Kitabı oku: «Gleichheit oder Freiheit?», sayfa 8
7.Die Propheten der russischen Gefahr
Auch Max Weber sah diese Alternative Amerika – Rußland, doch war er überzeugt, daß keine dieser beiden Mächte dank deren geographischem Charakter (große Ebenen, die zum Schematismus neigen!) die Eignung hätte, eine Bastion der Freiheit zu sein oder auch zu werden306. Der Pessimismus der europäischen Liberalen in bezug auf Amerika kann fast eine Tradition genannt werden: Heinrich Heine sowohl als Dickens und Keyserling zweifelten an der Freiheitsliebe der Vereinigten Staaten307. In viel größerem Ausmaß wurde jedoch Rußland gefürchtet, und diese dunkle Furcht finden wir bei Katholiken sowohl als auch bei Evangelischen, bei Liberalen sowohl als auch bei Konservativen. Diese alpdruckhafte Angst wurde von zahlreichen Russen von Alexander Herzen bis Dmitri Mjereshkowskij genährt und geschürt308. Herzen sah die großen Möglichkeiten einer extremistischen Revolution in Rußland, Möglichkeiten, die es im Abendland oder in Amerika, das für ihn nur ein »Ausläufer des Westens« war, nicht gab309. Er sagte:
»Europa und die niederen Volksklassen werden in einer Revolution nicht alles aufs Spiel setzen. Dafür sind sie zu zivilisiert.«310
Für sein Vaterland aber lehnte er solch unmännliche Vorsicht ab:
»Wir sind Sklaven und haben [jetzt] keine Möglichkeit, uns selbst zu befreien, doch von unseren Feinden wollen wir nichts annehmen.
Rußland wird nie ›protestantisch‹ werden.
Rußland wird nie juste-milieu sein.«311
Andererseits ist der Russe nach Ansicht Herzens gutes Material für grundlegende Änderungen, denn:
»… der denkende Russe ist der unabhängigste Mensch in der Welt… unter zwingenden Umständen befreit sich der Russe mit seiner klaren Sicht und seiner unbestechlichen Logik schnell vom Glauben und den Sitten seiner Väter.«312
Ähnlich äußerte sich de Maistre:
»Ainsi exposés sans préparations ils [die Russen] passeront infailliblement et brusquement de la supersition à l’athéisme, et d’une obéissance passive à une activité effrénée.«313
Rußland, so versicherte uns Herzen, ist ein guter Boden für ein despotisches Regime, da dieses bei sehr jungen oder auch bei alten und dekadenten Nationen wohl gedeiht314. Rußland gehört zu den ersteren und könnte den Sozialismus als Nationalgedanken annehmen315. Schließlich würde sich ein Kampf zwischen dem Westen und den Russen entspinnen, die vielleicht Barbaren sein mögen, aber »das Ende der Alten Welt vorausfühlen und deren Memento mori sind«316. Genau so wie einst Europa bis zum Ural vordrang, werden die Slawen, von einem sozialistischen Rußland geführt, in Europa bis zum Atlantik vorstoßen und den Kontinent beherrschen317. Grimmig fügte Herzen hinzu:
»Auf jeden Fall würde so ein Krieg eine introduzione maestosa e marziale der Slawen in die Weltgeschichte sein, und zugleich auch una marcia funebre der Alten Welt.«318
Dostojewskij hatte ähnliche Vorahnungen319. In der Beurteilung des russischen Charakters waren die Ansichten Konstantin Leontjews denen Herzens sehr ähnlich. Leontjew berichtete uns:
»Die russische Gesellschaft, die bereits gleichmacherisch in ihren Gebräuchen ist, wird schneller als alle anderen Gesellschaften den schicksalsschweren Weg der allgemeinen Verwirrung gehen. Und wer weiß, ob wir nicht wie die Juden, die unerwarteterweise den Schöpfer einer neuen Lehre gebaren, plötzlich den Antichrist der Welt schenken würden. Dieser wird den Eingeweiden unseres politischen Systems entspringen, das zuerst alle Klassenunterschiede von sich werfen wird, um dann auch mit allen kirchlichen Prinzipien zu brechen.«320
Leontjews Schaubilder der russischen Revolution entsprechen völlig der Wirklichkeit von 1917. Dieser erbitterte Feind der Demokratie, des nationalen Sozialismus und des Liberalismus sah dennoch deutlich, daß das Verhältnis von Kapital und Arbeit geändert werden müßte, falls eine Revolution vermieden werden sollte321.
