Kitabı oku: «Die falsch gestellten Weichen», sayfa 3

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Man muß sich vor Augen halten, daß die Berichte von getreuen Regierungsanhängern nicht immer die volle Wahrheit brachten. Es gab auch weniger begeisterte Augenzeugen. So sahen Bourbotte und Prieux nicht nur die Schändung von nackten Frauen und Mädchen, denen man die Hälse durchschnitt, sondern auch die Schändung von Leichen, also nekrophile Orgien von kaum glaublicher Niedertracht. Beauvais schrieb über die Ereignisse nach dem Rückzug aus Fougères: „Alle Verwundeten in den Spitälern wurden auf die gräßlichste Weise zu Tode gemartert. Man schnitt in ihre Fußsohlen hinein, alle Männer wurden stückweise kastriert, die Frauen wurden genau so behandelt, man steckte in ihre Scheiden Patronen, die man dann entzündete, um ihre Leiden zu beenden.“ Das sind Torturen, die dann später von den prachtvollen „Loyalisten“ im spanischen Bürgerkrieg wiederholt wurden, nur suchten sie sich für diesen Zweck lieber Kirchen als Spitäler aus. Wenn dann später die Nationalsozialisten mit ihren Ausrottungsfeldzügen mehr Opfer zur Strecke brachten, so ist dies lediglich einer fortschrittlichen Technologie zu verdanken.43) Die Jakobiner aber (getreu ihrem Vorbild, den Husiten) strengten sich jedoch ehrlich in dieser Richtung an. Nur hatten sie dafür nicht so viel Zeit und wollten ihr reinigendes Werk mit persönlichem Vergnügen verbinden. Da waren die Noyades in der Loire: Man brachte die gefesselten, politischen Gefangenen auf Flöße, die dann mit Kanonen vom Land aus versenkt wurden. Ein fabelhaftes Training für Artilleristen auf bewegliche Ziele. In Lyon wütete der Nationalkonvent gegen Girondisten, Royalisten und Bauwerke. Die Stadt wollte man buchstäblich dem Erdboden gleichmachen, und die Gefangenen (es gab nicht genug Guillotinen) wurden mit Kartätschen und Schrotgewehren hingerichtet – zwischen 6000 und 10 000 an der Zahl.

Auch die Naturwissenschaften wurden eingesetzt. Ein Chemiker namens Fourcroy, von Robespierre, Collot d’Herbois, Barère und Fouché beauftragt, produzierte ein Giftgas, das sich aber nicht als sehr praktisch erwies. (Da sind die Nationalsozialisten schon weiter gekommen.) Ein Mann, der Carrier hieß, machte den Vorschlag, die Flüsse mit Arsenik zu vergiften. Wie man sieht, wurden schon damals Kriege geplant, die an Renans guerres zoologiques gemahnten.44)

Dieses demokratische Wüten verschonte niemanden, auch im eigenen Lager nicht, was alsbald die Girondisten zu spüren begannen. Als Antoine de Lavoisier, der berühmte Mathematiker, Physiker und Chemiker, als „Verschwörer“ zu Tode verurteilt wurde, rief sein Verteidiger aus, daß er ein ganz großer Wissenschafter war. Coffinhal, der Vorsitzende des Tribunals, aber schrie zurück: „Die Republik braucht keine Gelehrten!“ Stimmt auch: „Ein Mann – eine Stimme“, Wissen und Dummheit werden gleichgestellt. Trotz des Kultes der raison, der Vernunft und des Verstands, war es nur eine Frage kurzer Zeit, bis nicht nur Geburt und Besitz, sondern auch der Geist ein Objekt des Neides wurden. (Doch der Prozentsatz der Adeligen unter den Hingerichteten war nur acht Prozent, der der Bauern 22 Prozent!)

