Kitabı oku: «Die grusinische Braut», sayfa 4
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Wenn im Winter Schnee und Eis den Zugang über die Pässe zu den Siedlungen der Aufständischen verunmöglichten, las von Fenzlau viel, und wenn er genug von geistiger Nahrung hatte, vertrieb er sich die Zeit mit Kartenspiel und Huren. Manchmal nahm er Urlaub und reiste nach Tiflis. Er gab sich städtischen Vergnügungen hin und liess sich zu rauschenden Festen in den Gouverneurspalast einladen. Ab und zu traf er dort seinen Onkel. Zusammen besuchten sie die Schwefelbäder. Umhüllt von Dampfwolken liessen sie sich von kundigen Frauenhänden massieren, suchten vornehme Bordelle auf, speisten anschliessend und redeten über dieses und jenes. Jeweils zum Geburtstag schrieben sie sich, berichteten von ihren Erlebnissen in Alchaziche respektive Derbent. Zwei einsame Männer, getrennt durch eine Generation, verbunden durch den gemeinsamen Beruf.
Im Frühjahr 1839 erhielt der Major einen Brief von seiner Mutter. Sie teilte ihm mit, sein Vater, Wernher von Fenzlau, sei im Januar gestorben. Er habe in seinem Testament verfügt, dass sein jüngerer Sohn Georg das Handelshaus in Riga weiterführen solle, wobei ein Drittel der Erträge aus dem Geschäft Vitus zustünden. Ausserdem vermache er ihm das Gut in Segewold. Vom liquiden Vermögen stünde ein Fünftel ihr zu, seinen beiden Söhnen je vierzig Prozent. Die Mutter bat ihren Ältesten, seinem Bruder mitzuteilen, wohin man sein Erbteil überweisen solle und was mit dem Hof in Segewold zu geschehen habe. Ich gehe davon aus, schrieb sie, dass Du weisst, dass mit dem Tod Deines Vaters jetzt Du der Baron von Fenzlau bist. Erweise Dich dieser Ehre würdig.
Vitus las das Schreiben mehrmals. Er hatte, abgesehen von wenigen, nichtssagenden Briefen, die in grossen Abständen zwischen Riga und Grusinien hin und her gingen, keinerlei Kontakt mehr mit seiner Familie. Er hatte auch nie das Bedürfnis gehabt, sie zu besuchen. Hatte er dem Vater, der inzwischen bereits seit drei Monaten in seiner Grube lag, bis heute nicht verziehen, dass er ihn als Vierzehnjährigen dem Zaren «geschenkt» hatte?
Onkel Theodor war der Einzige, der ihm von der Verwandtschaft geblieben war. Vor einem Jahr hatte er ihn aufgefordert, Urlaub zu nehmen und ihn nach Sankt Petersburg zu begleiten. Seine beiden Töchter, Charlotte und Caroline, seien im heiratsfähigen Alter, hatte er augenzwinkernd hinzugefügt. Vitus erinnerte sich amüsiert an Lini und Lotti, die Zwillinge. Aber dann war der Oberst zum Generalmajor befördert und nach Tiflis versetzt worden, so dass man die Reise verschieben musste.
Allmählich wurde Vitus bewusst, dass er jetzt reich war, reich und unabhängig vom Geld, das ihm der Baron einmal im Jahr durch einen Kurier der Armee hatte überbringen lassen. Der Baron? Mit dem Tod des Alten war jetzt er der Baron.
Er trat vor den Spiegel und betrachtete sich. «Baron von Fenzlau», sagte er zu seinem Spiegelbild, das darauf zu bestehen schien, kein vornehmer, baltischer Adeliger zu sein, sondern ausschliesslich ein Krieger, der Tod und Verderben über seine Feinde brachte.
«Baron von Fenzlau», wiederholte er. Lauter diesmal.
«Haben Durchlaucht nach mir gerufen?» Sein Diener, der Anweisung hatte, in seiner Kammer neben dem Wohnzimmer auf Befehle zu warten, wenn sein Herr zuhause war, stand in der Türe.
«Ich bin jetzt Baron, Wassilj», sagte der Major.
«Wie Durchlaucht meinen», antwortete der Russe.