Der liberale Katholik Chateaubriand konnte sich auch keinem größeren Optimismus hingeben. Er fürchtete für die Zukunft Europas, er fürchtete sich vor Rußland. Wir verdanken George Ticknor eine Wiedergabe seiner düsteren Prophezeiungen. »Je ne crois pas dans la société Européenne«, erklärte der brillante Autor des Génie du christianisme in einer Gesellschaft:
»In 50 Jahren wird es keinen legitimen Herrscher mehr in Europa geben; von Rußland bis Sizilien sehe ich nur Militärdiktaturen voraus; und erst in hundert Jahren – in hundert! Diese Wolke ist zu dunkel, um vom menschlichen Auge, zu dunkel, um selbst von prophetischer Vision durchdrungen zu werden. Darin liegt auch vielleicht das Elend unserer Lage; wahrscheinlich leben wir nicht nur in der Verfallszeit Europas, sondern auch in jener der ganzen Welt.«322
Als man ihn fragte, was der Einzelne in einer so tragischen Epoche tun sollte, antwortete er:
»Wenn ich keine Familie hätte, würde ich reisen; nicht etwa weil ich das Reisen liebe, denn ich verabscheue es, sondern weil ich mich darnach sehne, Spanien zu sehen, denn ich will erfahren, was acht Jahre Bürgerkrieg dort hervorgebracht haben; sehr gerne möchte ich auch Rußland sehen, damit ich die Macht, die uns zu überwältigen droht, besser einschätzen könnte. Nachdem ich diese beiden Länder gesehen hätte, würde ich, so wenigstens glaube ich, die endgültigen Schicksale Europas kennen…«323
De Tocqueville, der der folgenden Generation Frankreichs angehörte, fürchtete Rußland als Nation und weniger wegen seiner revolutionären Möglichkeiten. Im Jahre 1855 schrieb er an N. W. Senior:
»Ich glaube wie Sie, daß Rußland eine große Gefahr für Europa bedeutet, um so mehr als ich eine besondere Gelegenheit hatte, die wahren Quellen seiner Macht zu studieren und auch deswegen, weil ich diese Quellen für beständig halte, ganz davon abgesehen, daß sie außerhalb des Bereiches fremder Angriffe sind. (Die Gründe dafür habe ich jetzt nicht die Zeit, Ihnen zu erklären.) Ich bin auch zutiefst davon überzeugt, daß die westlichen Mächte weder durch die Wegnahme einer Stadt oder gar einer Provinz noch durch diplomatische Vorsichtsmaßregeln und noch weniger durch die Aufstellung von Wachtposten an seinen Grenzen den Vormarsch Rußlands auf die Dauer aufhalten können.
Ein zeitweiliges Bollwerk kann man gegen Rußland errichten, aber ein unvorhergesehener Zwischenfall kann es zerstören, oder auch ein Wechsel der Allianzen oder der inneren politischen Richtung wertlos machen.
Ich bin überzeugt, daß Rußland nur dadurch im Zaume gehalten werden kann, daß man Staaten unterstützt, die von dem Haß genährt werden, den es einflößt, und deren stetes Lebensinteresse darin besteht, einig zu sein und Rußland in seinen Grenzen zu halten. Ich denke hier an die Wiederherstellung Polens und an eine Erneuerung der Türkei.
