Kitabı oku: «Gleichheit oder Freiheit?», sayfa 7
»In the weakness of one type of authority, and in the fluctuation of all the officers of an army will remain for some time mutinous and full of faction, until some popular general, who understands the art of conciliating the soldiery, and who possesses the true spirit of command, shall draw the eyes of all men upon himself. Armies will obey him on his personal account. There is no other way of securing military obedience in this state of things. But the moment in which that event shall happen, the person who really commands the army is your master; the master (that is little) of your king, the master of your assembly, the master of your whole republic.«249
Jedoch fürchteten die Denker des 19. Jahrhunderts den Bonapartismus auf dem Umwege des allgemeinen Wahlrechts mehr als den reinen Boulangismus. John Adams sah die Revolutionen als Resultat des allgemeinen Wahlrechts250, Madison fürchtete für den Privatbesitz (und damit auch für die Freiheit)251, Jefferson quälte sich mit Schaubildern einer durch Verstädterung und die Korruption der canaille zerstörten Republik. Auch Fisher Ames ahnte das Kommen einer Militärdiktatur:
»A democracy cannot last. Its nature ordains that its next change shall be into a military despotism – of all known governments, perhaps, the most prone to shift its head, and the slowest to mend its vices.
…A democracy, a party and an army bear a close resemblance to each other; they are all creatures of emotions and impulses.«252
Die Geschichte lehrt uns jedoch, daß eine Parteidiktatur, dank ihrer ideologischen Festsetzung, ein viel größeres Übel ist als der Despotismus einfältiger oder einseitiger Berufsoffiziere. Die These, daß Hitler lediglich durch eine Verschwörung kleiner, egoistischer Klüngel zur Macht gelangte und nicht hauptsächlich mit Hilfe der Wahlurne, ist heute auch wohl nicht mehr haltbar253. Die Halder-Beck-Verschwörung und die Geschichte des 20. Juli, die nun besser bekannt ist, haben ein ganz neues Licht auf die Grundhaltung der früheren »Oligarchen« geworfen. Immerhin aber muß zugegeben werden, daß die der totalitären Tyrannis vorhergehende demokratische Epoche sich auf die gesellschaftlichen Oberschichten oft unheilvoll auswirkt. Dieser Umstand wurde von William Lecky eindeutig vorausgesehen; voll Angst vor einer Abkehr der oberen Klassen vom vorbehaltlosen Glauben an die Unbedingtheit der Verfassungen schrieb er:
»There are other ways in which democracy does not harmonize well with liberty. To place the chief power in the most ignorant classes is to place it in the hands of those who naturally care least for political liberty, and who are most likely to follow with an absolute devotion some strong leader. The sentiment of nationality penetrates very deeply into all classes; but in all countries and ages it is the upper and middle classes who have chiefly valued constitutional liberty, and those classes it is the work of democracy to dethrone. At the same time democracy does much to weaken among these also the love of liberty. The instability and insecurity of democratic politics; the spectacle of dishonest and predatory adventurers climbing by popular suffrage into positions of great power in the State; the alarm which attacks on property seldom fail to produce among those who have something to lose, may easily scare to the side of despotism large classes who, under other circumstances, would have been steady supporters of liberty.«254
Wie wir sehen, war oft der energische Wille, die predatory adventurers, die »räuberischen Abenteurer« am Aufstieg zu verhindern, einfach nicht da. Die Quasi-Diktatur Brünings, Schleichers und, später noch, Papens wurde schließlich durch eine Regierung auf »breiterer« d. h. mehr demokratischer Basis ersetzt. Dieses Regime schloß die Nationalsozialisten als herrschendes Element ein, und so wurde nicht nur das Schicksal der oberen Schichten, sondern ganz Deutschlands und Europas verhängnisvoll bestimmt.
