Kitabı oku: «Rabengelächter», sayfa 4
Espen, der sich inzwischen wieder gefasst hatte, lehnte sich vor. „Wir wissen es nicht mit Sicherheit, aber das hast du vorhin wahrscheinlich auch mitbekommen, nicht wahr?“
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Woher wusste …? – Oh verflucht, in meiner Tirade hatte ich wohl irgendwas von Hel gefaselt. Toll gemacht, Anouk, eins a, Spitzenklasse! Bevor ich nun knallrote Wangen bekommen würde (und diesen Triumph wollte ich Espen definitiv nicht gönnen!), machte ich eine wegwerfende Handbewegung. „Du solltest mal lernen, nicht in hundertzehn Dezibel Lautstärke zu flüstern!“ Da er nichts zu erwidern wusste, erntete ich nur einen finsteren Blick, den ich mit einem Lächeln quittierte. Mein Vater drehte sich zu mir um und hatte auf einmal so einen finsteren Gesichtsausdruck aufgesetzt, dass ich am liebsten meinen Kopf eingezogen hätte.
„Wir reisen ab!“
Bevor ich irgendwelche Einsprüche erheben konnte, dröhnte seine Stimme mit einer Autorität durch unser Haus, wie ich es noch nie zuvor vernommen hatte.
„JETZT!“
Fassungslos drehte ich mich zu meiner Mutter um und flehte sie mit Blicken an, dass sie sich für mich einsetzen möge. Sie half mir nicht. Ich fühlte mich völlig hilflos. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Sachen zu nehmen und durch die Haustür zu gehen, mein Vater rechts, Espen links neben mir. Ich verstand nicht, warum das alles hier veranstaltet wurde. Ich wusste nichts über mich. Ich wusste nur, dass mein neuer Vater mich in ein neues Leben bringen wollte, und ich versuchte mich mit aller Macht dagegen zu wehren. Ich wollte es nicht. Das neue Leben machte mir Angst, und dass meine Mitschüler eine Gefahr für mich sein könnten, beruhigte mich auch nicht gerade.
Wir kamen inmitten der Raben zum Stehen. Mein Vater zückte eine Art Schwert, das er in den Boden rammte und dabei „Halvar“ murmelte. In die Raben kam auf einmal Bewegung, als meine Mutter mich am Arm fasste und mir in die Augen schaute. „Ich liebe dich und auch dein Vater tut das! Gib ihm die Möglichkeit, es dir zu zeigen!“
Mittlerweile hatten die schwarzen Vögel einen großen Kreis um uns herum gebildet und schlugen wild mit den Flügeln. Auf einmal schnürte sich meine Kehle zu und ich zwang mich zu sagen: „Ich hab dich auch lieb, Mom!“
Ich hatte Angst, sie zu verlassen. Wann würde ich sie wiedersehen? Sie nahm mich in den Arm, als plötzlich eine heftige Windböe aufkam und an mir zerrte, wie eine große, starke, unbarmherzige Hand. Die Windböe zog mich immer weiter in den Kreis der Raben hinein und meine Mutter weg von mir. Als mir ihre Hände entglitten, hörte ich sie noch rufen: „Und kämpfe, Anouk, kämpfe, wenn nötig gegen dein Schicksal!“ Als ich wieder auf dem Boden auftraf, sah ich die pechschwarzen Tiere in einer großen Spirale, uns mitreißend, in den tiefen Himmel fliegen, vorbei am großen, weißen Mond. Das Letzte, was ich durch das Rauschen Dutzender Flügel hörte, war das Gelächter der Raben.