Ich glaube aber nicht, daß heute auch nur einer dieser beiden Vorschläge durchgeführt werden kann. Die scheußlichen Eifersüchteleien und Ambitionen der europäischen Nationen ähneln, wie Sie ganz richtig in Ihrem Brief bemerkt haben, den Streitigkeiten der Griechen vor Philipps Angriff nur zu sehr. Nicht eine einzige würde ihre Leidenschaften oder ihre Zielsetzungen zur Seite schieben.«324
Dasselbe Bild eines zerrissenen Europas, von einem russischen Philipp von Makedonien erobert, wurde von Irving Babbitt mit denselben Worten beschrieben325. Und Henry Adams erklärte im ersten Jahr dieses Säkulums:
»The sum of my certainty is that America has a very clear century start over Russia, and that western Europe must follow us for a hundred years, before Russia can swing her flail over the Atlantic. Whether she can do it then is no conundrum that I can settle. I imagine that my grandpapa, sitting here in this study ninety years ago, could see ahead to me now, better than I can see ahead to the year 2000: and yet it was not easy guessing even for him.«326
Die geopolitischen Instinkte des Henry Adams waren wohl entwickelt, was man aus seinen Bemerkungen über eine deutsch-russische Zusammenarbeit ersehen kann. Von dieser schrieb er: »If they work together, [they] are bound to be the biggest mass, in the most central position, unassailable to us at any point of contact.« Er zweifelte daran, daß Amerika in der Übersee eine aktive und konstruktive Außenpolitik führen würde und schloß, daß »the whole of Europe already centres in Russia, except England which centres in America«327.
Im Jahre 1901 schrieb er auch sehr vorsichtig an Elizabeth Cameron, daß Rußland und Amerika sich vertragen sollten328, doch im folgenden Brief fügte er nachdenklich hinzu:
»Now, in the long run, the passive character exhausts the active one. Economy of energy is a kind of power. Russia and Asia may clean us all out, especially if Germany helps to run her.«329
Und als Deutschland im Jahre 1918 unter den Hammerschlägen der Alliierten in die Knie zu brechen begann und Rußland ein Opfer des Bolschewismus geworden war, änderte Adams, damals schon ein sterbender Mann, seine Ansichten ein wenig:
»Sometimes I think that we are to be told to seek at Potsdam our ally against the tempest of Eastern Europe, and their after-outbreaks in the West.«330
Er konnte damals nicht wissen, daß Rußland Jahre später gerade in Potsdam den Schlußstein zu einer Serie der brillantesten diplomatischen Siege setzen würde. Die Westmächte hatten keine Männer von der geistigen Statur eines Henry Adams in den verantwortlichen Stellungen; das Endergebnis dieser Konferenzen und Pakte bestand darin, daß der very clear century start Amerikas vor Rußland, von dem Adams gesprochen hatte, um manches Jahrzehnt gekürzt wurde.
Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß Henry Adams ein Prophet ersten Ranges gewesen ist. So wußte er, wie aus einem Brief an Brooks Adams hervorgeht, um die Wesensverwandtheit von Kapitalismus und Sozialismus331. Und in einem früheren Schreiben gestand er schon:
»Much as I loathe the régime of Manchester and of Lombard Street in the nineteenth century, I am glad to think I shall be dead before I am ruled by the Trade Unions of the twentieth. Luckily society will go to pieces then.«332
Seine Voraussage über den deutschen Zusammenbruch findet man in einem Brief an C. M. Gaskell:
»As for the war-cloud, it is moving accurately on time. On my figures based in 1863 it should take you till August 1918, to reduce Germany to absolute extinction.«333
Der große Rückzug begann tatsächlich im August 1918.
Die russische Gefahr wurde auch klar von Jules Michelet erkannt. »Man wird noch sehen«, schrieb er prophetisch, »ob die Donau, die Bismarck so stolz seinen Kompatrioten versprochen hat, tatsächlich ein deutscher Fluß ist334.« Constantin Frantz hatte ähnliche Gedanken. So sprach er über Rußland, »welches von jedem Konflikt zwischen den abendländischen Staaten seinen direkten oder indirekten Gewinn zog und auch heute noch zu ziehen weiß«335. Er war überzeugt, daß Rußland Westeuropa überschwemmen und die Vereinigten Staaten im nächsten Kriege zwischen England und Rußland eine entscheidende Rolle spielen würden336. Unzweifelhaft, dachte er sich, würde die Zukunft Amerika und Rußland gehören.