Bismarck selbst fürchtete eine negative Entwicklung durch die Demokratisierung der Verfassung. In seinen Gedanken und Erinnerungen schrieb er prophetisch:
»Jedes große, staatliche Gemeinwesen, in welchem der vorsichtige und hemmende Einfluß der Besitzenden, materiellen oder intelligenten Ursprungs, verlorengeht, wird immer in eine der Entwicklung der ersten französischen Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geschwindigkeit gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer durchschlagende Übergewicht der großen Masse. Es ist im Interesse der Masse selbst zu wünschen, daß dieser Durchschlag ohne gefährliche Beschleunigung und ohne Zertrümmerung des Staatswagens erfolge. Geschieht die letztere dennoch, so wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrschaft, zum Absolutismus zurückführen, weil auch die Massen schließlich dem Ordnungsbedürfnis unterliegen, und wenn sie es a priori nicht erkennen, so sehn sie es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und Cäsarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten und festzuhaltenden Maßes von Freiheit, das europäische staatliche Gesellschaften vertragen, ohne zu erkranken.
Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine wesentliche Verminderung der Sicherheit der Zukunft ansehn, wenn wir auch in Deutschland in den Wirbel dieses französischen Kreislaufes geriethen.«255
Die von Lecky so bedauerte Unwissenheit der unteren Klassen beruht aber in den »fortschrittlichen« Demokratien auf Halbbildung eher denn auf völliger Ignoranz, ein Umstand, der das Gefahrenmoment nur noch erhöht. Man hat darauf hingewiesen, daß »mehr Erziehung« meistens eine niedrigere Bildung bedeutet256; ein kluger Forscher der Vorgeschichte des Nationalsozialismus bestand auch darauf, daß Hitlers Botschaft bei einem des Lesens und Schreibens unkundigen oder nicht einmal halbgebildeten Volk kaum einen Anklang hätte finden können257. A. J. Toynbee sprach von der geistigen Tyrannei der »allgemeinen Bildung«, die jedes selbständige Denken erstickt258, eine Ansicht, die schon früher Sir Henry Maine geäußert hatte259. Es kann auch kein Zweifel bestehen, daß der Schulzwang einen entscheidenden Schritt zum totalitären Staat bedeutete, eine Tatsache, die im Rückblick von nur sehr wenigen richtig eingeschätzt wird260.
Die Annahme, daß die Kinder dem Staat (oder der »Gesellschaft«), nicht aber in erster Linie ihren Eltern angehören, ist für das Prinzip des Schulzwanges von grundlegender Bedeutung. D. A. de Sade, der »göttliche Marquis«, bestand darauf, daß die Kinder Besitz der Republik sind261. In einer »Wahlpredigt« vor dem General Court des Staates New Hampshire forderte John Belknap im Jahre 1785 die gleiche und obligatorische Erziehung für alle und stellte fest, daß die Kinder dem Staate und nicht ihren Erzeugern angehören262. Benjamin Rush, der Freund Franklins und Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung Amerikas, setzte sich für eine allgemeine Erziehung ein, um so die Nation im Zeichen der Gleichheit zu vereinheitlichen263. Im Jahre 1791 machte Robert Coram den recht bezeichnenden Vorschlag, Schulen zu gründen, in denen weder Religion noch tote oder lebende Fremdsprachen gelehrt würden264 – der Traum der nationalsozialistischen Schulreformer und mancher ihrer Epigonen in der US-Besatzungszone des Reichs265. In der Mitte des 19. Jahrhunderts propagierte Frances Wright den Pflichtbesuch staatlicher Schulen für alle Kinder; sie sollten vom zweiten bis zum sechzehnten Lebensjahr von ihren Eltern getrennt und in Staatsinternaten erzogen werden. Ernährung, Kleidung sowie die Bildung sollten in diesen völlig standardisiert sein266.