Vordergründig aber waren es materielle Güter, wie auch bei den radikalen demokratischen Sekten in England während des 17. Jahrhunderts, die den Neid hervorriefen. Die Enragés, der linke Flügel der Montagne, Männer wie Roux, Varlet und Leclerc, donnerten gegen die Reichen. Auch Hébert und der ci-devant adelige Saint–Just betonten, daß die staatsbürgerliche Gleichheit ohne die Besitzgleichheit sinnlos und wertlos wäre. Und da war es wieder Joseph Lebon, der Schlächter von Arras, der die methodische Verfolgung der Reichen im Norden vornahm; 392 von diesen wurden in Arras, 149 im Cambrai guillotiniert. In einer berühmten Rede verlangte Jacques Roux vor dem Nationalkonvent, daß die Gleichheit des Einkommens zum Gesetz erhoben werden müßte. Sicherlich haben auch nur der Fall von Robespierre im Juli 1794 und die Niederlage von Gracchus Babeuf 1797 den totalen Sieg des Kommunismus verhindert.

Doch auch gegen die Heiligen und die Toten wurde eifrigst zu Felde gezogen. Die Schändung jüdischer Friedhöfe, ein Beispiel des nekrophoben Totalitarismus, der unsere Nationalisten–Rassisten auszuzeichnen scheint, hatte seine urdemokratischen Vorläufer. In St. Denis wurden die Königsgräber gründlich geschändet, die Leiche des hl. Germanus wurde in Burgund ausgegraben, Heiligen und Königsstatuen in den Kirchen und Kathedralen die Köpfe abgeschlagen, herrliche bunte Kirchenfenster zerbrochen, Grabsteine zerstört, Altäre umgestürzt. Die alten Kirchen und Kathedralen Frankreichs bleiben ein stetes Mahnmal des Sieges von Unverstand und unreinen Leidenschaften über edle Gefühle. Glücklich ist Albi zu nennen, wo ein hochgesinnter Bürger den Mob davon abhalten konnte, die herrliche Kathedrale zu verwüsten!

In dieser grauenhaften, doch sehr allgemeinen Verwirrung, in der die „Guten“ feige im Hintergrund blieben, spielten die Männer der Kirche keineswegs immer eine sehr ehrenwerte Rolle. Die Worte Spenglers vom Priesterpöbel bewahrheiteten sich schon damals.45) Eine ganze Reihe von Priestern und sogar Bischöfen leistete den Eid auf die Verfassung, wobei innerhalb der katholischen Kirche die Jansenisten eine besonders jämmerliche Rolle spielten.46) Der Exkapuziner Chabot unterstützte Marat in seinen blutrünstigen Aufrufen, und auch andere frühere Seelenhirten taten sich in der fürchterlichsten Weise hervor. Der evangelische Pastor Claude Royer von Chalons-sur-Saône und Mitglied des Jakobinerklubs in der Rue St. Honoré brüllte: „Hören wir zu reden auf und lassen wir unser Schweigen furchtbar werden – wir sollen schrecklich sein, um die Freiheit zu retten!“ Danton und Robespierre stimmten für seine Vorschläge. Er forderte das Levée en masse und Massenverhaftungen. Er gab auch eine Flugschrift heraus mit dem Titel: „Machen wir den Terror zum täglichen Ereignis!“47) Nun, es ist auch nicht ganz zufällig, daß die Dominikaner (nach der Rue St. Jacques, wo sie ihr Zentrum hatten, in Paris Jacobins genannt) die „Jakobiner“ eingeladen hatten, in ihrem Haus in der Rue St. Honoré zu tagen! Und wer glaubt, daß der Terror (la terreur) in späteren Schulbüchern der Dritten Republik schamvoll-beschämt behandelt wurde, irrt sich. „La Terreur était terrible mais grande!“ konnte man da lesen.

Typisch für die Vorbereitung der Revolution und des Terrors war das Schicksal eines intellektuellen, leicht linksdralligen Edelmannes, des Chrétien de Lamoignon de Malesherbes, einer Leuchte der Aufklärung. Im Jahre 1750, im Alter von 29 Jahren, wurde er Präsident der Cour des Aides des Pariser Parlement, während sein Vater zum Kanzler ernannt wurde, aber fast alle Arbeit seinem Sohn hinterließ. Der junge Malesherbes benützte seine Stellung, um der Aufklärung zu helfen. Er war „tolerant“ und „fortschrittlich“. Da sein Amt auch das des Zensors war, konnte er der „Aufklärung“ helfen und ihre Kritiker bremsen.