Einige unserer Zeitgenossen sahen den Aufstieg eines nationalistischen, eroberungssüchtigen Rußlands voraus, wenn es einmal »seine revolutionären Kinderkrankheiten überwunden haben wird«, so Werner Sombart337. Auch Max Weber stellte in einem Brief vom 24. November 1918 an Professor Crusius fest, daß das Reich wenigstens diesmal der russischen Knute entgangen sei, aber daß die Gefahr wiederkommen werde338. Jacob Burckhardt, wie man erwarten kann, war über die Verwestlichung Rußlands schwer besorgt. So schrieb er am 2. Jänner 1880 an Preen:
»In Rußland rächt sich jetzt das seit bald zweihundert Jahren der Nation auferlegte petrinische System der gewaltsamen Okzidentalisierung. Der Nationalcharakter der Russen hätte sich bei einer leidlichen Barbarei sehr viel besser und gesünder befunden und Westeuropa ebenfalls, d. h. nicht bei einer Barbarei, sondern bei Fortdauer derjenigen der Russen.«339
Die klarsten Prophezeiungen kamen jedoch von Donoso Cortés, Marqués von Valdegamas. Doch dachte dieser mehr an die geographischen Aspekte dieses Problems als Alexis de Tocqueville, der mit einer geteilten amerikanisch-russischen Weltherrschaft rechnete. So sagte letzterer über diese Länder nach einer Darstellung ihrer Bestrebungen:
»Leur point de départ est différent, leurs voies sont diverses: néanmoins, chacun d’eux semble appelé par un dessein secret de la Providence à tenir un jour dans ses mains les destinées de la moité du monde.«340
Doch de Tocqueville war zu sehr guter Europäer und christlicher Weltmann, um kleinliche Vorurteile gegen eine deutsche Einigung zu hegen. Schrieb er doch in seinen Memoiren ganz im Sinne Henry Adams’:
»C’est une ancienne tradition de notre diplomatie qu’il faut tendre à ce que l’Allemagne reste divisée entre un grand nombre de puissances indépendants; et celà était évident, en effet, quand derrière l’Allemagne ne se trouvaient encore que la Pologne et une Russie à moitié barbare; mais en est-il de même de nos jours? La réponse qu’on ferra à cette question dépend de la réponse qu’on fera à cette autre; quel est au vrai, de nos jours, le péril que fait courir la Russie à l’indépendance de l’Europe? Quand à moi, qui pense que notre Occident est menacé de tomber tôt ou tard sous le joug ou du moin sous l’influence directe et irrésistible des tsars, je juge que notre premier intérêt est de favoriser l’union de toutes les races germaniques, afin de l’opposer à ceux-ci. L’état du monde est nouveau; il nous faut changer nos vieilles maximes et ne pas craindre de fortifier nos voisins pour qu’ils soient en état de repousser un jour avec nous l’ennemi commun.«341
Ein ähnlicher Gedanke leuchtet bei Custine auf, der sagte:
»En Allemagne on pourrait encore conjurer l’orage; en France, en Angleterre, en Espagne, nous ne pouvons déjà plus qu’attendre la foudre.«342
Custine glaubte im alten, zaristischen Rußland schon eine egalitäre Diktatur zu sehen. »Der russische Kaiser«, deutete er an, »ist die Personifizierung der gesellschaftlichen Kräfte; unter ihm herrscht die Gleichheit, wie sie nur die modernen Demokraten Frankreichs und Amerikas und die Fourieristen erträumen.«343