Eine Woche später liess Pjotr Ivanowitsch Baranow Vitus von Fenzlau zu sich bitten. Als er die Amtsstube des Festungskommandanten betrat, stand der Oberst, die Arme auf dem Rücken verschränkt, am offenen Fenster und beobachtete, wie im Hafen ein Frachtensegler entladen wurde. «Sie bringen Vorräte und Waffen für unsere Sommerfeldzüge, Herr Major», sagte er und drehte sich um. «Ich wollte heute mit Ihnen über unsere diesjährigen Operationen im Gebirge sprechen. Aber höheren Orts hat man offenbar andere Pläne.» Er ging zu seinem Tisch und reichte ihm ein Blatt Papier. Der russische Doppeladler mit Krone, Zepter, Reichsapfel und auf dem Brustschild Sankt Georg, der den Lindwurm durchbohrt, wiesen den Brief als offizielles Schreiben aus. Herr Baron von Fenzlau werde gebeten, sich so bald als möglich im Stabsquartier der Kaukasusarmee zu melden, man benötige seine Dienste, stand da. Unterschrieben war es von Theodor Dreyling, Generalmajor.
«Herr Baron?» Baranow, dessen Haut grobporig und von roten Äderchen durchzogen war, sah ihn aus seinen entzündeten Augen an. Fragend? Vorwurfsvoll? Seine Hände zitterten. Als er von Fenzlaus Blick bemerkte, legte er sie auf die Lehne seines Stuhls.
«Mein Vater ist gestorben. Ich habe den Titel geerbt», sagte Vitus.
«Darauf müssen wir anstossen!» Nicht: «Mein Beileid!», sondern: «Darauf müssen wir anstossen.» Baranow holte aus der Tiefe seines Aktenschranks eine Flasche Wodka und füllte zwei Gläser bis zum Rand. «Auf Ihre Karriere!», sagte er. Er leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich nach. Er schien nicht zu bemerken, dass der Major den Schnaps nicht anrührte. «Man holt Sie in den Generalstab. Einem wie Ihnen steht die Welt offen, während unsereiner in diesem Dreckloch vermodert.»
Von Fenzlau schwieg. Was sollte er diesem verbitterten Menschen antworten, der nichts anderes als den schmutzigen Krieg im Nordkaukasus kannte und darüber zum Säufer geworden war? Es war ein Wunder, dass er selbst nicht der Versuchung erlegen war, das Entsetzen, das ihn manchmal angesichts brennender Dörfer und gemetzelter Frauen und Kinder packte, in Strömen von Alkohol zu ertränken. Der Major trat ans Fenster. Der Himmel war bedeckt. Hinter den Wolken liess sich die Sonne nur erahnen. Im diffusen Licht sah die See aus wie flüssiges Blei. Ihm schien, als liege eine düstere Melancholie über diesem Land am Ufer des Kaspischen Meers. Er war erleichtert, Derbent, wo sich Menschen wie Baranow zugrunde richteten, nach neun Jahren hinter sich lassen zu dürfen.
«Auf Befehl von Generalmajor Dreyling soll Euch die Eskadron von Rittmeister Jegorow nach Tiflis begleiten», unterbrach der Oberst Vitus’ Gedankengänge. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. «So verliere ich nicht nur einen Bataillonskommandanten, sondern auch eine Einheit meiner fähigsten Leute!»
Damit hatte er recht. Die Männer von Juri Fedorowitsch Jegorow, einem Offizierskameraden, dem gegenüber von Fenzlau freundschaftliche Gefühle hegte, waren Kuban-Kosaken, Nachkommen geflohener Leibeigener und Gesetzloser, die sich in den südrussischen Steppen am Fuss des Grossen Kaukasus zu Gemeinschaften von Wehrbauern zusammengeschlossen hatten. Sie mussten sich gegen die Überfälle von muslimischen Tataren und asiatischen Reiternomaden verteidigen und erwarben sich dabei einen Ruf als gefürchtete Kämpfer, um deren Reitkünste sich Legenden rankten. Anders als die ins Militär gepressten Leibeigenen waren sie seit Generationen freie Krieger, die für ihren Einsatz mit Steuererleichterungen und einer gewissen Autonomie entschädigt wurden. Sie galten als wild und brutal. Spätestens nachdem sie beim Rückzug Napoleons aus Russland anno 1812 unter den Soldaten der Grande Armée Angst und Schrecken verbreitet hatten, waren ihre Reiterverbände für die Zaren unverzichtbar. Unter ihrem Schutz würde von Fenzlau auf dem Ritt durch das Gebiet der feindlichen Bergtataren so sicher sein wie in Abrahams Schoss.