Der Ausbau des Allgemeinwissens konnte jedoch das Abgleiten des Bildungsniveaus unter den demokratischen Volksführern und Parteiobmännern nicht hintanhalten. Eine Prüfung der Politiker auf Wissen und geistige Eignung ist dem demokratischen Empfinden zuwider267; der Pessimismus Proudhons der Demokratie gegenüber fußt jedoch auf den intellektuellen Eigenschaften der wählenden Massen:
»Livrée à elle même ou menée par ses tribuns, la multitude ne fonda jamais rien. Elle a la face tournée en arière; aucune tradition ne se forme chez elle; pas d’esprit de suite, nulle idée qui acquière force de loi. De la politique elle ne comprend rien que l’intrigue, du gouvernment que les profusions et la force, de la justice que la indicte; de la liberté que la faculté de s’ériger des idoles qu’elle démolit le lendemain. L’avènement de la démocratie ouvre une ère de rétrogradation qui conduirait la nation et l’État à la mort…«268
Da die Massen mit diesen verhängnisvollen Eigenschaften belastet erscheinen, ist es kaum zu erwarten, daß ihre Mandatare ihnen weit überlegen sind. Doch machte es sein neuweltlicher Optimismus Andrew Jackson möglich, in seiner ersten Jahresbotschaft als Präsident der Vereinigten Staaten zu erklären, daß »the duties of all public offices are, or at least admit, of being made so plain and simple that men of intelligence may readily qualify themselves for their performance«269. Heutzutage würde diese Ansicht von ernsthaften Leuten kaum geteilt werden270. Schon Spinoza war davon überzeugt, daß intelligente Menschen in einer Demokratie schließlich gegen die Herrschaft der Massen rebellieren würden, weil deren »Unbeständigkeit diejenigen, die über (politisches) Wissen verfügen, zur Verzweiflung treiben, da sie ja ausschließlich von Gefühlen und nicht vom Verstand beherrscht werden«271. Menschen mit Wissen und Erfahrung können es nicht leicht ertragen, wenn sie von den Massen beurteilt und gemaßregelt werden. In diesem Falle droht der Sturz der Demokratie von seiten gewisser Gruppen, die nicht notwendigerweise einem krassen Egoismus huldigen, sondern ehrlich für das Gemeinwohl bangen. Niebuhr, der sich ebenfalls der Gefahr der wachsenden Flut des Dilettantismus bewußt war, schrieb am 25. März 1820 von Rom:
»…über die Fragen des Staats und alle die höchsten Dinge dieser hohen Kunst, für die es eben so gut ein Talent und ein Geschick zur Ausbildung wie für andere Künste giebt, und welches eben so selten ist, wird jetzt mit einem Hochmuth und einer Oberflächlichkeit abgesprochen, bei der die, welche Einsicht haben, sich ärgern oder betrüben müssen. Ohne die Menschen zu kennen, ohne über Politik einige Einsicht zu haben, ohne die Absichten und Mittel und Schwierigkeiten zu kennen, preißt und verschreit man.
Daß man entfernt von Personen und Verhältnissen wichtig über sie urtheilen soll, kann Niemand fodern (sic); aber, daß man, wenn man, wer nicht die Mittel auf den Grund zu sehen, sich bescheide, das kann man fodern.«272
Der demokratische Dilettantismus ist dem Wissen gegenüber feindselig eingestellt, dem ja immer eine gewisse »aristokratische« und esoterische Eigenschaft anhaftet. Dieser innere Widerstreit zwischen Demokratie und Wissen fand seinen prägnantesten Ausdruck in der Bemerkung des wütenden Montagnard, der auf den Einwand von Lavoisiers Verteidiger, daß sein Klient ein bedeutender Gelehrter sei, diesem zuschrie: »La République n’a pas besoin des savants!« Und Lavoisier wurde geköpft.
Alle diese Faktoren trugen zur Vorbereitung einer neuen Sklaverei bei, deren tiefere, metaphische Grundlagen Dmitri Mjereshkowskij schon zu Beginn dieses Jahrhunderts erriet273. Doch bereits viel früher, im Jahre 1830, schrieb Niebuhr kurz vor seinem Tode seinem Freund Moltke:
»Die Wahrheit der Sache ist die enthüllte Bettelarmuth des Volkes, welche es nicht länger ertragen will; die bereitet denn – zwar nicht etwas unter der Sonne ganz Neues, wohl aber was seit Jahrhunderten unerhört war, und eben unseren Politikern, welche das Vermögen an die Stelle Gottes ins Allerheiligste gesetzt hatten, noch jetzt undenkbar scheint, – eine Revision des Eigenthums. Wir sind in den Zustand Roms nach den Zeiten der Gracchen geraten, mit all seinen Gräßlichkeiten – und wer das nicht sieht, ist blind: wer da glaubt es sey von Freiheit die Rede, ist ein Thor: Formen halten nichts mehr, wir werden den Despotismus segnen wenn er unser Leben schützt, wie die Römer den Augustus segneten. Daß vernünftige Männer dies thun konnten, hatte ich längst begriffen: nun ist es mir vollends lebendig klar; und nun begreife ich auch Catilina.«274
Auf die kommenden Unruhen hinweisend, schloß er:
»Und es bilde sich nun niemand ein, daß wenigstens freie Constitutionen daraus hervorgehen würden: es wird sehr schnell zu einem absoluten militairischen Despotismus führen, der sich schwerlich auch nur so wie der Napoleonische mit äußeren Formen genieren würde.«275
Ernest Renan hegte ähnliche Befürchtungen; von der Dialektik, die dem Militarismus und Revolutionismus so eigen ist, schrieb er:
»Le besoin d’ordre qu’éprouvent nos vieilles sociétés européennes, coincidant avec le perfectionnement des armes, donnera en somme aux gouvernements autant de force que leur en enlève chaque jour le progrès des idées révolutionires. Comme la religion, l’ordre aura ses fanatiques. Les sociétés modernes offrent cette particularité, qu’elles sont d’une grande douceur quand leur principe n’est pas en danger, mais qu’elles deviennent impitoyables si en leur inspire des doutes sur les conditions de leur durée. La société qui a eu peur est comme l’homme qui a eu peur: elle n’a plus toute sa valeur morale.«276
Diese Entwicklung war um so wahrscheinlicher, als das Gerüst des Demokratismus selbst schon destruktive und negativ-evolutionäre Möglichkeiten barg. Nietzsche bemerkte:
»Wer sich einen starken Willen bewahrt und anerzogen hat, zugleich mit einem weiten Geiste, hat günstigere Chancen denn je. Denn die Dressierbarkeit der Menschen ist in diesem demokratischen Europa sehr groß geworden; Menschen, welche leicht lernen, leicht sich fügen, sind die Regel: das Herdentier, sogar höchst intelligent, ist präpariert. Wer befehlen kann, findet die, welche gehorchen müssen.«277
Der Verdacht, daß die moderne technische Entwicklung stark versklavende Eigenschaften besitzt, wurde von de Tocqueville nicht weniger als von Jacob Burckhardt geteilt, und viele heutige Beobachter würden mit ihnen übereinstimmen278. Burckhardt verabscheute auch die Begleiterscheinungen der Industrialisierung, den überwuchernden Kapitalismus und die Drohung des Sozialismus:
»Alle Ihre und unsere jungen Leute müssen nun in dieses magnum mare hinein und darin irgendwie schwimmen lernen. Einmal werden der entsetzliche Kapitalismus von oben und das begehrliche Treiben von unten wie zwei Schnellzüge auf denselben Geleisen zusammenprallen.«279
Henry Adams prophezeite ähnliches:
»So with the capitalists. They have abandoned their old teachers and principles, and have adopted socialist practices. There seems to be no reason why the capitalist should not become a socialist functionary. Solidarity is now law.«280
Constantin Frantz, der Zeitgenosse Burckhardts, verstand ebenfalls die innere Affinität zwischen Demokratie und Zentralisierung; auch sah er deutlich, wie die Zentralisierung, von der Demokratie selbst gefördert, diese mit tödlicher Sicherheit in ihrer Existenz bedroht281. Troeltsch ließ sich ebensowenig von den Versprechungen des Parlamentarismus blenden. Er sagte:
»Unsere wirtschaftliche Entwicklung steuert eher einer neuen Hörigkeit zu, und unsere großen Militär- und Verwaltungsstaaten sind trotz aller Parlamente dem Geiste der Freiheit nicht lediglich günstig.«282
So sehen wir also, daß die bedeutendsten Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Vorahnungen der Sklaverei und Tyrannis gequält und von Schaubildern weitgehender, die demokratischen Zwischenspiele ablösender Zusammenbrüche verfolgt wurden; sie sahen das Schreckgespenst einer ἀναϰύϰλωσις, wie sie Polybius gezeichnet hatte, einer unbarmherzigen Wiederholung geschichtlicher Zeitläufe, die in Burckhardts unergründlichem magnum mare enden würde, dem dunklen und chaotischen Ozean des Ungewußten und nur Geahnten, in dem menschliche Knechtschaft und Entwürdigung die einzigen Gewißheiten sind.