Rußland war Custines Alpdruck. »C’est en Russie qu’il faut venir pour voir le résultat de cette terrible combinaison de l’esprit et de la science de l’Europe avec le génie de l’Asie«, schrieb er. Stets verglich er die Freiheit Spaniens mit dem staatlichen Druck, der über Rußland lastete, einem Lande, in dem die Diplomaten als Spione angesehen wurden und das die Fremden mit einem großen Gefühl der Erleichterung verließen, wenn sie die Grenzpfähle Preußens vor sich sahen. Eine besonders große Frucht hatte aber Custine vor den russischen Weltverbesserern und Reformatoren. Er bestand darauf, daß
»Pierre Ier et Cathérine II ont donné au monde une grande et utile leçon que la Russie a payée; ils nous ont montré que le despotisme n’est jamains si redoutable que lorsqu’il prétend faire du bien, car alors il croit excuser ses actes les plus révoltants par ses intentions: et le mal qui se donne pour remède n’a plus des bornes.«344
Sainte-Beuve, nicht viel später, sah ebenfalls in Rußland die große Bedrohung des Westens. Thiers zitierend, sagte er:
»Il n’y a plus que deux peuples, la Russie, c’est barbare encore, mais c’est grand… La vieille Europe aura à compter avec cette jeunesse. L’autre jeunesse, c’est l’Amérique… L’avenir du monde est là, entre ces deux grands mondes. Ils se heurteront quelque jour et l’on verra alors des luttes dont le passé ne peut donner aucune idée, du moins pour la masse et le choc physique; car le temps des grandes choses morales est passé. Il n’y a plus qu’un rôle en France que j’envierais; mais je suis né cinquante ans trop tôt. Après Alexandre, il n’y avait plus en Grèce qu’un rôle, c’était d’être Philopoemen, de mourir avec son pays en le défendant héroïquement. La France a encore ce grand moment á passer avant de finir sous les coups du nord. Quand à l’Allemagne, elle est finie…«345
Louis Veuillot hingegen war gar nicht überzeugt, daß das deutsche Volk ausgespielt hatte. Er fürchtete vielmehr, daß Frankreichs östlicher Nachbar einen »Volkskaiser«, einen plebiszitären Zwingherrn hervorbringen würde. So schrieb er im Jahre 1859:
»Allemagne! Allemagne! à qui le ciel avait tout donné! Quand tu verras reparaître un fantôme d’empereur qui ne sera ni l’élu de tes princes, ni l’oint du Christ, et qui ne tiendra pas la glaive pour protéger la justice et défendre les vieux droits, mais qui sera l’empereur du peuple et la glaive du droit nouveau, alors ce sera l’heure de la grande expiation.«346
Doch kehren wir zu Rußland zurück, das Churchill »a riddle wrapped in a mystery inside an enigma« genannt hatte. Vom Verhältnis Rußlands zu Europa sprach der Marqués de Valdegamas in seiner zweiten großen Rede347 vor dem Congreso. Zuerst malte er ein düsteres Bild vom europäischen Festland, das von Uneinigkeiten und chaotischen Revolutionen zerrissen wird, und dann sagte er:
