Kitabı oku: «Die Fahrt zum Leuchtturm», sayfa 3
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»Und wenn es morgen nicht schön sein sollte«, sagte Mrs. Ramsay und hob die Augen, um zu sehen, wie William Bankes und Lily Briscoe vorübergingen, »dann ist es eben an einem andern Tag schön. Und jetzt«, sagte sie und dachte dabei, daß Lilys Reiz ihre Chinesenaugen wären, die schräg in ihrem weißen, ältlichen schmalen Gesicht standen, aber nur ein kluger Mann würde das bemerken, »und jetzt steh auf, damit ich dein Bein messen kann«, denn vielleicht fuhren sie doch zum Leuchtturm, und sie mußte sehen, ob der Strumpf nicht noch einen oder zwei Zoll Länge im Bein brauchte.
Lächelnd, denn in ebendieser Sekunde war ein herrlicher Einfall in ihr aufgeblitzt – William und Lily sollten ein Paar werden –, nahm sie den gesprenkelten Wollstrumpf mit dem Kreuz und Quer von Stahlnadeln in der Öffnung und maß ihn an James' Bein.
»Steh still, mein Schatz«, sagte sie, denn James, der eifersüchtig war und keine Lust hatte, für den Jungen des Leuchtturmwärters als Maßmodell zu dienen, zappelte absichtlich; und wenn er zappele, wie könne sie da sehen, ob der Strumpf zu lang oder zu kurz sei? fragte sie.
Sie blickte auf – was für ein Teufel war in ihren Jüngsten, ihren Liebling, gefahren? – und sah das Zimmer, sah die Stühle und fand sie entsetzlich schäbig. Ihre Eingeweide lagen, so hatte Andrew sich neulich ausgedrückt, überall am Boden verstreut; aber was hatte es für einen Sinn, gute Stühle zu kaufen und sie den Winter über hier verderben zu lassen, wo es im Hause buchstäblich von Nässe troff und nur eine alte Frau nach dem Rechten sah? Aber was wollte das besagen: die Miete war nicht der Rede wert; die Kinder liebten das Haus; es tat ihrem Mann gut, einmal dreitausend – oder, wenn sie genau sein sollte, dreihundert Meilen von seinen Büchern, seinen Vorlesungen und seinen Schülern weg zu sein, und es war Raum da für Gäste. Matten, Feldbetten, klägliche Stuhl- und Tischüberbleibsel, die in London ihre Lebensdauer hinter sich gebracht hatten – hier waren sie noch brauchbar; dazu ein paar Fotos und Bücher. Bücher, dachte sie, vermehrten sich von selbst. Sie hatte niemals Zeit, welche zu lesen. Ach ja – nicht einmal die Bücher, die ihr von den Dichtern selbst geschenkt worden waren, mit eigenhändigen Widmungen: ›Ihr, deren Wünschen man gehorchen muß …‹ – ›Der glücklicheren Helena unserer Tage …‹, es war eine Schande, es einzugestehen, aber sie hatte sie nie gelesen. Und ob es nun Grooms Buch ›Über den Geist‹ war oder das von Bates über die ›Sitten der Eingeborenen in Polynesien‹ – man konnte keins davon zum Leuchtturm schicken. Eines schönen Tages würde vermutlich das Haus so schäbig aussehen, daß etwas geschehen mußte. Wenn man der Familie nur beibringen könnte, sich die Füße abzutreten und nicht den ganzen Strand mit hereinzubringen – das wäre schon etwas. Gegen Krabben freilich konnte sie nichts einwenden, wenn Andrew sie tatsächlich zu sezieren wünschte; oder auch wenn Jasper glaubte, aus Seetang ließe sich eine Suppe bereiten, konnte man nichts dagegen tun; oder Roses