Kapitel 11
Es roch nach altem Gemäuer und nach Holz. Leise Stimmen drangen an mein Ohr. Ich drehte meinen Kopf in Richtung der Geräusche und nieste, als mich irgendetwas an der Nase kitzelte. Die Stimmen wurden lauter. Ich war so unendlich müde. Nicht einmal die Frage, wo ich mich befand, kam mir in den Sinn, während ich wieder wegdämmerte. Schweißgebadet wachte ich aus meinen Träumen auf und vermochte nicht länger liegen zu bleiben. Ich hatte von Raben und leichenähnlichen Kreaturen geträumt, die mich verfolgten. Von meiner inneren Unruhe angetrieben, setzte ich mich auf und schaute mich in dem sanft beleuchteten Raum um. Es war ein kleines Zimmer mit hohen Wänden und nur einem Bett, auf dem ich gerade saß, und einem robusten Eichentisch.
Die Wände waren aus großen, grauen, quaderförmigen Steinen und durch ein großes Buntglasfenster fiel gedämpftes Licht herein. An der Wand waren mittelalterliche Fackeln befestigt, die noch leise vor sich hin glühten. Statt einer Tür diente ein großer Bogen als Durchgang, hinter dem ich einen weiten Gang mit lauter leeren Betten erblickte. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und griff nach einem Bettpfosten, als der Schwindel mich zu überwältigen drohte. Ich war noch genau so angezogen, wie ich von zu Hause weggebracht worden war. Nur meine Schuhe standen rechts neben dem Eingangsbogen. Zu Hause. Ich biss die Zähne zusammen, um das aufsteigende Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken, und verdrängte den Gedanken an meine Mutter.
Ich schlurfte zu meinen Schuhen, zog sie an und zögerte, als ich auf den Gang schaute, der in lauter Zimmer unterteilt war. Sollte ich warten, ob jemand kam, oder den fremden Ort auf eigene Faust erkunden? Ich zuckte mit den Schultern. Wenn mein Vater mir schon die Möglichkeit gab, auf waghalsige Entdeckungstour zu gehen, dann sollte ich diese Möglichkeit auch nutzen, oder nicht?
Jedes Zimmer in diesem Gang war identisch eingerichtet. Als ich am Ende des Ganges angekommen war, stieß ich auf eine große, mit Schnitzereien verzierte Flügeltür, hinter der sich eine lichtdurchflutete Halle befand. Neugierig stellte ich mich in die Mitte dieser Halle und blickte mich um. Auch hier waren die Wände aus diesen großen Steinen, die mich an eine Burg erinnerten. Doch eine Wand wurde komplett durch ein Glasmosaik ersetzt, sodass es mir den Atem verschlug. Es war so fein und präzise gearbeitet wie das Bild eines großen Künstlers. Ich trat einen Schritt zurück, um es besser betrachten zu können. Im Vordergrund waren leuchtende Frauen abgebildet. Einige von ihnen saßen auf dem Rücken eines grasenden Hirsches, andere auf den Ästen eines Apfelbaumes. Hinter ihnen war eine üppige grüne Landschaft mit vereinzelten Bäumen abgebildet.
Vor dem riesigen Fenster stand ein langer Tisch, auf dem allerlei Grünzeug lag, von dem ein würziger Geruch von Kräutern herüberzog. Interessiert ging ich zu einem großen Regal neben der gegenüberliegenden Tür, das sich über die ganze Wand erstreckte. Tausende kleine Fläschchen mit merkwürdig aussehenden Substanzen waren darauf aufgereiht. Ich kniff die Augen zusammen und beugte mich leicht vor, um den Inhalt eines Glases besser begutachten zu können. Waren das Insektenflügel? Hätte ich die Schriftzeichen auf den Etiketts, die auf jedem Fläschchen aufgeklebt waren, lesen können, hätte ich mir diese Frage wahrscheinlich selbst beantworten können. Anscheinend war das hier so eine Art Krankenabteilung.