7
Am späten Nachmittag des 22. Mai, zehn Tage nachdem er in Derbent aufgebrochen war, traf Juri Jegorows Eskadron mit Vitus von Fenzlau in Tiflis ein. Der Major und der Rittmeister speisten in einem Restaurant unweit der Metechi-Kirche. Es gehörte zu einer Häuserzeile, die wie Schwalbennester auf dem Felsen hoch über der Kura klebte. Man hatte sie an einen Tisch am Fenster gesetzt. Während sie assen, schauten sie immer wieder hinunter auf den Meidan, den Platz der Tataren am anderen Ufer des Flusses, wo Händler an ihren Ständen Waren aus der ganzen Welt feilboten.
Von Fenzlau liebte Tiflis. Hier mündeten die grusinische Heerstrasse und der alte Karawanenweg aus Persien in die Seidenstrasse. Hier sorgten Reisende und Kaufleute aus dem Osmanischen Reich, dem fernen Osten, Russland und Europa für ein babylonisches Sprachengewirr. Hier vereinten sich Abendland und Orient.
Die Stadt lag an den Ausläufern des Saguramigebirges auf der einen und jenen der Trialetischen Berge auf der anderen Seite. Im Frühjahr, wenn in den Bergen der Schnee schmolz, überflutete die Kura den Talgrund auf ihrer linken Seite bis an den Fuss des Avlabari-Quartiers, wo armenische Handwerker und ihre Familien lebten, Weinhändler ihr Produkte anpriesen, Muslime nach der Arbeit in Teehäusern Wasserpfeifen rauchten und Huren in schäbigen Etablissements ihrem tristen Gewerbe nachgingen. Gegenüber, flussabwärts an der engsten Stelle des Tals, stand auf dem Kamm des Bergrückens die im vierten Jahrhundert erbaute Festung Nariqala, die Unbezwingbare, die erst 1827 gefallen war, als ein Blitz in die russischen Pulvervorräte eingeschlagen hatte und die Burg in eine Ruine verwandelte. Am Hang unterhalb des immer noch eindrucksvollen Gemäuers befand sich die Kala, eng ineinander verschachtelte ein- und zweistöckige Wohnhäuser, deren Balkone mit kunstvollen Schnitzereien und Säulen verziert waren. Zum Viertel, das sich, den Rücken gegen den Fluss gewandt, bis in die Niederung der Kura ausdehnte, gehörten auch der Palast des Katholikos, zahlreiche Gotteshäuser und Karawansereien.
Im Westen von Tiflis, am Fuss des Mtazminda, wo vor Zeiten der heilige Dawit in einer Höhle gehaust hatte, waren nach der Jahrhundertwende feudale Villen nach europäischem Vorbild gebaut worden, in denen hohe russische Beamte und reiche Kaufleute wohnten. Hier in der Neustadt, an der Sassachlis Kutscha, befand sich, unweit des Gouverneurspalasts, das Stabsquartier der Kaukasusarmee, wo sich der Major am nächsten Tag meldete.
«Baron von Fenzlau?» Ein Fähnrich, vom Pförtner herbeigerufen, stand stramm und salutierte. «Darf ich mich vorstellen? Ich bin Adrian Dreyling. Ich werde Sie zu meinem Vater bringen.»
Adrian! Der Major liess sich Zeit, seinen Cousin zu betrachten. Er musste jetzt achtzehnjährig sein und war wohl erst vor kurzem aus der Kadettenanstalt entlassen worden. Schlank war er und feingliedrig. Irgendwie unfertig, noch ein halbes Kind. Das weiche, dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel, hatte er von seiner Mutter Leonore geerbt. «Als ich dich das letzte Mal sah, warst du fünf Jahre alt und trugst noch ein Röckchen», sagte Vitus mit gutmütigem Spott und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Der junge Mann errötete. Steif sagte er: «Wenn Sie mir folgen wollen, Herr Baron.»
Von Fenzlau zog die Brauen hoch. «Lass das. Wir sind Vettern. Für dich bin ich Vitus.»
«Vitus, Herzbube und Schrecken der Bergtataren!», lärmte Theodor Dreyling, als von Fenzlau das Arbeitszimmer des Onkels betrat. Er stemmte sich ächzend aus seinem Sessel hinter dem mächtigen Schreibtisch hoch und drückte den Neffen an seine Brust. Er war inzwischen vierundfünfzig. Sein einst volles Haar hatte sich arg gelichtet, genauer: Er war fast kahl. Schon immer hatte er zur Korpulenz geneigt. Jetzt war er fett. Sein Bauch wurde von einem Korsett daran gehindert, sich ähnlich wie Augensäcke und Wangen den Gesetzen der Schwerkraft zu unterwerfen. Der Gurt, der den Uniformrock umspannte, war vermutlich eine Spezialanfertigung. Die Beförderung in den Generalsrang hatte seine Neigung zum Wohlleben nicht eingeschränkt. Im Gegenteil.