Kram – Muscheln, Schilf, Steine; denn sie waren begabt, ihre Kinder, aber jedes auf verschiedene Art. Und die Folge war, sagte sie sich seufzend und betrachtete den ganzen Raum vom Fußboden bis zur Decke, während sie den Strumpf gegen das Bein ihres Jüngsten hielt, daß alles mit jedem Sommer schäbiger und schäbiger wurde. Die Matte verblich; die Tapete löste sich. Man erkannte nicht mehr, daß sie eigentlich ein Rosenmuster zeigte. Aber wenn im ganzen Hause fortwährend alle Türen offengelassen werden und es in ganz Schottland keinen Schlosser gibt, der imstande ist, ein Türschloß zu reparieren, dann muß ja alles verrotten. Was half's, wenn man einen grünen Kaschmirschal über die Ecke eines Bilderrahmens warf? Nach zwei Wochen hatte er eine Farbe wie Erbsensuppe. Was sie aber ärgerte, waren die Türen; sämtliche Türen wurden offengelassen. Sie horchte. Die Tür zum Wohnzimmer war offen; die Hallentür war offen; es klang, als wären auch die Schlafzimmertüren offen; und zweifellos war auch das Fenster auf dem Treppenabsatz offen, denn das hatte sie selbst aufgemacht. Es war doch eigentlich ganz einfach: Fenster sollten offen sein, Türen geschlossen; warum sich das nur keiner merken konnte? Wenn sie nachts in die Schlafzimmer der Mädchen ging, da waren sie verriegelt wie die Backöfen – nur bei Marie, der Schweizerin, nicht, denn die konnte es eher ohne Bad als ohne frische Luft aushalten, aber bei ihr daheim, sagte sie, waren ›die Berge so schön‹. Ja, das hatte sie gestern abend gesagt und dabei mit Tränen in den Augen aus dem Fenster gesehen. »Die Berge sind so schön.« Ihr Vater lag, wie Mrs. Ramsay erfahren hatte, da im Sterben. Er ließ seine Kinder vaterlos zurück. Mrs. Ramsays Schelten und eifriges Erklären (wie man ein Bett macht, wie man ein Fenster schließt, wobei sie die Finger spreizte und schloß wie eine Französin), all das faltete sich gleichsam zusammen und wurde still, als das Mädchen sprach: wie wenn sich nach einem Flug durch den Sonnenschein die Flügel eines Vogels still zusammenfalten und das Blau seines Gefieders sich von stahlfarbenem Glanz zu sanftem Purpur wandelt. Schweigend hatte sie dagestanden, denn es gab nichts zu sagen. Er hatte Kehlkopfkrebs. Und bei der Erinnerung – wie sie dagestanden, wie das Mädchen gesagt hatte: »Die Berge in meiner Heimat sind so schön«, und daß keine Hoffnung wäre, gar keine, überkam sie jähe Erbitterung, und sie sagte in scharfem Ton zu James: »Steh still. Das ist ja nicht zum Aushalten!« Er begriff sofort, daß es mit ihrer Strenge ernst war, und streckte sein Bein, so daß sie messen konnte.
Der Strumpf war mindestens einen halben Zoll zu kurz, selbst wenn man in Betracht zog, daß Sorleys kleiner Junge wohl körperlich nicht so entwickelt war wie James.
»Zu kurz«, sagte sie. »Immer noch zu kurz.«
Nie trug ein Antlitz solche Trauer. Bitter und schwarz, im Dunkeln, in halber Höhe des Schachtes, der aus dem Sonnenlicht zur Tiefe führt, formte sich vielleicht eine Träne; fiel eine Träne hinab; die Wasser schwangen ihre Kreise, hierhin und dorthin, und waren wieder still. Nie trug ein Antlitz solche Trauer.