Ich verließ den Saal und huschte durch einen großen, dunklen, gotischen Bogengang. Es gab keine Fenster, ich musste also mitten in diesem Gebäude sein. Die Fackeln warfen unheimliche Schatten und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es war, in der Nacht hier durchzulaufen. Umso erleichterter war ich, als endlich von irgendwoher ein wenig Licht eindrang. Am Ende des Ganges angekommen, bog ich links ab und kam vor einem prächtigen Treppenaufgang zum Stehen. Die Haupttreppe, aus weißem Stein, wurde nach unten hin immer breiter; auf dem Ende des geschwungenen Marmorgeländers saßen die Statuen zweier Wölfe, der eine den Kopf nach links, der andere den Kopf nach rechts gedreht. Was war das hier? Ein Luxusschloss der Extraklasse? Der Raum verlief kuppelförmig nach oben mit eingelassenen Glaselementen, die schöner nicht hätten gefertigt werden können. Es war eine riesige Eingangshalle, in die unser Haus bestimmt zehnmal in Höhe und Breite gepasst hätte.
Ich trat einen Schritt vor. Rechts und links von mir teilte sich die beeindruckende Treppe und ging in zwei kleineren, aber nicht weniger schönen und detailverliebten Treppen hinauf in weitere Gänge. An den Wänden der Halle rankte marmorner Efeu. Ergriffen von der Schönheit dieses Ortes, strich ich behutsam über ein naturgetreues Blatt und schaute mich weiter um. Äste, auch aus Stein, ragten aus den Wänden, worauf sich kleine Vögel aus Kristallen tummelten, die das Licht in all seine Farben brachen.
Ich ging die mit Steinmetzarbeit verzierte Treppe hinunter, in die Mitte der Halle, in der sich ein kleiner Brunnen in Form einer Muschel befand. Um ihn herum war eine runde Bank aufgestellt, auf die ich mich, den Blick staunend auf meine paradiesische Umgebung gerichtet, sinken ließ. Ich schwang meine Beine auf die andere Seite der Bank und betrachtete fasziniert die unterschiedlich großen Glaskugeln in dem Brunnen, die auf kleinen, goldenen Sockeln thronten. Das Paradoxe daran war, dass in ihnen jeweils ein kleiner Fisch seine Kreise schwamm.
Ich verlor mich in dem Geplätscher des Brunnens und hörte somit nicht, dass noch jemand im Raum war … bis meine Träumereien von einem Räuspern und einer Hand auf meiner Schulter unterbrochen wurden. Ich zuckte zusammen, sprang auf und stand Auge in Auge einem genauso erschrocken aussehenden Jungen gegenüber. Das Erste, was mir auffiel, war, dass er normal gekleidet war; na ja, fast. Er hatte eine Jeans und ein blaues TShirt an; das einzig nicht Normale waren das Schwert an seiner Hüfte und der Bogen, den er in seiner Hand hielt.
Er fand als Erster seine Sprache wieder, was auch gut war, denn außer Gestotter hätte ich nichts herausbekommen. Sahen etwa alle nordischen Krieger aus wie Götter?
„Hi, tut mir leid“, er fasste sich an den Nacken, „es war nicht meine Absicht, dich so zu erschrecken, aber ich wollte fragen, ob ich mich zu dir setzen darf.“ Er deutete auf die Bank. Ich nickte. Warum war ich nur so verdammt schüchtern? Ich kam nur aus meinem Schneckenhaus heraus, wenn ich wütend war, so ungefähr wie Hulk, nur ohne die coolen special effects. Er lehnte seinen Bogen an die Bank und hielt mir zu meiner Überraschung seine Hand hin. Als ich sie nehmen wollte, lachte er – ein Geräusch, das durch meinen ganzen Körper hindurchfloss. „Du bist noch nicht lange an der Halvarschule, oder?“ Ich biss mir auf die Unterlippe. „Nein, aber dank dir weiß ich jetzt wenigstens, wo ich bin.“ Diese Frage hatte sich jetzt also schon mal geklärt. Er legte den Kopf schief und eine Strähne seines dichten, schwarzen, gewellten Haars rutschte ihm ins Gesicht. Schneewittchen in männlicher Version. Seine Lippen waren voll und leicht geschwungen, seine Nase gerade und seine hohen Wangenknochen ließen seine grünen Augen wie Sterne erscheinen.