Von Fenzlau verkniff sich ein Lächeln und setzte sich. Nachdem man sich nach dem gegenseitigen Befinden erkundigt und Nettigkeiten ausgetauscht hatte, wurde Generalmajor Dreyling dienstlich. In den westlichen Provinzen Transkaukasiens habe man Probleme mit Tataren aus dem Norden, mit Türken und mit Persern, erklärte er. «Sie schliessen sich zu Räuberbanden zusammen und ziehen marodierend durchs Land. Manchmal sind es fünfzig Mann, manchmal mehr, manchmal weniger. Die Teufelsbrut überfällt Reisende und Siedler, raubt sie aus, plündert auch ganze Dörfer und verzieht sich in die Berge, bevor die Armee eingreifen kann. Wir wollen dem ein Ende machen.»
Man habe sich entschlossen, fuhr Dreyling fort, Major von Fenzlau, der im Nordkaukasus gelernt habe, mit dem heidnischen Lumpenpack umzugehen, auf eine Inspektionsreise zu schicken. «Wir brauchen einen schonungslosen Bericht über die Stärke unserer Stützpunkte und Festungen sowie über die Schlagkraft und Einsatzfähigkeit unserer Truppen im Westen. Für die Dauer des Auftrags wird dir die Eskadron des Rittmeisters Jegorow unterstellt. Vielleicht gelingt es dir ja nebenbei, mit Hilfe der Kosaken ein paar der Hurensöhne in die Hölle zu schicken.»
Nachdem die Einzelheiten des Auftrags besprochen waren und ein Offiziersdiener Tee, Cognac und Gebäck serviert hatte, sagte Dreyling, er habe noch ein persönliches Anliegen. Er wirkte ein wenig verlegen. Sein Sohn Adrian habe ein etwas weiches Gemüt und habe sich nur widerwillig für den Soldatenberuf entschieden, erklärte er. Tatsächlich seien seine Leistungen in der Kadettenanstalt eher mässig gewesen. «Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, dass er während dreier Jahre dem Zaren dient. Wenn er dann nicht länger in der Armee bleiben will, kann er mit meinem Segen einen Beruf nach eigenem Gusto wählen. Der Junge hat gehofft, seine Zeit in einem Garderegiment in Sankt Petersburg absitzen zu können. Aber ich habe veranlasst, dass er in den Kaukasus versetzt wird. In den letzten beiden Monaten hat er es sich hier in Tiflis gutgehen lassen. Jetzt ist es Zeit, dass er den Ernst des Lebens kennenlernt. Kurz», Theodor Dreyling straffte sich, «ich möchte, dass er dich auf deiner Inspektionsreise begleitet. Nimm ihn mit und mach ihn zum Mann!» Er zögerte. Dann fügte er leise hinzu: «Und gib auf ihn Acht, er ist noch ein Kind.» Er senkte den Kopf und sah plötzlich alt aus. Als schien er sich seiner Schwäche zu schämen, sagte er schliesslich wieder laut: «Und im Herbst, wenn du deinen Auftrag erfüllt hast, reisen wir mit Adrian nach Sankt Petersburg. Meine beiden Töchter brennen darauf zu sehen, was aus dir geworden ist.»
Am nächsten Tag brach der Major mit seinen Kosaken in aller Herrgottsfrühe auf. Während er sich mit Juri Fedorowitsch über gemeinsame Erlebnisse in Dagestan unterhielt, wich sein Vetter Adrian den ganzen Tag nicht von seiner Seite. Gegen sechzehn Uhr erreichten sie Katharinenfeld.
Die Schwabensiedlung in der fruchtbaren Ebene der Maschawera war in den elf Jahren, in denen er nicht mehr dort gewesen war, gewachsen. Weitere Kolonisten aus Württemberg hatten sich niedergelassen. Neue Strassenzüge waren entstanden, an die sich die typischen Streckhöfe reihten.
Beim Dorfschulzen, mit dem von Fenzlau über die Einquartierung der Offiziere verhandelte, erkundigte er sich nach Pastor Engist und dessen Familie.
«Der lebt nicht mehr hier», sagte der Mann. Nach dem Tod seiner Frau habe ihn die Basler Mission nach Indien ausgesandt, damit er dort Heiden bekehre.
