. Das macht mir Angst.“
Meiner Mutter machten diese Mutmaßungen Angst, mich bauten sie auf. Ich meine, wer hört nicht gerne, dass er sehr, sehr mächtig ist? Ich war also nicht nur irgendetwas Verbotenes, Schlechtes, sondern ich konnte auch etwas (außer zu leuchten, was mittlerweile schon wieder aufgehört hatte).
Schließlich, als es auf der Treppe zu ungemütlich geworden war, stand ich auf und ging mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck, den ich draufhatte, in die Küche. Diese wirkte mit meinem Vater, Espen und meiner Mutter darin viel kleiner als sonst; man bekam fast den Eindruck, den Kopf einziehen zu müssen. Espen stützte sich mit beiden Armen auf den Esstisch, mein Vater stand mit dem Rücken zu mir und meine Mutter thronte in einem Armstuhl. Die Raumbeleuchtung war hell und tauchte alles in ein gleißendes Licht, von den Haaren über das Gesicht und den ganzen Körper.
Das weiße Licht ummantelte sie und leuchtete bereits ein paar Zentimeter vor ihrer Haut. Beim Betreten des Raumes wäre ich um ein Haar über eine ganze Waffenansammlung gestolpert, allem Anschein nach „Anhängsel“ von Espen und meinem Vater. Den Kopf über diese ganzen Schwerter, Äxte und Messer/Dolche schüttelnd, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen, schlug meine Beine übereinander und grinste Espen an, der mich einfach nur schweigend und mit großen Augen anstarrte. Tja, Pessimisten können nur positiv überrascht werden. Urteile nie nach dem Äußeren. Aus alt mach neu. Und so weiter und so fort. Jedenfalls hatte ich es geschafft, dass es dem Wunderknaben die Sprache verschlug.
„Seid ihr fertig mit eurer Kriegsberatung, oder soll ich noch mal für ein paar Minuten im Wald spazieren gehen?“ Immer schön noch einen draufsetzen, das war meine Spezialität. Während Espen sich sammelte, übernahm meine Mutter das Wort und kam somit Odin zuvor.
„Nein, das ist nicht nötig, aber schön, dass du es zur Sprache bringst“, sagte sie mit schneidender Stimme, „denn wir reden gerade noch darüber! Wir alle hier haben über deine derzeitige Lage beraten und – ich hoffe, du verstehst das – sind zu dem Entschluss gekommen, dass du auf die Halvarschule gehen wirst, weil es dort einfach sicherer als hier für dich ist.“ Bei den letzten Worten schaffte sie es sogar noch zu lächeln, das nenne ich jetzt mal niederträchtig!
Ich spürte, wie sich erneut der Zorn in mir hochkämpfte, sich meinen Hals hochfraß und sich auszudehnen begann, bis mir schließlich der Kragen platzte. Das immer heller werdende Leuchten im Raum, das die anderen dazu brachte, die Augen zusammenzukneifen, registrierte ich in meinem beginnenden Wutrausch gar nicht. Auch nicht, dass alle Gläser auf dem Tisch und in den Schränken gefährlich zu wackeln und zu klirren anfingen.
„WIR werden uns über überhaupt nichts unterhalten, wenn du mich auf diese Schule verfrachtest! Ich verstehe nichts, nada! Warum wollt ihr mich in diese Freakshow stecken? Aber keiner hält es ja für nötig, mir in knappen Worten zu sagen, warum ich von einer lebendigen Leiche gejagt werde und diese Hel mich für nützlich hält. Oder was das alles“, ich deutete auf uns, „zu bedeuten hat!“
Mein Vater war herangetreten. Mit einem strengen Gesichtsausdruck unterbrach er mich. „Ano –“
Ich tat es ihm gleich. Schließlich war er mein Vorbild, oder? Ich machte also einen Schritt auf ihn zu, sodass wir Nase an Nase (oder eher Brust an Nase) dastanden, und funkelte ihn an. „So nennen mich nur Menschen, die ich kenne! Von daher bin ich für dich Anouk! Und wer, glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du einfach mal so nach sechzehn Jahren aufkreuzen und in meinem Leben herumwirtschaften kannst?“
Er öffnete den Mund, doch ich hob die Hand und lachte freudlos.
„Sag jetzt nicht ‚Ich bin dein Vater‘, denn das bist du nur rein biologisch gesehen, und bilde dir bloß nichts auf dein Hauptgott-Getue ein, denn weißt du, wie sehr mich das beeindruckt? Nicht im Geringsten!“
Wer dachte, dass ich jetzt fertig war, der irrte. Ich hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Und das gespielte Gähnen von Espen war taktisch mehr als unklug. Ich wirbelte zu ihm herum und richtete meinen ganzen Zorn auf ihn. Was dachte dieser hirnlose Schönling eigentlich, wer er war, und wie kam er dazu, sich einzubilden, mit über meine Zukunft entscheiden zu können? Ich spürte, wie die Wut in mir immer stärker zu brodeln begann und mein eigentliches Ich von einem zerstörerischen Mantel der Brutalität überdeckt wurde. Die Wut kroch in meine Knochen, sie kroch in meine Zähne, sie kroch überallhin, sodass es regelrecht wehtat. Und bevor Espen wusste, wie ihm geschah, rutschte ein Stuhl, ohne dass ihn einer angefasst hatte, in ihn hinein und zwang ihn mit einem schmerzerfüllten Aufkeuchen zum Hinsetzen. Eine Sekunde später löste sich mit einem Scheppern ein Dolch aus dem Waffenhaufen, schwebte, wie von Geisterhand, in der Luft durch den Raum und blieb an seiner Kehle hängen.
Die Zeit schien stillzustehen. Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich schaute in Espens vor Überraschung aufgerissenen Augen. Meine schwindende Wut wich der Verblüffung. Ich taumelte einen Schritt zurück und augenblicklich fiel der Dolch wie ein toter Gegenstand auf seinen Schoß. Ohne mich aus den Augen zu lassen, fasste Espen sich an den Hals, nahm die Waffe und warf sie zu den anderen, wo sie scheppernd niederging. Ich starrte nach vorn, meinen Blick auf nichts und niemanden fixiert, und fragte, ohne meine Worte an irgendjemand Bestimmten im Raum zu richten: „Was war das denn gerade eben?!“ Doch ich fürchtete, die Antwort darauf schon zu kennen, und wieder war es mein Vater, der meine Ahnung bestätigte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück, legte den Kopf leicht schief und kniff die Augen zusammen, so als hätte er mich noch nie gesehen. „Das“, er schüttelte ungläubig den Kopf, „warst du.“ Halt suchend griff ich hinter mich und zog einen Stuhl heran, um mich darauf fallen zu lassen. „Aber … wie?“ Ich stützte meine Ellenbogen auf dem Tisch ab und krallte meine Finger in meine gelockten Haare, die inzwischen wieder vollkommen trocken waren.