Baron Grimm sagte sehr richtig, daß ohne Malesherbes die Encyclopédie nie hätte erscheinen können.48) Pierre Gaxotte nennt ihn den vollendeten Typ des Liberalen, der immer von der Angst geplagt wird, als reaktionär zu gelten. Élie Fréron, der Feind Voltaires, d’Alemberts und Marmontels, veröffentlichte eine relativ konservative Zeitschrift, L’Année Littéraire, die immer wieder von Malesherbes konfisziert wurde, und 1758 hätte man Fréron fast eingesperrt, weil er ein Buch gegen die Encyclopédie sehr positiv besprochen hatte. Immer wieder angegriffen, versuchte Malesherbes alles zu tun, um Frérons Verteidigung zu erschweren. 1752 verbot Malesherbes die Veröffentlichung eines Buches des Jesuitenpaters Louis Geoffroy, weil darin Diderot angeschwärzt wurde. Pater Thomolas von Lyon, der den Artikel „College“ darin kritisierte, wurde verwarnt: Er wäre frech! Pater Charles Polissot de Montenoy wurde von Malherbes verfolgt und so auch der hochbegabte Nicholas Gilbert, der jung starb. „Die Philosophen beklagten sich, daß sie verfolgt wurden“, bemerkt Gaxotte, „sie aber waren es, die als Verfolger auftraten.“49)

Malesherbes sah schließlich den Schaden, den auch er angerichtet hatte! Während des Terrors war er in die Schweiz geflohen, kehrte aber nach Paris zurück, um seinen König vor dem Tribunal zu verteidigen. Er hatte schließlich die traurige Aufgabe, ihm mitteilen zu müssen, daß er zum Tode verurteilt worden war.50) Er zog sich aufs Land zurück, wurde aber im Dezember 1793 zusammen mit seiner Tochter, seinem Schwiegersohn und seinen Enkelkindern verhaftet. Alle wurden zu Tode verurteilt, er aber absichtlich als letzter hingerichtet, um das Schicksal seiner Familie mitansehen zu müssen. Die délicatesse der demokratischen Linken kennt eben keine Grenzen! Für alle seine Sünden hatte dieser Mann schwer gebüßt. Die Straße, die zum linken Radikalismus führt, ist nicht nur breit, sondern auch steil nach unten abfallend. Unter diesen Umständen versagen dann die Bremsen nur allzuleicht.

Doch die Bedeutung der Französischen Revolution liegt nicht nur darin, daß sie die Demokratie erneuerte, die schon in der Antike moralisch Schiffbruch erlitten hatte, sondern auch ganz neue Nahrung zur Staatsvergötterung, zum Totalitarismus und zum „völkischen“ Nationalismus gegeben hatte. Die antike Pólis mit ihrer absoluten Herrschaft (diesmal mit totalitärem Vorzeichen) war wieder da, aber nunmehr in völkisch-nationalem Gewande mit der falschen Maske des Patriotismus.51) Man hatte nun nicht mehr gleich zu sein, sondern auch identisch, „nämlich“.52) Der Fall Robespierres im Thermidor vereitelte nicht nur seinen Plan, alle Kirchtürme als „undemokratisch“ niederzureißen, denn sie53) waren höher als die anderen Gebäude, sondern auch seine andere Absicht, alle Franzosen und Französinnen je in eine eigene Uniform zu stecken. „Uniformität“ wurde nun zum Schlüsselwort. Diese erstreckte sich auch auf die Landesverteidigung.

Einen der revolutionärsten, für den Rest der Welt verhängnisvollsten Schritte tat die Französische Revolution in der Domäne der Kriegsführung. Da alle Citoyens die gleichen Rechte besaßen, hatten sie auch die gleichen Pflichten: Sie durften wählen, also mußten sie auch auf den Schlachtfeldern kämpfen. Wenn aber ein Land (und in diesem Fall war es das volkreichste Europas) die allgemeine Wehrpflicht einführt, dann mußten auch alle Nachbarn54) diesen Zwang kopieren, und damit trat Europa in eine der fürchterlichsten Phasen seiner Geschichte ein, denn es bekämpften sich von nun an riesige Armeen. Das war die Einleitung zu unseren totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Die Kabinettskriege mit ihren Söldnern waren zuende gegangen, und es setzten nun die ‚Volkskriege‘ ein. Da aber der Durchschnittsbürger keinerlei Begeisterung für den Soldatenberuf besitzt (der eine ganz bestimmte ‚Berufung‘ und Eignung voraussetzt), mußten die Gemüter durch eine ungeheure und ungeheuerliche Propaganda angeheizt werden. Diese aber fand nicht nur in den Kasernen statt, sondern erfaßte und mobilisierte die ganze Nation. Nicht nur die Soldaten, nicht nur die Wehrpflichtigen, sondern auch deren Eltern, Frauen, Schwestern und Kinder wurden zum Haß gegen den Feind aufgerufen. Von nun an kämpfte eben nicht mehr König gegen König, sondern Volk gegen Volk. Hippolyte Taine, dem man wohl keine rechtsradikalen Tendenzen vorwerfen kann, hat dies sehr anschaulich geschildert:

„Die allgemeine Wehrpflicht… hat sich wie eine ansteckende Krankheit ausgebreitet…, sie ist im ganzen europäischen Kontinent verbreitet und herrscht dort mit ihrer Zwillingsschwester, die ihr vorausgeht oder nachfolgt, dem allgemeinen Wahlrecht…, eine die andere mit sich schleifend, beide blinde und furchterregende Herrinnen und Meisterinnen der Zukunft. Die eine gibt in die Hand eines jeden den Stimmzettel, die andere hängt ihm den Tournister des Soldaten auf den Rücken – und mit welchen Aussichten auf Massaker und Bankrotterklärungen im [kommenden] zwanzigsten Jahrhundert, mit welchem verzweifelten, internationalen, schlechten Willen und Mißtrauen, mit welchem Verlust an aufbauenden Bestrebungen, durch was für eine Perversion der produktiven Erfindungen, begleitet von was für einem Fortschritt in den Mitteln der Zerstörung, durch was für einen Rückschritt in die niedrigsten und ungesunden Formen streitsüchtiger Gesellschaften, durch was für einen Rückfall in egoistische und brutale Instinkte hinunter zur Gefühlswelt, den Sitten und der Moral der Staaten der Antike und barbarischen Stämme, das wissen wir nur zu wohl.“55)

Hoffman Nickerson kommentierte diese Dekadenz mit den Worten: „Wie bei barbarischen Stämmen wurde nun jeder körperlich geeignete Mann ein Krieger. Innerhalb von vier Jahren nach der ersten Einberufung des revolutionären Parlaments wurde nun Rousseaus unmöglicher Traum von einem Himmel auf Erden nicht verwirklicht: Anstelle einer ländlichen Szenerie belebt mit Hirtinnen, die wie Figuren aus Dresdner Porzellan aussahen, hatten wir wieder die bewaffnete Horde. Die demokratischen Politiker, verzweifelt nach einem militärischen Werkzeug Ausschau haltend, um ihr System und ihre Haut zu retten, ließen den Teufel des totalen, des absoluten Krieges los.“56)

Und mit dieser Belastung leben wir auch heute. Wir sind sie derartig gewohnt, daß es unseren Massenmedien ein leichtes ist, gegen Söldner Stimmung zu machen. Der Söldner (von dem wir das Wort Soldat immerhin abgeleitet haben) ist ein Mann, der eine echte Berufung zum Kriegshandwerk hat und überdies die so viel gelobte Freiheit besitzt, sich seinen General oder auch seine „Sache“ selbst auszusuchen. Verglichen mit dem Mann, der sich zitternd hinter dem Ofen verbirgt und von den Gendarmen zur Assentierung gebracht wird, hat er doch ein beneidenswertes Los. Zugleich geben wir zu, daß Tapferkeit nicht in jedermanns Wiege gelegt wird. Die moderne Gesellschaft und der Staat aber versuchen die oft ganz natürlichen Hemmungen ihrer Männer und deren Anhang zu überwinden, die tiefste und häßlichste menschliche Leidenschaft zu mobilisieren – den Haß, in diesem Fall den Kollektivhaß. Dieser ist, wie zum Beispiel im Ersten Weltkrieg, durch die alliierten Greuelgeschichten über die deutschen Soldaten zur Weißglut angeheizt worden, aber auch im Zweiten Weltkrieg, bevor die Schrecken des Nationalsozialismus bekannt wurden, hatte man in den Vereinigten Staaten für die „Moral“ der Soldaten „Dokumentationsfilme“ hergestellt. Sie wurden auch zur Propaganda im Ausland verwendet.57)