Aber war es wirklich nur ihr Äußeres? fragten sich die Leute. Was war hinter alledem – hinter ihrer Schönheit, ihrer hellen Herrlichkeit? Hatte er sich eine Kugel ins Hirn gejagt, so fragte man sich, war er wirklich eine Woche vor der Hochzeit gestorben – ein anderer, früherer Liebhaber, von dem in Gerüchten die Rede war? Oder war da gar nichts? nichts als eine unvergleichbare Schönheit, hinter der sie lebte und die durch nichts zu zerstören war? Denn in vertraulichen Augenblicken, wenn ihr Geschichten von großen Leidenschaften, von verratener Liebe, von enttäuschtem Ehrgeiz zu Ohren kamen, hätte vielleicht auch sie erzählen können, daß sie dergleichen kennengelernt, gefühlt oder durchlebt habe, doch sie sprach nie ein Wort. Sie blieb immer stumm. Sie wußte davon – sie wußte, ohne es erfahren zu haben. Ihre Unbefangenheit ergründete, was kluge Leute lügnerisch verfälschten. Ihr unverbildeter Verstand verlieh ihr die Gabe, lotrecht niederzufallen wie ein Stein, sich genau am Ziel niederzulassen wie ein Vogel, gab ihrem Geiste die natürliche Kraft zum raubvogelhaften Herabstoßen auf die Wahrheit, was Lust bedeutete, Freude, Trost – wenn auch fälschlicherweise.
[»Die Natur«, hatte Mr. Bankes einmal gesagt, als er ihre Stimme am Telefon hörte und von ihrem Klang bewegt war, obwohl sie ihm nur eine Zugverbindung mitteilte, »die Natur hat nur wenig Lehm wie den, aus dem sie Sie geformt hat.« Er sah sie vor sich, wie sie am anderen Ende des Drahtes stand, hellenisch, blauäugig, mit gerader Nase. Wie ungereimt kam es einem vor, mit einer solchen Frau zu telefonieren! Die Göttinnen der Anmut schienen sich allesamt auf Asphodeloswiesen zusammengefunden zu haben, um dieses Antlitz zu formen. Ja, er würde den Zug um zehn Uhr dreißig von Euston nehmen.
»Aber sie weiß von ihrer Schönheit ebensowenig wie ein Kind«, sagte Mr. Bankes, indessen er den Hörer auflegte und zum Fenster ging, um zu sehen, wie die Arbeiter mit dem Bau eines Hotels vorankamen, das hinter seinem Haus errichtet wurde. Und er dachte an Mrs. Ramsay, während er auf das geschäftige Treiben zwischen den unfertigen Mauern blickte. Denn immer, so dachte er, war irgend etwas Unpassendes mit dem Ebenmaß ihres Gesichts verknüpft. Sie stülpte sich einen breitkrempigen Hut auf den Kopf; sie rannte in Überschuhen durchs Gras, um ein Kind vor Unheil zu bewahren. So daß man, wenn man nur an ihre Schönheit dachte, nicht das unrastig Bebende, das zitternd Lebendige vergessen durfte (sie schafften drüben Ziegelsteine über einen kleinen Brettersteg zum Bau, während er sie beobachtete), das in das Bild eingefügt werden mußte; oder wenn man sie sich ganz einfach nur als Frau vorstellte, so mußte man ihr Bild schon mit irgendeinem ungewöhnlichen Zug ausstatten; oder vermuten, daß sie ein geheimes Verlangen spürte, ihre erhabene Schönheit abzustreifen, weil sie diese Schönheit und alles, was Männer über Schönheit sagten, langweilig fand und weil sie sein wollte wie andere Leute: alltäglich. Er wußte es nicht. Er wußte es nicht. Und er mußte an seine Arbeit.]
Während Mrs. Ramsay an dem rötlichbraunen Wollstrumpf strickte und der goldene Bilderrahmen, der über eine Ecke geworfene grüne Schal und das als echt beglaubigte Meisterwerk von Michelangelo für ihren Kopf einen wunderlichen Hintergrund abgaben, sänftigte sie alles, was an ihrer Art eben noch herb gewesen war, hob den Kopf ihres Jüngsten zu sich auf und küßte ihn auf die Stirn. »Nun wollen wir noch ein Bild zum Ausschneiden suchen«, sagte sie.
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Aber was war geschehen?
Einer hatte einen Schnitzer gemacht.
Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf und gab Worten, die ihr schon eine lange Weile ohne Sinn im Ohr gelegen hatten, einen Sinn. ›Einer hatte einen Schnitzer gemacht‹ … Sie heftete ihre kurzsichtigen Augen auf ihren Mann, der auf sie zuhielt, und blickte ihm unverwandt entgegen, bis sie ihn nah genug hatte, um zu erkennen (das Wortgeklingel verband sich in ihrem Kopf), daß etwas geschehen war, einer hatte einen Schnitzer gemacht. Aber sie konnte sich um die Welt nicht vorstellen, was geschehen war.