Du bist auf einer Eliteschule der nordischen Gesellschaft und wusstest es nicht?“ Seine Stimme war die pure Verblüffung. Ich schob die Hände in meine Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. „Oder wollte es einfach nicht wahrhaben.“ Er lachte. „Ich bin seit meinem zehnten Lebensjahr in den verschiedensten Trainingslagern und wollte es ebenfalls nicht wahrhaben, nun auf eine Schule gehen zu müssen, wo es nicht nur um Töten geht und man auch Unterricht wie die Menschen hat.“
Töten? Ich strich mir eine lange Locke zurück. „Ich glaube, dass es bei mir ein wenig anders war.“ Er schaute mich fragend an. „Das musst du mir jetzt aber erklären. Übrigens, mein Name ist Runeas.“ Wieder hielt er mir seine Hand hin. Ich runzelte die Stirn. „Ich könnte jetzt alle möglichen Wege ausprobieren, wie dieses Begrüßungsritual der Nordis funktioniert, oder du sagst es mir einfach.“ Er lachte erneut, es war ein unbeschwertes Lachen. „Weißt du überhaupt irgendetwas über die nordische Kultur?“ Mit gespielter Nachdenklichkeit griff ich mir ans Kinn. „Hm, lass mal sehen … Nein, da muss ich dich enttäuschen, nur dass ich diesen Satz „Weißt du überhaupt irgendetwas über die nordische Kultur?“ in den letzten vierundzwanzig Stunden schon zum dritten Mal höre.“ Runeas grinste „Na, dann werde ich mal zu deiner Bildung beitragen, namenloses Mädchen!“
Hatte ich versäumt, meinen Namen zu sagen? Hoppla. „Ich heiße Anouk.“ Er nickte. „Dein Name bedeutet die Friedliche … Aber nun zurück zu dem überaus komplizierten Begrüßungsritual der sogenannten ‚Nordis‘. Schritt Nummer eins“, er ließ seine angenehm tiefe und rauchig klingende Stimme noch dunkler klingen und atmete scharf ein, als würde das nun Folgende das Spannendste überhaupt sein, und brachte mich somit zum Kichern, „man strecke eine Hand aus, tue es mir nach, junge Dame! Und der alles entscheidende Schritt Nummer zwei“, er zog seine Sprechpause dramatisch in die Länge und ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht wieder loszukichern, „man schlägt ein und hält die Hand seines Gegenübers kurz fest!“ Seine Stimme klang jetzt wieder normal tief und rauchig.
Als sich unsere Hände berührten, trafen sich auch unsere Blicke und blieben aneinander hängen. Er hatte verschieden grüne Augen; das eine war ein helles Mintgrün, das andere ein dunkles Moosgrün. Normalerweise mied ich es, Menschen in die Augen zu schauen, doch bei Runeas konnte ich einfach nicht anders. Schließlich wurde ich unter seinem intensiven Blick nervös und entzog ihm meine Hand, während ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr steckte. Nachdem dieser betörende Moment abgeebbt war, tat ich es Runeas gleich und setzte mich.