«Hanna Engist ist gestorben?» Von Fenzlau war betroffen.
«Im Winter vor acht Jahren suchte uns der Herr mit einer Seuche heim, der zahlreiche Brüder und Schwestern zum Opfer gefallen sind. Sie war unter ihnen. Jetzt liegt sie auf dem Gottesacker.» Er zeigte mit der Hand in die ungefähre Richtung.
Einem spontanen Impuls folgend spazierte der Major zum Friedhof, der am nördlichen Dorfrand lag. Eine alte Frau wies ihm den Weg zum Grab. Er schob die dunkelgrünen Efeublätter, die den grauen Stein überwucherten, beiseite. Hanna Engist-Jacob von Waldenburg, Schweiz, 1779–1831, las er.
«Du hast sie gekannt?» Adrian, der sich ihm angeschlossen hatte, war hinter ihm stehengeblieben.
Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ein junger Mann wie Ihr nicht nur unsägliches Leid über andere bringt, sondern auch Schaden an seiner Seele nimmt. Von Fenzlau hatte die Begegnung mit ihr vor elf Jahren nicht vergessen. «Sie war eine gute Frau», sagte er, ohne sich umzudrehen.
«Bist du zufrieden, Vetter Vitus?» Noch immer sprach Adrian zu seinem Rücken.
«Was soll die Frage?»
«Ich habe euch zugehört, dir und dem Rittmeister Jegorow. Macht es dir Freude, die Dörfer einfacher Leute zu zerstören?»
«Es muss sein.» Der Major löste den Blick von Hanna Engists Grab und wandte sich dem jungen Cousin zu. «Seit 1813 ist Dagestan Teil Russlands. Der Zar braucht den Grossen Kaukasus als Grenzwall gegen die Perser. Ausserdem verbünden sich die Bergtataren aus dem Norden mit unseren Feinden, den Türken, und überfallen auch Dörfer und Höfe in Grusinien. Wir sorgen für Ruhe und Ordnung.»
«Und dafür müssen Frauen und Kinder, die uns nichts zu Leide getan haben, sterben?»
«Sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst!», wies ihn von Fenzlau schärfer als beabsichtigt zurecht. «Wenn du einmal in einen Hinterhalt dieser Dreckschweine gerietest und mitansehen müsstest, wie deine Kameraden erschossen oder so schwer verwundet werden, dass sie elend verrecken, würdest du anders reden.»
«Kameraden – meinst du unsere Soldaten, jene Männer, die in der Armee wie Sklaven behandelt werden? Warst du jemals dabei, als einer zum Spiessrutenlaufen verurteilt wurde?»
Der Major nickte. Natürlich hatte er das schon miterlebt. Mehr als einmal. Bei schweren Vergehen, wenn sich einer beispielsweise gegen einen Vorgesetzten, der ihn schlug, handgreiflich zur Wehr setzte oder wenn einer desertierte und wieder eingefangen wurde, war das die übliche Strafe, welche die Militärgerichte über den Unglücklichen verhängten.
«Was hast du empfunden, wenn ein Delinquent mit nacktem Oberkörper und gefesselten Händen dreimal, viermal, manchmal sogar fünfmal langsam durch die Gasse schreiten muss, die zweihundert Männer seiner Einheit bilden?» Adrians Stimme überschlug sich. «Jeder von ihnen hält eine fingerdicke Rute in den Händen. Jeder Einzelne schlägt ihn, und zwar nach Leibeskräften, denn hinter ihm steht ein Unteroffizier, der darauf achtet, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Mit rechten Dingen!» Der Fähnrich lachte höhnisch. «Wenn man aus dem Rücken des Delinquenten ein blutiges, zuckendes Stück Fleisch gemacht hat und er zusammenbricht, bringt man ihn ins Lazarett, wo man ihn notdürftig wieder so weit herstellt, dass die Strafe fortgesetzt werden kann. Mancher überlebt sie nicht.»
«Nun», sagte von Fenzlau, für den das Spiessrutenlaufen eine von vielen Massnahmen war, um die Disziplin der Truppe zu wahren, «dein Vater hat einmal behauptet, dass die Kerle nicht für den Krieg taugen, solange sie ihre Vorgesetzten nicht mehr fürchten als den Feind.»