6.Das Zeitalter des Kollektivismus
Es steht aber nur zu eindeutig fest, daß die Französische Revolution den einzigen bewußten Auftakt zu unserem Zeitalter des Kollektivismus, der Kontrolle und des kombiniert horizontal-vertikalen Druckes von seiten der Gesellschaft und des Staates gebildet hat. Hitler soll vor seinen Mitarbeitern geprahlt haben, daß die nationalsozialistische Bewegung das genaue Gegenstück zur Französischen Revolution sei283. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden geschichtlichen Ereignissen sind so zahlreich, daß sie keiner weiteren Hinweise bedürfen. Ein Blick auf Friedrich Georg Jüngers Gedicht »Der Mohn« (2. Strophe) und ein Vergleich mit Benjamin Constants Beschreibung des demoralisierenden Einflusses der modernen Tyrannis zeigen deutlich die ethische Übereinstimmung zwischen diesen beiden Systemen. Constant schrieb:
»Le despotisme, en un mot, règne par le silence, et laisse à l’homme le droit de se taire: l’usurpation le condamne à parler, elle le poursuit dans le sanctuaire intime de sa pensée, et, le forçant à mentir à sa conscience, elle lui ravit la dernière consolation qui reste encore à l’opprimé.«284
Und dennoch ist es offensichtlich, daß der Mangel an einem echten und weitverbreiteten Widerstand gegen die Tyrannis Gründe haben muß, die noch tiefer gehen. Solowjow hegte keinen Zweifel, daß die Reste der Christenheit mit noch raffinierteren Mitteln verfolgt werden würden als zur Zeit Neros285, und auch Wassilij Rozanow wußte, daß das Sein oder Nichtsein des Christentums für unsere Existenz von entscheidender Bedeutung ist:
»Die tiefere Ursache für alles, was nun geschieht, liegt in dem Umstand, daß durch das Verschwinden des Christentums im europäischen Teil der Menschheit enorme Höhlen entstanden, und in diese Hohlräume stürzt nun alles hinein.«286
Selbst Max Weber war sich dieses religiösen oder, besser gesagt, irreligiösen Hintergrundes der modernen Sklaverei voll bewußt287. H. F. Amiel war nicht weniger scharfsichtig, als er am 17. Juli 1852 in bezug auf den Aufstieg Louis Napoléons, dessen milde plebiszitäre Diktatur uns heute wohl kaum aufregen würde, die folgenden Zeilen schrieb:
»Tous les despotismes ont un instinct supérieur et divinatoire de ce qui entretient l’indépendance et la dignité humaines, et il est curieux de voir nos radicaux entendre l’école tout comme le prince-président, et l’enseignement réaliste servir partout à étouffer sous les faits la liberté d’examen portée sur les questions morales. Le matérialisme est la doctrine auxiliaire de toute tyrannie, d’un seul ou des masses. Écraser l’homme spirituel, moral, général, humain, si l’on peut dire, en le spécialisant; créer des rouages de la grande machine sociale et non plus des êtres complets, leur donner pour centre la société et non la conscience, asservir l’âme au choses, depersonnaliser l’homme, c’est la tendance dominante à notre époque. Atomisme moral et unité social, substitution des lois à la nature morale (persuasion, adhésion, foi); l’égalité, principe du médiocre devenant dogme, l’unité par l’uniformité (catholicisme de la démocratie mal entendue); le nombre devenant raison; toujours la quantité au lieu de la qualité; la liberté negative qui n’a aucune règle en soi, et ne rencontre de limite que dans la force.«288
Der Materialismus aber kann – und in einem gewissen Sinn: muß – deterministische Formen annehmen. De Tocqueville konnte sich nicht enthalten zu bemerken, daß:
»Les historiens qui vivent dans les temps démocratiques ne refusent donc pas seulement à quelques citoyens la puissance d’agir sur la destinée du peuple, ils ôtent encore aux peuples eux-mêmes la faculté de modifier leur propre sort, et ils les soumettent soit à une providence inflexible, soit à une sorte de fatalité aveugle…