„Also Anouk, inwiefern waren deine Umstände, auf Halvar zu kommen, anders?“ Ich hatte nicht das Gefühl, ihm etwas verschweigen zu müssen, und so fing ich an, draufloszuerzählen. „Ich bin angeblich eine Halbgöttin, so wie anscheinend die meisten hier.“ Ich schaute ihn kurz an und er nickte zustimmend. „Ja, ich bin der Sohn irgendeiner unbedeutenden Waldgöttin.“ Ich nickte verständnisvoll, obwohl ich keine Ahnung hatte, was eine Waldgöttin war. „Mein Vater ist nach sechzehn Jahren des Schweigens bei meiner Mutter und mir aufgekreuzt und hat was von Gefahr und Bedrohung gefaselt. Du musst dir mal vorstellen, ich hatte mein ganzes Leben lang geglaubt, dass ich ein Mensch wäre, und jetzt …“, ich schüttelte den Kopf, „… ist die Rede von nordischen Göttern, Lichtalbi hier, Odin da, und ich soll verstehen, dass ich auf eine Schule gehen soll in einer wahrscheinlich auch noch anderen Welt …“ Ich hielt inne. Dieser Gedanke war mir gerade eben erst gekommen: War das hier überhaupt noch meine Welt? Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich fuhr eilig fort, um nicht mit diesem aberwitzigen Gedanken herauszuplatzen „… in einer völlig anderen Kultur. Ich sollte sofort meine Sachen packen und brav mitkommen, aber das Letzte, was ich in jenem Moment wollte, war, mit meinem völlig gestörten Vater und seinem Federvieh mitzukommen, da bin ich einfach abgehauen und durch den Wald zu einer Bushaltestelle getürmt, wo ich von einem Ausgestoßenen oder so was überfallen wurde.“
Ich redete immer schneller, ohne Luft zu holen und auf die Details in meiner Erzählung zu achten. Die Wörter sprudelten einfach nur so aus mir heraus, wie ein Wasserfall, und ich ließ ihnen freien Lauf. Runeas’ Gesichtsausdruck, der immer verwirrter wurde, ignorierte ich beflissentlich. „Ich bin dann wieder zurück in den Wald gerannt und hab versucht, mich zu verstecken, was leuchtend aber gar nicht so einfach ist, ich meine, hallo, im dunklen Wald, leuchtend wie eine Glühbirne, keine Chance, aber dann kam Espen, dieser arrogante Idiot, und hat mir das Leben gerettet, mich dann kurz gegeißelt, bis ihm klar wurde, dass ich die Tochter seines hochverehrten Lehrers bin, und hat mich schließlich wieder zu Hause abgeliefert, und von dort aus wurde ich dann gegen meinen Willen hierhergebracht.“ Ich holte tief Luft und fühlte mich um zehn Kilo leichter, jetzt, da ich mir den Ballast von der Seele geredet hatte.
Gedankenverloren schaute ich kurz an die Decke und erinnerte mich dann daran, dass da noch jemand neben mir saß. Und dieser Jemand sah mehr als verwirrt aus. Runeas hatte die Augen zusammengekniffen und schaute mich mit einem leicht entrückten Gesichtsausdruck an. Als ich dann noch mal durchging, was ich gesagt hatte, hätte ich meinen Kopf am liebsten gegen eine Tischtennisplatte gedonnert. Ich musste wie eine Verrückte geklungen haben. Runeas schüttelte den Kopf, als versuche er, meine Worte zu ordnen und ihnen einen Sinn zu verleihen. „Langsam, langsam, du redest ja ohne Punkt und Komma!“ Na super, jetzt hatte ich es doch tatsächlich geschafft, dass ein absolut süßer Typ mich für jemanden hielt, der keine Freunde hatte und sich an der Schulter des Erstbesten ausheulte, bevor dieser die Flucht ergreifen konnte. Dass mit den Freunden stimmte ja, aber der Rest entsprach dann doch nicht der Realität. Ich musste das unbedingt wieder geradebiegen!