»…die slawischen Völker, meine Herren, zählen an die 80 Millionen Seelen. Nun, wenn es in Europa keinen Patriotismus mehr gibt, da dieser durch die sozialistischen Revolutionen beseitigt wurde; wenn im Osten der große Bund der slawischen Nationen geschlossen wurde; wenn der Westen aus nichts anderem mehr besteht als aus zwei Lagern, dem der Räuber und dem der Enteigneten – dann, meine Herren, wird die Stunde Rußlands geschlagen haben. Dann wird Rußland imstande sein, mit geschulterter Waffe friedlich in unsere Länder einzumarschieren; dann auch, meine Herren, wird die Welt das größte Schauspiel einer Züchtigung erleben; diese Bestrafung, meine Herren, wird enorm sein – es ist dies die Bestrafung Englands. Seine Schiffe werden gegen das kolossale Reich, das Europa mit der einen und Indien mit der anderen Hand hält, nutzlos sein. Nichts wird es mit seiner Flotte anfangen können. Dieses Weltreich wird stürzen und in Stücke zerfallen; und das Echo des traurigen Stöhnens dieses Inselreichs und seines alles durchdringenden Jammers wird man von Pol zu Pol hören.«348
Donoso Cortés, das muß allerdings zugestanden werden, sah nicht eine Eroberung Europas durch ein revolutionäres Rußland. Er war überzeugt, daß die Revolutionierung Rußlands erst nach der Unterjochung des Westens stattfinden würde. Zu einer Beurteilung der inneren Verhältnisse Rußlands mangelte ihm die Erfahrung eines Joseph de Maistre, der so viele Jahre in St. Petersburg verbracht hatte; dieser erwartete einen »Pougatcheff d’université« zum Diktator Rußlands349 – wohl eine meisterhafte Beschreibung Lenins 100 Jahre vor seinem Machtaufstieg! Jedoch in einem Essay, das vor dem kommenden Konflikt Westeuropas (von Frankreich und der katholischen Kirche geführt) mit dem Osten (von Rußland und der Orthodoxie geleitet) handelt, schrieb Donoso Cortés, daß dieser Kampf zwischen den Prinzipien der Freiheit und des Absolutismus ausgefochten werden würde. Er dachte nicht, daß beide Systeme mit ihren Gegensätzlichkeiten friedlich nebeneinander leben könnten:
»…wenn die Zivilisation bis zu einem gewissen Grad die Neigung hat, sich weiterzuentwickeln, und wenn die Menschheit darnach strebt, sich zu vervollständigen, dann ist es unausweichlich, daß alle Menschen in der Zukunft denselben Grundsätzen in politischen sowohl als auch in religiösen Dingen folgen werden; für die Menschen und für die Gesellschaft wird es nur einen Weg und ein Gesetz geben350.
Bezüglich der neuen Herren der Welt waren jedoch die allgemeinen Ansichten des Donoso Cortés nichts weniger als optimistisch:
»Rußland wird kämpfen, um anderen Niederlagen beizufügen, und es siegt, um die besiegten Länder zu ›beschützen‹. Und im Augenblick, da sich eine besiegte Nation als ein Verbündeter betrachtet, ist sie auch Rußlands Opfer und Beute. Die Siege Rußlands führen zur ›Beschützung‹ – dieses Protektorat aber bedeutet den Tod.«351
Die Ansichten dieses Spaniers über einen kommenden angelsächsisch-slawischen Konflikt wurden von seinem Landsmann Juan Valera geteilt, der Englands Rolle in der Assimilierung und Kolonisierung Asiens sehr pessimistisch beurteilte. Die Engländer, so sagt uns Valera, sind weder imstande, Asiaten in Briten umzuwandeln noch Angelsachsen in größerer Anzahl dort anzusiedeln. Daher waren sie ab allem Anfang von Rußland geschlagen, das organisch zu Asien gehört352.