Wenn man nun alle diese Tendenzen, Einrichtungen, Programme und Neuerungen58) der Französischen Revolution mit „modernen“ Augen betrachtet, braucht man sich über das Buch des Harvard Professors C. Crane Brinton, The Jacobins,59) nicht wundern. Es erschien drei Jahre vor der braunen Machtübernahme, gab uns aber dennoch ein präzises Bild des Nationalsozialismus. Auch Max Horkheimer, keineswegs ein Vertreter eines extremen Konservatismus, sagte ausdrücklich im Jahre 1939, daß die Ideologie der Französischen Revolution im Nationalsozialismus enden mußte.60) Im weiteren Sinn des Wortes war die Ideenwelt der Französischen Revolution ein Sozialismus und das bedeutet wörtlich, ein dem Individualismus, besser gesagt, dem Personalismus, entgegengesetzter Gesellschaftswahn. Das völkisch-nationale Element kam unweigerlich (genauso wie beim husitischen Vorgänger) als ein weiterer „identitärer“ Kollektivismus dazu. Da nur die Franzosen sich gegen die Königsherrschaft im 18. Jahrhundert erhoben hatten, waren sie das einzige tugendhafte, kluge und „auserwählte“ Volk. Deshalb wurde auch sehr bald die Klage erhoben, daß die Nichtfranzosen in der patrie sich nicht der langue républicaine bedienten und daß sowohl die Dialekte, als auch die Minderheitssprachen verschwinden müßten. Besonders die Elsässer (erst seit rund 100 Jahren bei Frankreich) verstießen in dieser Hinsicht gröblich gegen das Uniformitätsprinzip, und so wurden verschiedene Pläne geschmiedet, wie man diese Leute sprachlich zur Räson bringen könnte. Es wurde der Vorschlag gemacht, den Elsässern die Kinder wegzunehmen, sie in ganz Frankreich zu zerstreuen oder schließlich auch (einfachheithalber) alle umzubringen.61 Somit tauchte hier wiederum das probate Mittel des Genozids aus der Versenkung. Die égalité wurde als identité verstanden: Wer anders war, konnte eben nicht als „Gleicher“ betrachtet werden. Wer sich von der Masse durch Sprache, Aussehen, Akzent, Besitz, Bildung, Gehaben unterschied, war eben ein Feind. Er mußte sich angleichen, und wenn das nicht möglich war, auswandern oder ins Gras beißen.

Also war die Französische Revolution ein früher Nationalsozialismus? Kein Zweifel. Blut und Boden wurden schon in der Marseillaise angerufen, laut der man davon träumte, daß das unreine Blut (sang impur) der Feinde die Ackerfurchen Frankreichs tränken sollte. Doch vielleicht war man damals doch noch ein wenig liberal-tolerant, denn man hatte keine Vorurteile gegen dieses immerhin doch recht aparte Düngemittel.

3. VOM ERSTEN ZUM DRITTEN NAPOLEON

Die Französische Revolution endete mit der Militärdiktatur und der fast gelungenen Royalisierung Napoleons. Die Ideen der Französischen Revolution wurden, wenn auch in einer stark gemilderten Form, durch ganz Europa getragen. Der Blutfleck der Revolution tauchte den Kontinent von Gibraltar bis ins Herz Rußlands in ein allumfassendes Blutbad. Dieses Drama endete erst in Waterloo.