Si cette doctrine de la fatalité, qui a tant d’attraits pour ceux qui écrivent l’histoire dans les siècles démocratiques, passant des écrivains à leurs lecteurs, pénétrait ainsi la masse entière des citoyens et s’emparait de l’esprite public, ont peut prévoir qu’elle paralyserait bientôt le mouvement des sociétés nouvelles, et réduirait les chrétiens en Turcs.«289
Von dieser bemerkenswerten Prophezeiung einer orientalisierten Form des Marxismus können wir uns dem »göttlichen Marquis« zuwenden, der sich in dieser Angelegenheit noch schärfer ausgedrückt hat:
»Pédants, bourreaux, guichetiers, législateurs, racaille tonsuré, que fairez vous, quand nous en serons là? Que deviendront vos lois, votre morale, votre religion, vos potences, votre paradis, vos Dieux, votre enfer, quand il sera démontré que tel ou tel cours de liqueurs, telle sorte de fibres, tel degré d’acreté dans le sang ou dans les esprits d’animaux suffisent à faire d’un homme l’objet de vos peines ou de vos récompenses?«290
Es ist sehr richtig gesagt worden, daß der Hinweis auf die Unvermeidlichkeit ein »Appell an Sklaven ist, die Sklaverei zu ertragen«291. Das Dilemma eines orthodoxen Marxisten, der vor dem Paradoxon eines materialistischen Dogmas einerseits und einer auf persönlicher Verantwortung beruhenden Parteiherrschaft anderseits steht, ist natürlich nicht zu lösen292. Es kann nicht bezweifelt werden, daß der gleichzeitige oder sich stets abwechselnde Glaube an eine Vorherbestimmung und an einen freien Willen bald der unmenschlichsten Barbarei Tür und Tor öffnet. Die totalitären Diktaturen machten von diesem ideologischen Gemisch ausgiebigen Gebrauch, und es ist sehr bezeichnend, daß die Prawda am Tage vor dem deutschen Angriff auf die UdSSR einen die ganze dritte Seite füllenden Artikel über das Problem des freien Willens brachte. Der Begriff einer libertas arbitrii wurde in diesem Aufsatz als eine bürgerliche Sentimentalität abgelehnt293. Alle Schrecken, die nun über Rußland hereinbrachen (obzwar durch Stalins Allianz mit Hitler im August 1939 heraufbeschworen), waren hiermit als »unvermeidlich« gekennzeichnet…
Das Problem des freien Willens ist hauptsächlich theologischer Natur. Die Reformation des 16. Jahrhunderts stellte sich in dieser Frage auf den Boden der Vorherbestimmung294. Hierin liegt ein Hauptteil ihrer Bedeutung für die folgende geistig-politische Entwicklung des Abendlandes. Ihre zweite, bleibende Tat war, wie Troeltsch uns versichert, die endgültige Zerstörung der kirchlichen Kultur in seinem Bereich295. Diese Schwächung der ekklesiastischen Traditionen hinwiederum wirkte sich sofort – aus psychologischen mehr denn aus theologischen Gründen – in einer weitgehenden Verkrüppelung und Verkümmerung der ganzen religiösen Grundlagen der christlichen Ethik aus… eine Katastrophe, die für unsere heutige verhängnisvolle Lage unmittelbar verantwortlich ist296. Napoleon war dieser Entwicklung gegenüber nicht blind; scharfsinniger als seine Zeitgenossen und Nachahmer, sagte er einmal:
»On a vu jusqu’à présent de bons enseignements que dans les corps ecclesiastiques. Je préfère voir les enfants d’un village entre les mains d’un homme qui ne sait que son catéchisme et dont je ne connais les principes, que d’un quart de savant qui n’a point de base pour sa morale et point d’idée fixe. La religion est la vaccine de l’imagination, elle la préserve de toutes les croyances dangereuses et absurdes. Un frère ignorantin suffit de dire à l’homme du peuple: ›Cette vie est un passage.‹ Si vous ôtez la foi au peuple vous n’aurez que des voleurs de grand chemin.«297
Der große amerikanische Prophet und Dichter Herman Melville, obwohl selbst kein Katholik, war von dem Gedanken durchdrungen, daß die Kirche Roms dank ihrer Schlüsselstellung unter den Religionen der Welt das Hauptangriffsziel aller Gottlosigkeit darstellen würde. Die Schwächung oder der Fall der Kirche Roms würde das Kommen des »finsteren Zeitalters der Demokratie« beschleunigen, das Melville so sehr befürchtete. So ließ er die Figur des Dominikaners in seinem »Clarel« vor seinem Scheiden die warnenden Worte sprechen:
He turned and would have gone: but no,