Adrian überhörte den spöttischen Ton. «Russland wird allein durch die Gewalt des Zaren und des Adels mithilfe der Armee zusammengehalten», ereiferte er sich. «Nur radikale Reformen können unser Land heilen. Zuerst muss die Leibeigenschaft abgeschafft werden. Fünfzig Millionen Bauern leben in Unfreiheit. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Eigentum des Staates. Über zwanzig Millionen gehören adeligen Grundbesitzern, von denen Einzelne zwei-, manchmal dreitausend Seelen besitzen – Seelen, als seien ihre Herren Gott oder der Teufel, dabei werden die Menschen frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es, heisst es im ersten Artikel der Menschenrechte.» Er schaute den Älteren erwartungsvoll an.
«Wenn du nicht in Teufels Küche kommen möchtest, solltest du diese Gedanken besser für dich behalten.»
Adrians Gesicht wurde verschlossen. «Verzeih, ich habe gehofft, wenigstens bei dir Verständnis zu finden.» Abrupt wandte er sich um und ging davon.
8
In einer langen Kolonne, immer zwei Mann nebeneinander, mit einem grösseren Abstand zwischen den vier Zügen, die von je einem Leutnant befehligt wurden, ritt die Kosaken-Eskadron am Vormittag des 25. Mai über eine Hochebene unweit von Dmanissi Richtung Westen. Die Männer trugen knielange, in den Hüften taillierte, blaue Mäntel, sogenannte Tschochas, samt weissem Bandelier und Gürtel. Dazu schwarze Hosen, die in Reitstiefeln steckten. Ihre hohen Papachi aus Schaffell schützten ihre Köpfe vor den Kapriolen des Wetters. Ausgerüstet waren sie mit Gewehren und Lanzen.
Auf der Höhe der Sioni-Kirche, einer frühchristlichen Basilika, die auf einem Plateau zwischen zwei Schluchten stand, welche die Maschawera und der Pinesauris im Verlauf von Jahrtausenden in den Felsen gegraben hatten, kam ihnen ein Reiter entgegen, der sein schweissbedecktes, ungesatteltes Pferd unbarmherzig zur Eile antrieb. Als er die Kosaken erreichte, hielt er an. Seinem Aussehen und seiner Kleidung nach war er ein armenischer Hirte. Da er völlig verstört war und ausserdem nur mangelhaft Russisch sprach, brauchten von Fenzlau und Jegorow eine Weile, bis sie begriffen, was er von ihnen wollte.
Offenbar hatte eine Tatarenbande heute Morgen einen Gutshof, der etwa vier Werst entfernt in der Steppe lag, überfallen und den Besitzer und seine Familie totgeschlagen. Im Moment waren die Mordbrenner dabei, das Herrenhaus zu plündern und alles, was nicht niet- und nagelfest war, auf Karren zu verladen. Jene Bewohner des zum Hof gehörenden Dorfes, denen es nicht gelungen war zu fliehen, hatten sie gefangengenommen. Er habe in Dmanissi Hilfe holen wollen, sagte der Mann, aber jetzt, wo er auf Soldaten des Zaren stosse … Er sah die Offiziere flehend an.
Der Major und der Rittmeister berieten sich leise. Sie waren sich einig: Man würde die Gelegenheit nutzen, um den Marodeuren eine Lektion zu erteilen. Juri Fedorowitsch gab seinen vier Leutnants die notwendigen Befehle. Kurz darauf setzte sich die Eskadron wieder in Bewegung. Die Pferde wurden zu einem schnellen Trab angetrieben.
Wie üblich ritt Adrian Dreyling neben seinem Vetter an der Spitze der Eskadron. Von Fenzlau musterte den Jüngeren und meinte dann: «Du wirst heute wohl Pulver riechen. Bleib an meiner Seite!», befahl er. «Ich will nicht, dass du bei deinem ersten Gefecht verwundet wirst.»