Die Wandlung der Französischen Revolution in eine Personaldiktatur, die gewisse tyrannische Züge trug, doch ohne eine Tyrannis im hochmodernen Sinne zu sein, folgte einem bis in die Antike zurückreichenden Schema. Plato hatte dieses vorausgesehen und so auch Polybios, der von einer Anakýklosis, einem Drehen des geschichtlichen Rades sprach. Beide dachten, daß das Königtum von einer Adelsherrschaft abgelöst werden müsse (wie England 1688) und daß diese wiederum einer Demokratie weiche, in der schließlich ein Volkstribun aufstünde, der aber seine Herrschaft – mit der Zeit – „familistisch“ gestalten und damit royalisieren würde. Manchmal fällt allerdings ein Stadium aus. Auch die römische Geschichte liegt ungefähr auf dieser Linie. Cäsar war durch seine Heirat ein Neffe des ‚Demokraten‘ Marius, doch hatte zweifellos das Régime der „Cäsaren“, das Prinzipat, durch die Macht der Armee einen ‚bonapartistischen‘ Charakter. Das vorchristliche Rom ist nicht eine echte Monarchie geworden, mit der Herrschaft von Diokletian ebenfalls nicht, obwohl er sich eine Krone aufsetzte und Proskynesis verlangte.1) Auch gelang Napoleon die „Verköniglichung“ nicht, denn er blieb viel zu sehr ein Volkstribun, um seinem Siegeszug ein Ende zu setzen und sowohl sein Land wie auch seine Herrschaft echt zu konsolidieren. Er war allerdings der Schwiegersohn des österreichischen Kaisers geworden. Hätte er sich nicht in das russische Abenteuer gestürzt, wäre er wahrscheinlich 1821 in Paris im Bett gestorben. Europa wäre mehr oder weniger unter dem Adler seiner Feldstandarten geeint gewesen. (Wie wird es in Indien weitergehen?, fragt man sich. Wird die Tochter Nehrus ihren jüngeren Sohn „einsetzen“ können?)

Das enracinement, die „Einwurzelung“ der neuen Monarchie in Frankreich hätte allerdings eine Friedenszeit gebraucht. Doch muß man hinzusetzen, daß Napoleon sich seiner auch im „Inneren“ gefährdeten Lage sehr wohl bewußt war und seinem Schwiegervater gestand, daß er militärische Niederlagen politisch nicht überstehen könnte. (Das hätte allerdings auch Mussolini wissen müssen, der ein – später verfilmtes – Theaterstück über Napoleons Hundert Tage geschrieben hatte.)

Doch weder die Französische Revolution noch die napoleonische Periode waren im übrigen Europa spurlos vorbeigegangen. Im Gegenteil: diese beiden Ereignisse blieben unvergessen, lösten allerlei Reaktionen, aber auch weitere „unterirdische“ Bewegungen aus. „Obenauf“ hatten wir die Romantik, eine christliche Erneuerung, und das erste Mal in der Geschichte ein systemisiertes konservatives Denken.2) Doch waren eben Dinge geschehen, die viele alte, festgefahrene Begriffe und Traditionen gebrochen hatten. Dabei war der Königsmord nichts Neues. Karl I. von England hatte schon dieses Schicksal erfahren und sein Sterben leitete die Britische Republik ein, das Commonwealth unter Cromwell, einem echten „Führer“ und hervorragenden Praktikanten des Genozids.3) Auch ein Papst als Gefangener Frankreichs war keine Neuheit. Fontainebleau war lediglich ein neues Avignon. Doch die Heirat der Tochter des regierenden Habsburgers mit einem korsischen Abenteurer, der, wenn er schlecht aufgelegt war, im Patois seiner Heimat fluchte, oder auch die Besteigung des schwedischen Königsthrones durch einen anderen Advokatensohn, diesmal aus Pau und nicht aus Ajaccio, waren ebenso Brüche mit der Vergangenheit wie die zahlreichen territorialen Veränderungen während der napoleonischen Kriege, wie auch in der Folge des Wiener Kongresses, der keineswegs ganz so „konservativ“ war, wie manche ihn darstellen wollten.