Er zitterte; er flog. All seine Eitelkeit, all seine Freude an der eigenen Pracht, der Ritt so trotzig wie Blitzesstrahl, kühn wie ein Aar an der Spitze der Schar durch das Todestal – alles war zerscherbt und vernichtet. Bestürmt von der Kugeln und Bomben Wut – wir ritten kühnlich und ritten gut; flammend wie Blitzesstrahl sind wir durchs Todestal wie krachender Donner geritten – geradeswegs in Lily Briscoe und William Bankes hinein. Er flog; er zitterte.
Um keinen Preis hätte sie ihn jetzt angeredet, da sie an den vertrauten Merkmalen erkannte, daß er verstört und außer sich war; er sah sie nicht an, und es war ein seltsames und unbenennbares Etwas um ihn, als hüllte er sich ein, als brauchte er dies Abgetrenntsein, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen. Sie strich James übers Haar; sie übertrug auf ihn, was sie für ihren Mann empfand, und als sie sah, daß er das weiße Frackhemd eines Herrn in der Preisliste der Army and Navy Stores mit dem Gelbstift bearbeitete, dachte sie, wie herrlich es doch für sie wäre, wenn aus ihm einmal ein großer Künstler würde, und warum auch nicht? Er hatte eine prachtvolle Stirn. Dann, als ihr Mann abermals an ihr vorüberging, blickte sie auf und stellte mit Erleichterung fest, über die Trümmer war schon ein Schleier gefallen; der häusliche Alltag siegte; Gewohnheit sang leise ihr sänftigendes Lied. Als er bei seinem Rundgang wieder einmal beim Fenster angelangt war, blieb er mit Bedacht stehen und beugte sich zu James herab, um ihn in neckender Laune mit irgendeinem kleinen Zweig an der nackten Wade zu kitzeln. Nun hielt sie den Augenblick für gekommen, ihm Vorwürfe zu machen, weil er Charles Tansley, ›den armen jungen Mann‹, abgefertigt hatte. Tansley hätte hineingehen und sich an seine Doktorarbeit setzen müssen, antwortete er.
»James wird dieser Tage seine Doktorarbeit schreiben müssen«, fügte er spöttisch hinzu und schlug neckend mit seinem Zweig.
James, voll Haß gegen seinen Vater, wehrte heftig den Zweig ab, mit dem Ramsay, in seiner aus Strenge und Humor wunderlich gemischten Art, das nackte Bein seines Jüngsten kitzelte.
Sie wolle jetzt mit diesen langweiligen Strümpfen fertig werden, damit sie morgen Sorleys kleiner Junge bekommen könne, sagte Mrs. Ramsay.
Es bestehe auch nicht die geringste Aussicht, daß sie morgen zum Leuchtturm fahren könnten, platzte Mr. Ramsay in jähem Ärger heraus.
Wie er das wissen könne? fragte sie. Der Wind springe doch oft um.
Die außerordentliche Unvernunft dieser Antwort, die Torheit weiblichen Denkens brachte ihn auf. Er war durch das Tal des Todes geritten, hatte Vernichtung und Schauder erfahren; und nun sprach sie allen Tatsachen hohn, erweckte in den Kindern Hoffnungen, die nicht zu erfüllen waren, ja, sie log geradezu. Er stampfte mit dem Fuß auf die steinerne Stufe. »Hol dich der Teufel!« sagte er. Aber was sie denn gesagt hätte? Nur, daß es morgen vielleicht schön sein würde. Das wäre doch möglich.
Nicht bei fallendem Barometer und steifem Westwind.
Mit solch erstaunlichem Mangel an Rücksicht auf die Gefühle anderer auf Wahrheit versessen zu sein, die dünne Hülle der Zivilisation derart hemmungslos und roh zu zerreißen, das kam ihr wie eine so schreckliche Verletzung menschlichen Anstands vor, daß sie, ohne zu antworten, betäubt und geblendet, den Kopf senkte, als wollte sie den scharfzackigen Hagelschauer, die Flut von Schmutzwasser ohne ein Wort der Zurückweisung über sich ergehen lassen. Da gab es nichts zu sagen.