Rauch, der in den Frühlingshimmel stieg, wies ihnen den Weg. Nach weniger als einer halben Stunde erreichten Vitus und sein Vetter eine Anhöhe. Sie waren vorausgeritten und konnten von hier aus das Land überblicken. Der Major befahl Adrian, Jegorow zu ihm zu bitten. Seine Männer solle er hinter der Kuppe in Deckung bleiben lassen. Während sein Vetter den Befehl ausführte, stieg Vitus vom Pferd, legte sich ins Gras und zog sein Fernrohr hervor. Die Steppe, eine schier unendliche mit wenigen, verkrüppelten Bäumen bestandene Weidelandschaft, dehnte sich bis zum fernen Dschawachetischen Gebirge aus, auf dessen Kämmen noch Schnee lag. Am Fuss des Hügels führte eine mit Birnbäumen gesäumte Allee zum Herrenhaus. Es war aus dem mit hellem Mörtel verbundenen grauen Stein der Gegend erbaut worden. Anliegend an das steilgieblige, zweistöckige Herrenhaus gab es einen niedrigeren, langestreckten Annexbau. Eine gedeckte Veranda, an deren Säulen Wein rankte, verband die beiden Gebäude. Das Langhaus wurde von einem gedrungenen Rundbau abgeschlossen, offenbar eine kleine Kapelle. Eine knapp mannshohe Mauer, durchbrochen von einem einzigen Tor, umgab das Anwesen mit seinem weitläufigen Garten. Jenseits eines mit Buschwerk bestandenen breiten Bachs, der einen mit Wasserpflanzen bedeckten Weiher durchfloss, lagen zwei lange, ebenfalls aus Stein erbaute Ställe. Jeder bot für mindestens hundert Stück Vieh Platz. Dahinter war das Dorf, in dem die Hirten und Tagelöhner des Gutsbesitzers lebten. Einige der elenden Hütten brannten. Aber da war niemand, der die Flammen löschte. Die Tataren hatten Männer, Frauen und Kinder mit langen Stricken aneinandergebunden. Jetzt standen sie am Ufer des Bachs. Von Fenzlau wusste: Wenn er nicht eingriffe, würde man sie, wie damals die gefangenen Kolonisten von Katharinenfeld, ins Osmanische Reich bringen und als Sklaven verkaufen. Auch das Vieh des Gutshofs würde in die unwirtlichen Ebenen des osttürkischen Hochlands getrieben. Die Räuber waren dabei, das Plündergut auf Wagen zu laden, die sie zweifellos aus den Remisen geholt hatten. Auf dem grossen Platz vor dem Herrenhaus lagen mehrere Tote.
«Sie wollen aufbrechen. Das ist der beste Zeitpunkt, um über sie herzufallen», flüsterte Juri Fedorowitsch. Er hatte sich neben den Major ins Gras gelegt.
«Ich schlage vor», sagte von Fenzlau, ohne das Fernrohr abzulegen, «dass wir sie von drei Seiten angreifen und zum Weiher treiben. Dort werden sie kämpfen oder sich ergeben müssen.»
«Auf Gnade oder Ungnade.» Jegorow lächelte böse.
«Du kannst die entsprechende Order geben.» Der Major klappte den Deckel seiner silbernen Taschenuhr auf. «In zehn Minuten werdet ihr losschlagen – und schick Fähnrich Dreyling zu mir!»
Von der Anhöhe beobachteten die beiden Vettern den Angriff der Kosaken, die wie der Zorn Gottes über die Tataren herfielen. Diese suchten ihr Heil in der Flucht, kamen aber wegen der befohlenen Zangenbewegung nicht weiter als bis zum Weiher, und jetzt standen sie dort, rund vier Dutzend Muslime, mit dem Rücken zum Wasser, bedroht von hundertfünfzig auf sie gerichteten Flinten.
Inzwischen waren auch von Fenzlau und der junge Dreyling herangekommen. Der Major befahl den Marodeuren, ihre Waffen wegzuwerfen. Als das geschehen war, wies er die Kosaken an: «Tötet sie!»
Schüsse knallten. Männer wälzten sich brüllend vor Schmerzen am Boden. Adrian begriff: Die Kosaken zielten bewusst tief. Sie wollten den Mordbrennern das Sterben zum Verrecken machen. Langsam rückten die Soldaten vor. Sie hatten ihre Gewehre beiseitegelegt und stachen nun mit ihren Lanzen auf die Verwundeten ein, trieben ihren Mutwillen mit ihnen, steigerten sich in einen Blutrausch, wüteten unter den schreienden Opfern und versuchten, deren Tod solange als möglich hinauszuzögern.
Von Fenzlau sass, ohne sich zu rühren, auf seinem schwarzen Kabardinerhengst. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt.
«Sie haben sich ergeben. Das ist Mord!», schrie Adrian.
«Schweigen Sie, Fähnrich!», fuhr ihn der Major an. Zum ersten Mal seit sie sich kannten, benutzte er die formelle Anrede. «Ihr werdet dieses Schauspiel bis zum Schluss mitansehen.»
Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Endlich. Keiner der Tataren rührte sich mehr. Die Kosaken wuschen ihre Lanzen im Wasser des Weihers, der sich rot verfärbte.
Adrian war totenbleich. «Weshalb hast du das zugelassen?», fragte er den Vetter.