Die gesellschaftlichen Veränderungen waren nicht so schwerwiegend, und alte Traditionen und Haltungen, die man für verloren glaubte, lebten wieder auf – selbst in Frankreich. Napoleon hatte versucht, den Anschluß an das Alte zu finden und stets mit allen Mitteln danach getrachtet, Überläufer aus dem alten Adel zu bekommen. Gewisse Begriffe – Ehrbegriffe, äußere Modalitäten, Gebräuche – kamen wieder auf. Die „Modernität“ regierte noch lange nicht absolut. Man lese da einmal in den Memoiren des Grafen Caulaincourt nach, wie sich nahe bei Moshajsk auf dem Zuge nach Moskau ein „Zivilist“ dem französischen Lager näherte und einen Soldaten auf Wache nach seinen Eindrücken ausfragte. Von einem Offizier zur Rede gestellt, den der Unbekannte arrogant behandelte, dann als russischer Offizier (Uniform unter dem grauen Mantel!) erkannt und verhaftet, überstellte man ihn schließlich Napoleon. Es war dies ein Baron Wintzingerode, den Napoleon als theoretischen Untertan seines Bruders Jérôme, König von Westphalen, agnoszierte und deshalb als Verräter und Spion zu erschießen drohte. Er brüllte Wintzingerode an und wollte sich auf ihn stürzen, als dieser dem Kaiser kalt und unbewegt erklärte: „Sie werden nichts davon tun, Sire! Ich diene jetzt dem Kaiser Alexander!“ Die französischen Offiziere, entsetzt über die schlechten Manieren ihres Souveräns, rissen Napoleon zurück.4) Zwar wurde Wintzingerode ein Gefangener, dinierte aber mit den Offizieren, Napoleon hingegen trotzte allein in seinem Zelt. Die Fiktion, daß ein Krieg unter Gentlemen geführt wurde, war noch aufrechterhalten worden. Im Ersten Weltkrieg war dies nur noch an der Ostfront der Fall. Im Zweiten Weltkrieg war es damit völlig aus.

Schwerwiegender waren die Gebietsveränderungen. Der Reichsdeputationshauptschluß wurde beim Wiener Kongreß nicht zurückgenommen, zahlreiche kleine und kleinste deutsche Fürstentümer, Reichsstädte und alle Bistümer waren für immer von der Landkarte verschwunden. Die früheren österreichischen Niederlande wurden mit den Generalstaaten zu einem „Königreich der Niederlande“ zusammengelegt, was einen größeren Staat mit einer starken katholischen Mehrheit unter einer reformierten Dynastie ergab.5) Zwar hatten die Flamen und die „Holländer“ eine gemeinsame Literatursprache, doch besaßen diese beiden Völker seit 300 Jahren keine innere Bindung mehr. Sowohl die flämische Oberschichte wie auch die Wallonen sprachen französisch, und so erwies sich diese künstliche Amalgamierung bald als Mißgriff. Den Völkern konnten nicht mehr willkürliche Loyalitäten zugemutet werden. Man wollte Sachsen nicht den Preußen überlassen, dafür aber wurde Preußen mit dem Rheinland entlohnt, was dort auch keine übermäßige Begeisterung hervorrief und zugleich Preußen die Aufgabe zuschob, ein Bollwerk gegen die stetige französische Expansion zu werden. (Auch sollte Rußland etwas bekommen und dafür mußten beide, Preußen und Österreich, herhalten – das Resultat war wie 1945 ein russischer Westruck!) Da man aber Frankreich unter keinen Umständen demütigen wollte, ließ man das damals kaum französisierte Elsaß6) bei Frankreich und beanspruchte auch Lothringen nicht, das kurz vor der Revolution französisch geworden war. (Die lothringischen Grafen waren noch bis 1789 im Mainzer Grafenkollegium vertreten.) Auch hier, beim Kongreß, begegnete man wieder einem „Wunder“: Der Vertreter des besiegten Landes, der Ex-Bischof von Autun, Prinz Talleyrand de Perigord, (napoleonischer) Fürst von Benevent, (neapolitanischer) Herzog von Dino, suspendiert, exkommuniziert, zivil vermählt mit der Madame Grand, spielte dank seiner Intelligenz, seines Wissens und Humors auf dem Wiener Kongreß eine führende Rolle.7) Frankreich war am Ende all seiner Aggressionskriege größer als vor der Revolution. Immerhin, ein weiterer Weltkrieg wurde für hundert Jahre auf der Grundlage des Wiener Kongresses vermieden.

Freilich darf man die Irrtümer, die damals begangen wurden, auch nicht übersehen. Nicht nur die Einwohner von Köln, Mainz, Trier und Münster, die alle unter dem Krummstab gelebt hatten, waren auf einmal „Preußen“ und trugen damit den Namen eines nichtdeutschen, baltischen Volksstamms. Auch die Freiburger, echte Vorderösterreicher, wurden „Badener“ und die Venezianer, stolze Kinder der Res Publica Christianissima, Königin der Meere, waren nun wiederum Österreicher. Vor allem hart war das Schicksal der Polen, die geteilt blieben und überdies ihr Herzland nun für ein Jahrhundert unter russischer Herrschaft sahen. Der berühmte Père Gratry hatte sehr richtig gesagt, daß Europa seit den Teilungen Polens in der Todsünde lebe,8) und dieses Übel wurde noch dadurch ärger gemacht, daß man die preußische und österreichische Beute aus der dritten Teilung den Russen gab, die nunmehr 295 Kilometer von Wien und 305 Kilometer von Berlin ihre Grenzposten stehen hatten. (Vor den drei Teilungen lag die Grenze Polens 450 Kilometer westlich von Moskau!)