Er stand schweigend neben ihr. Schließlich sagte er, sehr kleinlaut, er wolle hingehen und die Leute von der Küstenwache fragen, wenn sie wolle.
Niemanden gab es, den sie so verehrte, wie sie ihn verehrte.
Wenn er es sage, so genüge ihr das, antwortete sie. Nur brauchten sie dann keine Sandwiches zurechtzumachen – darum gehe es. Seit sie Frau war, kamen sie natürlich den ganzen Tag zu ihr mit allen möglichen Wünschen; der eine wollte dies, der andere das; die Kinder wuchsen heran; sie kam sich oft vor, als wäre sie nur ein mit den Gefühlen und Erregungen anderer vollgesogener Schwamm. Nun sagte er: Hol dich der Teufel! Er sagte, es würde regnen. Er sagte, es würde nicht regnen – und alsbald tat sich ein Himmel des Geborgenseins vor ihr auf. Niemanden gab es, den sie mehr verehrte als ihn. Sie fühlte sich nicht würdig, ihm die Schuhriemen zu lösen.
Schon aber schämte sich Mr. Ramsay seiner Verdrießlichkeit, schämte sich der heftigen Handbewegungen, mit denen er an der Spitze seiner Truppen zum Angriff vorgestürmt war, und er stach noch einmal, ziemlich albern, seinen Sohn ins nackte Bein, worauf er, als hätte sie ihn nun davongelassen, mit einer Bewegung, die seine Frau wunderlich an den großen Seelöwen im Zoo erinnerte, wenn er nach dem Verschlingen seiner Fische sich zurückwirft und von dannen wälzt, so daß das Wasser in seinem Becken hin und her schwappt, in die Abendluft eintauchte, die, dünner schon, den Blättern und Hecken das Körperhafte nahm, dafür aber, wie als Entschädigung, den Rosen und Nelken einen Glanz lieh, den sie am Tage nicht hatten.
»Einer hatte einen Schnitzer gemacht«, sagte er abermals und zog mit langen Schritten davon, hin und her über die Terrasse.
Aber wie erstaunlich hatte sein Ton sich gewandelt! Es war wie beim Kuckuck – ›im Juni wechselt er die Stimme‹; als suchte er, tastend und probend, eine Redewendung für eine neue Stimmung und nähme nun diese, da er sie einmal zur Hand hatte, wenn sie auch ziemlich verrückt war. Es klang doch lächerlich – ›Einer hatte einen Schnitzer gemacht‹ –, wenn es in diesem Ton gesagt wurde, fast als Frage, ohne Überzeugung, melodisch. Mrs. Ramsay konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und wahrhaftig, da summte er es auch schon, auf und ab gehend, ließ es fallen, verstummte.
Er war in Sicherheit, er war wohlbehalten wieder in seinem Gehäuse. Er blieb stehen, um seine Pfeife anzuzünden, warf einen Blick zu seiner Frau und seinem Sohn am Fenster, und wie wenn man im Schnellzug die Augen von einem Buch hebt und den Anblick eines Bauernhofes, eines Baumes, einer Häusergruppe als Illustration, als Bestätigung für den Inhalt der gedruckten Seite nimmt, zu der man, bestärkt und befriedigt, zurückkehrt, so stärkte und befriedigte ihn der Anblick seines Sohnes und seiner Frau, wenn er sie auch nicht bewußt wahrnahm, und weihte gleichsam sein Bemühen um vollkommen klare Erfassung der Frage, die eben jetzt die Kräfte seines glanzvollen Geistes beschäftigte.