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und lächelte verlegen. „Sorry, normalerweise bin ich nicht so“, ich schüttelte hilflos den Kopf, „es ist nur“, ich atmete tief aus, um den Kloß in meinem Hals zu beseitigen, „es ist einfach ein bisschen viel gewesen, mein Vater und Espen haben mich einfach mitgenommen, weg von allem, was mir vertraut ist, an einen Ort, den ich schon angefangen habe zu hassen, bevor ich ihn überhaupt kannte. Dass sie mich zu jemandem gemacht haben, den ich vorher gar nicht kannte.“
Runeas nickte langsam „Du wusstest also nicht, dass du eine Halbgöttin bist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte nicht die geringste Ahnung. Meine Mutter ist, wie es aussieht, die ganzen Jahre vor meinem Vater geflohen, um mir das zu ersparen, wo ich jetzt bin.“ Der Gedanke an meine Mutter machte mir das Herz schwer. Wieder nickte Runeas und sein Blick wurde lauernd. „Und Espen ist dein Mentor?“ Ich schnaubte. „Allerdings!“ Er zog die Augenbrauen in die Höhe. „Alle anderen Mädchen würden Luftsprünge machen, wenn er sie auch nur eines Blickes würdigen würde.“ Ich setzte mich bequemer hin und zuckte mit den Schultern. „Tja, ich bin halt nicht so wie andere Mädchen. Espen nervt mich mit seiner Ich-binder-Allertollste-Art, schon seit er mir das Leben gerettet hat. Es ist einfach zum Davonlaufen! Da hätte er mich auch gleich im Wald liegen lassen können! Er behandelt mich wie etwas, was zu ekelhaft ist, um es überhaupt von der Schuhsohle abzukratzen! Er ist so ein Kotzbrocken!“
Runeas lachte. „Was für eine schöne Beschreibung!“ Mit einem Mal wurde er wieder ernst. Er schaute mir ruhig in die Augen. „Du hast recht, ich habe ebenfalls nicht das Gefühl, dass du wie andere Mädchen bist, ganz und gar nicht.“ Meine Wangen wurden warm und ich fragte, mir ein Lächeln verkneifend: „Ist das jetzt positiv oder negativ gemeint?“ Seine Stimme war wie der Geruch von einem kalten Wintermorgen. „Ich denke, das wird sich im Laufe der Zeit, die wir miteinander verbringen werden, zeigen.“ Ich zog eine Augenbraue hoch und lächelte. „Hast du mir gerade durch die Blume gesagt, dass wir mal etwas zusammen unternehmen werden?“ Er schaute mich durch eine Haarsträhne hindurch an, die ihm ins Gesicht gefallen war, und verzog spitzbübisch seinen perfekten Mund. „Ja, und nicht nur mal; von nun an betrachte ich es als meine persönliche Aufgabe, dir die nordische Welt schmackhaft zu machen und dich zudem sicher durch das Schulhaus zu begleiten.“
Ich schnaubte belustigt. „Warum willst du uns nicht gleich aneinanderketten?“ Er fasste sich ans Kinn und tat so, als würde er meine Idee ernsthaft überdenken. Dann schaute er mich von der Seite an. „Nein, ich glaube, wir sollten deine Idee lieber nicht umsetzen – zu meiner eigenen Sicherheit, falls sich zeigt, dass du in Wirklichkeit gar nicht so friedlich bist, wie es dein Name sagt.“ Ich boxte ihm spielerisch in die Schulter. „Fordere dein Glück nicht zu früh heraus!“