Eine herzlich schlechte Lösung war auch die Errichtung des Deutschen Bundes anstelle des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.9) Er war viel zu lose, um gegen fremde Eroberungspläne eine geeinte Front darzustellen. Auch waren nunmehr, da man die alten Reichsgrenzen berücksichtigen wollte, ein Teil des Königreiches Preußen (Ostpreußen, Westpreußen und Posen) und ein Großteil der Donaumonarchie (Galizien, die Bukowina, Ungarn mit Kroatien, Dalmatien, Venetien und die Lombardei) außerhalb des Bundes. Der König von Dänemark (als Herrscher von Holstein) gehörte genau so dem Bund an wie der König der Niederlande (als Souverän des nördlichen Limburg). Selbstverständlich waren auch Luxemburg und Liechtenstein in der evangelischen Paulskirche vertreten, die in Frankfurt am Main nicht unweit von der katholischen Kathedrale stand, in der früher die geheiligten (sacrae nicht sanctae) römisch-deutschen Kaiser gewählt wurden. Diese „Lösung“ war nicht rein national, denn es befanden sich innerhalb der Grenzen des Bundes Nichtdeutsche (Wenden, Tschechen, Mährer, Slowenen, Italiener), dafür aber auch Deutsche außerhalb des Bundes – in Schleswig, in Ost- und Westpreußen, in Posen, in Ungarn, im Elsaß und in Lothringen. Auch war der Bund leider so konstruiert, daß er den deutsch-preußischen Krieg des Jahres 1866 nicht verhindern konnte und natürlich ebensowenig die preußisch-italienische Allianz. Auch kam kein anderer deutscher Staat Österreich zur Hilfe, als es von Napoleon III. angegriffen wurde.

Keineswegs gelöst waren die Verhältnisse auf dem Balkan, wo die Griechen und die Serben sich besonders heftig gegen die türkische Herrschaft wehrten. Die Einverleibung des Königreichs Polen (Kongreßpolens) in Rußland, wie auch die russische Herrschaft über Finnland bargen genau so einen Sprengstoff in sich, wie die Personalunion zwischen Schweden und Norwegen. (Die norwegische Krone, die unter der jahrhundertelangen dänischen Herrschaft nichtexistent gewesen war, wurde nunmehr mit der schwedischen vereint.) Auch hier war es der russische Expansionsdrang, der Unheil gebracht hatte, denn Schweden erhielt die norwegische Krone als Entschädigung für Finnland. Und England hatte seine Position im Mittelmeer wieder ausgebaut: es behielt Malta (und gab es dem Orden nicht zurück), dazu kamen dann noch die Ionischen Inseln. Es dachte nicht daran, Gibraltar aufzugeben, und bekam im 19. Jahrhundert noch zusätzlich Zypern und Ägypten.

Die Französische Revolution schien liquidiert, doch der Schein trog. Der Jubelschrei des amerikanischen Staatsmannes, Gouverneur Morris: „Die Bourbonen sind wieder auf ihrem Thron: Europa ist frei!“,10) war nicht nur verfrüht, sondern auch auf lange Sicht gegenstandslos. Die Französische Revolution spielt in unserem Denken, Fühlen und in unseren Überzeugungen eine verhängnisvolle Rolle. Die niedrigen Leidenschaften, die damals entfacht wurden, glimmen weiter. Die beiden Niederlagen – die der Revolution und die ihres Produkts, Napoleons, – können mit einer Krebsoperation verglichen werden, die den Hauptherd entfernt, aber die schon in der Entwicklung befindlichen Metastasen außeracht läßt. Was dann nachfolgt, ist eine Zeit der Scheingesundheit, bis der Krebs sich wieder unheilvoll bemerkbar macht.