Der Abbé de Pradt, ein liberaler Zeitgenosse Metternichs, versuchte die Völker des europäischen Festlands für eine englandfreundliche Politik zum Schutze gegen die russische Gefahr zu gewinnen, denn Rußland »n’a donc pour voisins que des politiques effrayés et des vassaux tremblans«353. Rußland verglich der politisierende Abbé sehr geschickt mit den Vereinigten Staaten354, doch hegte er einige Zweifel über die wahren Zustände in jenem Ostreich, denn:
»Au delà de la Vistule tombe un rideau derrière lequel il est fort difficile de bien voir ce qui se passe dans l’intérieur de l’empire russe. A la maniére de l’Orient, dont il a reçu l’origine et pris les mœurs, le gouvernement russe est concentré dans le cabinet du prince; il parle seul, n’écrit guère et ne publie rien; avec un pays ainsi constitué pour tout dérober à la connaissance du public, on est à-peuprés réduit à des conjectures; c’est aussi d’après elles seulement que l’on peut parler de l’armée russe.«355
Und dann setzt er fort:
»Depuis Pierre-le-Grand jusqu’à ce jour, la politique de la Russie n’a pas cessé d’être conquérante; on dirait que depuis un siècle entier son cabinet n’a été composé, que d’un seul et même homme, tant il n’a eu qu’une seule et même pensée, celle de l’agrandissement méthodique.«356
Nicht nur die Anspielungen auf den Eisernen Vorhang und das Politbüro erwecken in uns Gedankenassoziationen, sondern auch die Schilderungen des Kriegsendes von 1814–1815:
»Partie principale dans la fédération qui avait abbatu Napoléon, elle (Rußland) ne pouvait pas être exclue des intérêts que sa chute tenait indécis; mais cela fait, l’Europe devait se reserrer et comme se renfermer, et de concerter pour interdire toute participation dans ses affaires à une puissance qui n’y a pas un intérêt direct, et qui a la force de faire pencher la balance au gré de tous ses intérêts. Au nombre de reproches que l’on a adressés à tort ou à raison à quelques parties de la Sainte-Alliance, j’ajouterai avec sécurité de jugement celui d’imprudence, pour avoir introduit la Russie dans la décision des affaires du midi de l’Europe… Le plus pressant intérêt Européen est d’empêcher que l’Allemagne ne diviennent pas le grand chemin des armées russes, et on va le leur ouvrir! on les y appelle!«357
Äußerst eindrucksvoll war sein Vergleich zwischen dem Gefahrenmoment einer angelsächsischen und einer russischen Interventionspolitik auf dem Kontinent358. Seine Hauptsorge aber blieb die Russifizierung Deutschlands359.
Napoleon befand sich zweifellos auch unter den großen Sehern. In seinem Mémorial de Saint-Hélène berichtet uns der Graf Las Cases von einem eigenartigen Monolog des gefangenen Kaisers über Rußland und die Möglichkeit eines kommenden Zaren mit einem »Bart am Kinn« (ein Ausdruck, der im Französischen eine übertragene Bedeutung hat, doch irgendwie an Lenin gemahnt). Napoleon sagte damals, am 5. November 1816, fast auf den Tag 101 Jahre vor der Roten Revolution seinem Begleiter:
»›On ne peut s’empêcher de frémir, disait-il, à l’idée d’une telle masse, qu’on ne saurait attaquer ni par les côtés, ni sur les derrières: qui déborde impunément sur vous, inondant tout si elle triomphe, ou se retirant au milieu des glaces, au sein de la désolation, de la mort, devenues ses réserves si elle est défaite; le tout avec la facilité de reparaître aussitôt si le cas le requiert. N’est-ce pas là la tête de l’hydre, l’Antée de la fable, dont on ne saurait venir à bout que’en le saisissant au corps et l’étouffant dans ses bras? Mais où trouver l’Hercule? Il n’appartenait qu’à nous d’oser y prétendre, et nous l’avons tenté gauchement, il faut en convenir.‹…