Was bei seinen Muskeln natürlich lächerlich war. Mit einem gespielten Ächzen griff er sich an die Schulter. „Gnade, ich kapituliere!“ Zufrieden mit seiner Ergebung nickte ich gütig. „Dir sei verziehen, Unwürdiger!“ Unsere Plänkelei wurde plötzlich von einer ironischen Stimme unterbrochen. „Na Anouk, wie ich sehe, hast du dich ja schon ganz gut eingelebt!“ Runeas’ ausgelassenes Grinsen war auf einmal wie weggeblasen. Mit einem Ruck stand er auf. Ich drehte mich um und erblickte Espen, der sich mit verschränkten Armen vor mir aufgebaut hatte. „Ja, dank Runeas ist die Welt nicht mehr ganz so schwarz! Schön, dass dich mein Wohlbefinden interessiert. Was machst du eigentlich hier?“ Als ich Runeas erwähnte, verfinsterte sich sein Blick noch mehr. „Ich sammle gerade meine Schülerin ein, die eigentlich noch bewusstlos im Bett liegen sollte, aber stattdessen flirtet sie mit irgendeinem dahergelaufenen Typen – das mache ich hier!“
Jetzt stand auch ich auf. Was glaubte der eigentlich, wer er war? „Jetzt pass mal auf! Was interessiert es dich, mit wem ich flirte? Und ob ich im Bett liege oder hier mir Runeas rede“, ich betonte die beiden folgenden Wörter überdeutlich, „ist ja wohl kein Problem, außer dass es vielleicht dein kleinkariertes Weltbild zusammenstürzen lässt!“
Espen rang um Fassung, während Runeas an mich herangetreten war und mir ins Ohr flüsterte, sodass ich seinen heißen Atmen an meinem Ohr spüren konnte: „Wohl doch nicht so friedfertig.“ Ich drehte mich zu ihm um. Unsere Gesichter waren jetzt so nah beieinander, dass er sich nur hätte herunterbeugen müssen und unsere Münder hätten sich berührt. Diese Anziehungskraft zwischen uns war seltsam betörend. Espens knurrender Laut riss mich aus diesem tranceartigen Moment. Verlegen trat ich einen Schritt zurück, während Runeas sich bückte und seinen Bogen aufhob, Espen beflissentlich ignorierend. „Ich werde dich dann morgen zu deinen verschiedenen Klassenzimmern begleiten, wenn das in Ordnung für dich ist?“ Mein Herz machte einen Freudensalto. „Und wie willst du mich finden?“, fragte ich neckisch. Runeas grinste schief. „Das überlass mal mir.“
Während Runeas mit leichten, federnden Schritten die prunkvolle Treppe hinaufstieg und in einem Flur verschwand, breitete sich zwischen Espen und mir eine aggressive Stille aus. Ich knirschte mit den Zähnen und versuchte, das explosive Gefühl in meinem Magen so gut es ging zu unterdrücken. Nein, ich hatte keine Chilischoten gegessen; ich war dabei, mich in Rumpelstilzchen zu verwandeln. Wie dieser Mann mich nervte! Ich atmete tief ein und wieder aus und musste mich beherrschen, ihm nicht an die Gurgel zu gehen. Wie er dastand. So eingebildet, so arrogant, so … Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Nicht ausrasten, ermahnte ich mich. Zu meiner großen Verärgerung musterte Espen mich erst von Kopf bis Fuß und lächelte mich dann träge an.
Er fuhr sich durch die Haare, die leicht sein Kinn umspielten, drehte sich mit einem „Komm“ um, so als wäre nichts gewesen, und steuerte eine große, reich verzierte Tür an. Ich verschränkte meine Arme und blieb wortlos stehen. Kurz meldete sich der vernünftige Teil in meinem Gehirn, und ich fragte mich, warum ich eigentlich so sauer auf Espen war, doch ich verdrängte diese Frage schnell wieder. Es tat gut, dass meine Wut nicht mehr ziellos umherschwirrte, sondern endlich einen Fixpunkt hatte.