Es war ein glanzvoller Geist. Denn wenn das Denkvermögen der Tastatur eines Klaviers gleicht, die in so viele Töne zerfällt, oder wie das Alphabet in sechsundzwanzig wohlgeordnete Buchstaben gegliedert ist, so brachte es dieser glanzvolle Geist ohne jede Schwierigkeit fertig, diese Buchstaben herunterzulesen, einen nach dem andern, fest und genau, bis er, sagen wir, zum Buchstaben Q kam. Er kam bis zum Q. Nur sehr wenige Leute in ganz England kommen jemals bis zum Q. Hier blieb er einen Augenblick bei der Steinvase stehen, in der die Geranien blühten, und sah, aber nun weit, weit weg, wie Kinder, die Muscheln suchen, in göttlicher Unschuld, ganz mit den kleinen Dingen zu ihren Füßen beschäftigt und irgendwie völlig wehrlos gegen ein Verhängnis, das er erkannte, sah seine Frau und seinen Sohn beisammen am Fenster. Sie brauchten seinen Schutz; er beschützte sie. Aber nach Q? Was kommt dann? Nach Q kommt eine Reihe von Buchstaben, deren letzter, für sterbliche Augen kaum noch sichtbar, rötlich in der Ferne glimmert. Das Z wird in jedem Menschenalter nur von einem einzigen Menschen erreicht. Aber wenn er das R erreichen könnte, das wäre doch schon etwas. Hier war er nun erst einmal beim Q. Er stemmte beim Q die Hacken in den Boden. Das Q war sicher. Über das Q konnte er sich ausweisen. Wenn Q nun also Q ist, dann ist R … Hier klopfte er seine Pfeife aus, mit zwei oder drei hallenden Schlägen an das Widderhorn, das den Griff der Vase bildete, und dachte weiter. Dann ist R … Er raffte sich zusammen. Er straffte sich.
Eigenschaften, die eine Schiffsbesatzung gerettet hätten, wenn sie mit sechs Schiffszwiebäcken und einer einzigen Flasche Wasser der tobenden See preisgegeben war – Beharrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, Voraussicht, Hingabe und Geschicklichkeit waren seine Helfer. R ist also … was ist R?
Ein Vorhang, wie das lederartige Augenlid einer Eidechse, senkte sich zuckend über die gespannte Schärfe seines Blickes und überdunkelte den Buchstaben R. Und in dieser jähen Verdunkelung hörte er die Leute sagen, er sei ein Versager, das R gehe über seine Kraft. Nie würde er das R erreichen. Noch einmal denn: auf zum R. R …
Eigenschaften, die ihn bei einer verzweifelten Expedition durch die eisigen Einöden der Polarregion zum Leiter, zum Führer, zum Planer gemacht hätten, der weder in der Hoffnung überschwenglich ist noch in der Enttäuschung verzweifelt, der mit Gelassenheit überblickt, was zu tun ist, und dem ins Auge sieht – solche Eigenschaften waren wiederum seine Helfer. R …
Noch einmal zuckte das Eidechsenlid nieder. Die Adern auf seiner Stirn schwollen. Das Geranium in der Vase wurde unheimlich deutlich, und inmitten seiner Blätter sah er, unerwünschte Schau, den alten, den deutlichen Unterschied zwischen den beiden Arten von Menschen: einerseits die stetig Voranschreitenden von übermenschlicher Kraft, die mit harter und zäher Arbeit das ganze Alphabet vortragen, alle sechsundzwanzig Buchstaben der Reihe nach, vom ersten bis zum letzten; andererseits die Begnadeten, die von Genie Erleuchteten, die sämtliche Buchstaben auf einmal mit einem einzigen blitzhaften Ruck erfassen. Er war kein Genie; so hoch verstieg er sich nicht: aber er besaß die Kraft – oder hätte sie vielleicht besessen –, jeden Buchstaben des Alphabets von A bis Z gewissenhaft durchzunehmen. Gegenwärtig saß er nun also beim Q fest. Vorwärts denn, zum R!
Empfindungen, die einem Anführer keine Schande gemacht hätten, der, wenn der Schnee fällt und Nebel den Berggipfel verhüllt, weiß, daß er sich niederlegen und sterben muß, bevor der Morgen kommt, erfaßten ihn, ließen die Farbe seiner Augen erlöschen und verliehen ihm in diesen zwei Minuten, da er einmal hin, einmal her über die Terrasse ging, das welke Aussehen verdorrten Alters. Aber er wollte nicht im Liegen sterben; er wollte eine Felsspitze finden und, an sie geklammert, den Blick ins Unwetter gerichtet, bis zuletzt das Dunkel zu durchdringen suchen, er wollte im Stehen sterben. Er würde nie bis zum R kommen.