›Qu’il se trouve, disait il, un empereur de Russie vaillant, impétueux, capable, en un mot un czar qui ait de la barbe au menton (ce qu’il exprimait, du reste, beaucoup plus énergiquement), et l’Europe est á lui. Il peut commencer ses opérations sur le sol allemand même, à cent lieues des deux capitales, Berlin et Vienne, dont les souverains sont les seuls obstacles. Il enlève l’alliance de l’un par la force, et avec son concours abat l’autre d’un reverse; et dès cet instant il est au cœur de l’Allemagne, au milieu des princes, dont la plupart sont ses parents ou attendent tout de lui. Au besoin, si le cas le requiert, il jette, en passant, par-dessus les Alpes, quelques tisons enflammés sur le sol italien, tout prêt pour l’explosion, et marche triomphant vers la France, dont il se proclame de nouveau le libérateur. Assurément, moi, dans une telle situation, j’arriverais à Calais à temps fixe et par journées d’étape, et je m’y trouverai le maître et l’arbitre de l’Europe…‹ Et après quelques instants de silence, il a ajouté: ›Peut-être, mon cher, êtes vous tenté de me dire comme le ministre de Pyrrhus à son maître: Et après tout, à quoi bon?‹ Je réponds: ›à fonder une nouvelle societé, et à sauver de grands malheurs. L’Europe attend, sollicite ce bienfait; le vieux système est à bout, et le nouveau est point assis, et ne le sera pas sans de longues et furieuses convulsions encore.‹«360
Donoso Cortés war aber in Preußen mehr als in Deutschland interessiert. In einem Brief an Graf Raczyński, seinem polnischen Kollegen in preußischen Diensten, schüttete er ihm sein Herz aus:
»Wären Sie nicht mein Freund, hätte ich Preußen im Parlament angegriffen, denn ich bin weder ein Freund Preußens noch seiner Politik noch seiner Vergrößerung noch auch seiner Existenz; ich glaube, daß Preußen seit dem Beginn seines Daseins dem Satan verschrieben ist, und ich bin überzeugt, daß es dank einer historischen Fatalität ihm in aller Ewigkeit untertan sein wird.«361
Es ist offensichtlich, daß seine Abneigung gegen Preußen zum Teil auf religiöse Gründe zurückzuführen ist. Donoso Cortés, der spanische Botschafter in Berlin war, schrieb von Preußen im Jahre 1849, daß es eine Führerrolle im evangelischen Norden anstrebe. Und dazu bemerkte er:
»Preußen kann nicht mit weniger zufrieden sein und auch nicht mit etwas anderem. Und das wird so lange dauern, bis der Protestantismus Schiffbruch erleidet und zerfällt; wenn dies geschieht, wird Preußen in ein Zeitalter raschen Niederganges eingehen. Preußen lebt in seinem Protestantismus, für den Protestantismus und durch den Protestantismus. Das Geheimnis seiner Glorie liegt in seinem Protestantismus, nicht minder aber das Geheimnis seines Endes.«362
Donoso Cortés war nicht grundsätzlich antibritisch, doch erachtete er Englands Einfluß auf den Kontinent als auch die Bestrebungen, seine politische Sturktur nachzuahmen, für gefährlich. In dieser Ansicht wurde er vom Grafen Raczyński unterstützt363. In einem Brief schrieb da Donoso Cortés:
»In dieser Angelegenheit, mein Freund, sollte man keine Illusionen haben: England und die Revolution ist ein und dasselbe Ding; dies war so in der Vergangenheit, dies ist die Situation heute, und sie wird es auch in der Zukunft sein. Es macht auch keinen Unterschied, ob ein konservatives Kabinett in London ein revolutionsfreundliches ersetzt oder nicht; wenn Sie die heutige Politik des Vereinigten Königreiches untersuchen, werden Sie zwei Tatsachen entdecken; erstens, daß England in Kriegszeiten immer die Ordnung unterstützt; zweitens, daß es in friedlichen Epochen immer für die Revolution einsteht. Das ist auch die Ursache, warum es radikale Ministerien im Frieden und konservative Kabinette im Zeitalter der Wirren hat…«364
Die Ähnlichkeit zwischen diesen Stellen und dem Durnowo-Memorandum ist augenfällig365. Chomjakow anderseits war überzeugt, daß das Torytum in Großbritannien schicksalsmäßig verloren war und daß die materialistisch-reformierte Linke schließlich in Permanenz regieren würde366. Alexander Herzen stellte noch dazu Englands Befähigung in Abrede, festländische und insbesondere russische Angelegenheiten richtig zu beurteilen; dazu war England außerstande, denn es ist »blind«. Diese Blindheit hingegen rührt ausschließlich von seinem Unvermögen her, sich vorzustellen, daß andere Nationen tatsächlich völlig neue Pfade einschlagen und alte Straßen verlassen könnten367. Daß alle diese angelsächsischen Fehlberechnungen auf das Schicksal des Kontinents fatale Ergebnisse zeitigen müßten, versteht sich wohl von selbst.
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