New matter struck him: ›Ere, I go
Yet one word more; and bear with me;
Whatever your belief may be –
If well ye wish to human kind,
Be not so mad, unblest and blind
As, in such days as these to try
To pull down Rome. If Rome could fall
T’would not be Rome alone, but all
Religion. All with Rome have tie,
Even the railers which deny,
All but the downright Anarchist,
Christ-hater, Red and Vitriolist.«298
Doch hegte er starke Befürchtungen, daß Genf und Wittenberg sich auf die Seite der Feinde des historischen Christentums schlagen würden:
»Rome and the Atheist have gained;
These two shall fight it out – these two;
Protestantism being retained
For base of operations sly
By Atheism…«299
In der rein politischen Sphäre Europas tobte der Streit zwischen den beiden Strukturformen, Monarchie und Republik, mit besonderer Erbitterung. Dieser Gegensatz wirft seinen Schatten bis in unsere Zeit, in der die »Führer« die »Herrscher« verdrängen und allmächtige Parteibonzen durch ihre enorme Macht den Glanz der übrigbleibenden Kronen zum Verblassen bringen. Der Sieg des Republikanertums und die Vermehrung republikanischer Einrichtungen wurde aber von fast allen Denkern des 19. Jahrhunderts vorausgesehen. Einer von diesen, Jacob Burckhardt, schrieb da im Jahre 1882 an Friedrich von Preen, mit dem er sich so leidenschaftlich gerne über politische Fragen aussprach:
»Für mich ist es schon lange klar, daß die Welt der Alternative zwischen völliger Demokratie und absolutem, rechtlosem Despotismus entgegentreibt, welcher letztere dann freilich nicht mehr von Dynastien betrieben werden möchte, denn diese sind zu weichherzig, sondern von angeblich republikanischen Militärkommandos. Man mag sich nur noch nicht gern eine Welt vorstellen, deren Herrscher von Recht, Wohlergehen, bereichernder Arbeit und Industrie, Kredit usw. völlig abstrahieren und dafür absolut brutal regieren könnten.«300
Der Furcht vor einer absoluten Parteiherrschaft unter einem neuen »Führertum« gab auch Constantin Frantz lebhaften Ausdruck, der aber natürlich die mittelalterliche Form der Monarchie jener der Renaissance vorzog301. Für ihn sowohl als auch für Max Weber lag die wahre Funktion des Monarchen in dem Schutz, den dieser den Schwachen gewährt, und in der Kontrolle der in wenigen Händen künstlich konzentrierten Macht302. B. G. Niebuhr, der mit wachsender Verzweiflung die Zeitströmungen beobachtete, schrieb im Jahre 1820:
»Ganz Europa wird von wilden Revolutionen bedroht, einem eisernen Despotismus, und Deutschland der fremden Knechtschaft entgegengetrieben.
So Spanien! Für den König Ferdinand mag es keine zu harte Strafe geben: aber, denke an meine Voraussagung; die Constitution kann, wirklich ausgeführt, nicht sechs Monate bestehen: dies anarchische Ungeheuer! Ein großer Theil des Landes will sie gar nicht; ganze Provinzen: und auch da kennt man keine Weisheit als den Götzen der glatten Einförmigkeit, dem Millionen ihre Freiheit aufopfern sollen! Da kann es nun nichts anderes geben als ein Militairregiment und in diesem wieder einer gegen den anderen, bis einer siegt und wieder gestürzt wird. Wir gehen auf den Zustand hin im Römischen Kaiserreich, als absolute Fürsten ohne Thronfolge herrschten. Unsere Erbdynastien sind ein Glück, welches man erkennen wird, wenn es verloren. Nicht, daß jede Erbdynastie es wäre – eben in Spanien mögen die Sünden groß seyn –, aber daß eine Catastrophe das größte Unglück ist, fühle ich mit voller Gewißheit.«303
Diese Prophezeiungen, von denen uns einige stark an José Ortega y Gassets Ideen gemahnen, haben sich alle erfüllt. Es ist aber nicht einfach zu entnehmen, welcher Art die von Niebuhr erwartete »fremde Knechtschaft« des Reichs sein würde. Aus einem anderen Brief zu schließen, könnten sich seine Befürchtungen auf Frankreich bezogen haben (er schreibt da von einem »Tiger im Westen«)304, doch deutet der folgende Absatz unzweifelhaft auf Rußland hin:
»Gott helfe uns zu tragen, was wir nicht abwehren kön-