Er stand unbeweglich neben der Vase, in der das Geranium üppig blühte. Wie viele kommen denn nun wohl, so fragte er sich, auf eine Milliarde, die das Z erreichen? Sicherlich darf der Anführer einer in ihrer Hoffnung getäuschten Schar sich diese Frage stellen und sie beantworten, ohne damit an den Seinen Verrat zu begehen: »Vielleicht einer.« In einem Menschenalter einer. Kann man dann aber ihm einen Vorwurf machen, daß er dieser eine nicht ist – wenn er sich nur redlich geplagt und das Beste seiner Kraft hergegeben hat, bis ihm nichts mehr zu geben übrigbleibt? Und sein Ruhm – wie lange währt der? Auch ein sterbender Held darf wohl, bevor er stirbt, darüber nachdenken, was die Menschen nach seinem Tode von ihm sagen werden. Sein Ruhm währt vielleicht zweitausend Jahre. Und was sind zweitausend Jahre? (so fragte Mr. Ramsay spöttisch, den Blick starr auf die Hecke gerichtet). Ja, wahrhaftig, was sind sie, wenn man vom Gipfel eines Berges die riesigen Wüsteneien der Zeiten überblickt? Der Stein, an den unsere Stiefelspitze stößt, wird Shakespeare überdauern. Sein eigenes Lichtlein würde, nicht allzuhell, ein oder zwei Jahre leuchten und dann in einem größeren Licht untergehen, und dieses wiederum in einem noch größeren. (Er blickte ins Dunkel, in das Gewirr der Zweige.) Wer also kann den Führer jenes todgeweihten Unternehmens tadeln, der ja schließlich hoch genug geklommen ist, um die Wüstenei der Jahre und den Untergang der Sterne zu sehen, wenn er, ehe die Starre des Todes seinen Gliedern alle Kraft zur Bewegung raubt, seine erstarrenden Finger nicht ganz ohne bewußte Absicht zur Braue hebt und sich in den Schultern strafft, so daß die Hilfsexpedition ihn später tot auf seinem Posten findet, eine edle soldatische Gestalt? Mr. Ramsay straffte sich in den Schultern und stand sehr aufrecht bei der Steinvase.
Wer will ihn tadeln, wenn seine Gedanken, indessen er einen Augenblick so dasteht, beim Ruhm verweilen, bei Suchexpeditionen, bei steinernen Grabhügeln, die eine dankbare Nachwelt über seinen Gebeinen errichten wird? Schließlich: Wer will den Führer des verlorenen Unternehmens tadeln, der das Äußerste gewagt und seine Kraft bis zum allerletzten Rest verbraucht und sich, als ihn der Schlaf übermannte, nicht mehr viel darum gesorgt hat, ob er wieder erwachen wird, wenn er nun bei einem gewissen Prickeln in seinen Zehen merkt, daß er noch lebt und es durchaus nicht ablehnt zu leben, sondern nach Mitgefühl und Whisky und einem Zuhörer für die sofortige Erzählung seiner Leiden verlangt? Wer will ihn tadeln? Wer wird sich nicht heimlich freuen, wenn der Held seine Rüstung ablegt und am Fenster stehenbleibt und auf seine Frau und seinen Sohn blickt, die zuerst sehr fern sind, aber allmählich näher und näher kommen, bis Lippen und Buch und Kopf klar vor seinen Augen sind, wenn auch noch hold und unvertraut nach der tiefen Furchtbarkeit seiner Vereinsamung und der Wüstenei der Jahre und dem Sturz der Sterne; wenn er schließlich seine Pfeife in die Tasche steckt und seinen herrlichen Kopf vor ihr beugt – ja, wer will ihn tadeln, wenn er sich ehrfürchtig neigt vor der Schönheit der Welt?