An der großen Tür blieb Espen stehen und blickte über seine Schulter. Er zog eine Augenbraue hoch. Er war es anscheinend nicht gewohnt, ein Mädchen zweimal aufzufordern, ihm zu folgen. Auch ich zog eine Augenbraue hoch. Er drehte sich jetzt vollkommen zu mir um. „Was ist, bist du festgewachsen?“ Ich schnaubte verächtlich und warf schwungvoll meine Haare über die Schulter. „Wenn dem so wäre, würde ich beantragen, dass du dich mir in einem Radius von fünfzig Kilometern nicht nähern darfst!“
Ein frustrierter Ausdruck huschte über sein Gesicht, und ich konnte sehen, wie er die Zähne zusammenbiss. Wenn ich so weitermachte, könnte ich ihn bald los sein. Ich rieb mir innerlich die Hände. Ich drehte mich auf dem Absatz um und meinte, ohne zurückzublicken: „Ich gehe jetzt mal dahin, wo ich mit keinem Typen flirten kann.“
Ich war schon bei der Treppe angekommen, als er mit gefährlich leiser Stimme sagte: „Wenn du jetzt nicht sofort kommst, dann wirst du so viele Liegestütze machen, bis du deinen Namen nicht mehr sagen, geschweige denn denken kannst!“ Ich umkrallte das Treppengeländer mit einer Hand. Hatte er mir gerade gedroht? Mit Liegestützen? Ich wandte mich zu ihm um, aber nicht um ihm den Gefallen zu tun und klein beizugeben, sondern um ihm direkt ins Gesicht zu lächeln, das einem wütenden Kriegsgott glich. Dann drehte ich mich um. Ein scharfes „Anouk!“ veranlasste mich dann dazu, ihm den Finger zu zeigen und die Treppe hochzustiefeln.
Ich hörte ihn mit schnellen Schritten hinter mir hereilen. Seine nächsten Worte ließen mich überlegen, ihn eventuell in einen menschlichen Boxsack zu verwandeln. Er packte mich an den Schultern und drehte mich zu sich herum. Ihn als wütend zu beschreiben, wäre untertrieben. Seine blauen Augen durchbohrten mich förmlich. Ich versuchte, gelassen zurückzublicken. „Wenn du jetzt nicht sofort mitkommst, dann …“ Ich stieß seine Hand von meiner Schulter und schaute ihn herausfordernd an. „Dann was? Willst du mich dann etwa tragen, oder was?“ Mit einem „Pff“ wollte ich mich wieder umdrehen, als ich seinen festen Griff um meine Hüfte spürte. Ich schrie überrascht auf und fand mich im nächsten Moment über seiner Schulter wieder. Als würde ich nichts wiegen, ging er zu der großen Tür zurück und stieß sie auf. Ich explodierte auf seiner Schulter förmlich. Ich trat, schlug und versuchte mich von ihm wegzudrücken. Er quittierte das alles jedoch nur mit einem Lachen. „Du verdammter nordischer Arsch!“, zischte ich mühsam zwischen meinen Zähnen hervor, als ein Nerv an meiner Augenbraue gefährlich zu zucken begann und mein Kopf schwer wurde.
Im Gegensatz zu mir war er wieder die Ruhe selbst. Wir beziehungsweise er ging durch einen großen Gang. Er gab mir einen Klaps auf den Hintern. „Na, na, Anouk, so was sagt man doch nicht. Schon gar nicht zu jemandem, der einem das Leben gerettet hat!“ Aus lauter Wut spielte ich mit dem Gedanken, ihm sein wohlgeformtes Hinterteil vollzukotzen, ließ es aber – dank meiner guten Erziehung – dann doch bleiben.
„Ich wünschte, du hättest mich liegen gelassen, dann wäre ich jetzt nicht mit dir hier!“ Kurz lockerte sich sein Griff, was ich ausnutzte, um ihm mit Schwung in die Mitte zu treten. Der hat gesessen!, dachte ich fröhlich, bevor ich hart auf dem Boden aufkam. Keiner fasste mich unerlaubt an oder trug mich gegen meinen Willen durch die Gegend! Espen war in die Knie gegangen und stöhnte. Ich rappelte mich auf und wollte wankend die Flucht ergreifen, fand mich aber im nächsten Moment an eine Wand gedrückt wieder. Gegen diesen Typen hilft nur ein K.-o.-Pfefferspray, schoss es mir durch den Kopf. Ich spürte seinen heißen Atem an meinem Ohr, während ich kaum imstande war, Luft zu holen. Als er schließlich zu sprechen begann, kitzelte mich jedes Wort an meinem Ohr, so als würden sich seine Worte über meine hilflose Lage lustig machen.
„Ich denke, wir sollten mal miteinander reden!“ – „Ach, du denkst?“, presste ich hervor.
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