«Komm mit!», forderte der ihn auf. Er lenkte sein Pferd durch die Allee zum Gutshof. Vor der Veranda lagen Tote: erschlagene Kleinkinder, die zu jung, und Greise, die zu alt für den Sklavenmarkt waren.
Sie sassen ab. «Schau dir das an!» Der Ältere wies auf einen Toten in europäischen Kleidern, dem die Kehle durchschnitten worden war. «Ich nehme an, dass das der Gutsherr war. Und da haben wir seine Frau und seine Kinder.» Er zeigte auf ein halbnacktes Weib, dessen Geschlecht eine einzige Wunde war. Zweifellos war sie mehrmals vergewaltigt worden. Ihr Blick aus dem von namenlosem Schrecken verzerrten Gesicht war auf zwei von einer Lanze durchbohrte, etwa fünfjährige Mädchen gerichtet, die sich umschlangen, als könnten sie einander schützen. Sie trugen noch die weissen Hemdchen, in denen sie geschlafen hatten.
Adrian wankte zu einer Blumenrabatte und erbrach sich. Kopfschüttelnd schaute ihm von Fenzlau zu. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem orthodoxen Priester in Anspruch genommen, der über hundert Männer, Frauen und Kinder durch das grosse Tor in der Umfassungsmauer führte. Es waren die Gefangenen der Tataren, welche die Kosaken von ihren Fesseln befreit hatten, einfache Menschen in ärmlicher Kleidung. Sie sahen elend aus. Einige von ihnen lösten sich aus der Gruppe und standen klagend um jene Toten, die ihre Angehörigen sein mochten.
Wie das für seinen Stand üblich war, trug der Geistliche, dessen schwarzer Bart den Hals bedeckte, einen knöchellangen schwarzen Rock und ein Kamilavkion, eine randlose, zylinderförmige Kopfbedeckung. Sein einziger Schmuck war ein schlichtes, silbernes Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hing. Er näherte sich von Fenzlau und stellte sich vor: Er sei Pater Mikheil, und er möchte dem Herrn Offizier für die Befreiung seiner Herde aus den Händen der Heiden danken und dass er ihnen allen das Schicksal der Sklaverei erspart habe. Er sprach leidlich Russisch.
Der Major neigte den Kopf und brachte damit zum Ausdruck, dass er den Dank annahm. Der Priester, er war noch jung, missverstand die Geste und segnete ihn mit einem Kreuzzeichen.
Von Fenzlau, der lutherisch getauft war, schaute ihn amüsiert an. Schliesslich fragte er: «Wer ist der Besitzer des Hofs, oder», er warf einen Blick auf den europäisch gekleideten Toten, «wer war er?»
Er erfuhr, dass das Gut Eben-Ezer hiess und Gottlob Breunig gehöre, einem Deutschen, der sich hier vor zehn Jahren niedergelassen habe. Pater Mikheil wies auf den Ermordeten. «Das ist sein Sohn Immanuel. Das geschändete Weib», er vermied den Blick auf die entblösste Leiche, «dessen Frau Judith, und dort», seine Stimme brach, als er die beiden wie Schmetterlinge an den Boden gespiessten Kinder anschaute, «sind Lea und Rachel.» Der alte Breunig, fuhr er fort, sei zu seiner Tochter nach Tiflis verreist. Man erwarte ihn in den nächsten Tagen zurück.
Der Major schwieg eine Weile. «Bis dahin sind wir längst weitergezogen», sagte er dann. «Ihr werdet ihm berichten müssen, was geschehen ist. Ich nehme an, dass Ihr Euch jetzt um Eure Leute kümmern wollt. Sie sollen ihre Toten ins Dorf schaffen. Ich sorge für die Bestattung der Familie.»
Auf dem Platz vor dem Herrenhaus stand, im Schatten einer mächtigen Blutbuche, eine schlichte, mehr als mannshohe Stele aus Granit, eine Art Mahnmal. Auf Augenhöhe hatte ein Steinmetz auf Deutsch die Worte 1. Samuel, Kap. 7, Vers 12 gemeisselt. Von Fenzlau nahm sich vor, bei Gelegenheit die Bibelstelle zu lesen. Er war der Ansicht, dies sei die geeignete Stelle für die letzte Ruhestätte von Immanuel Breunig und seiner Familie. «Du bist dafür verantwortlich, dass hier bis fünfzehn Uhr ein Grab ausgehoben ist», sagte er zu seinem Vetter, der inzwischen bleich und elend wieder neben ihm stand. «Gib Wassilij und dem Burschen von Rittmeister Jegorow den entsprechenden Auftrag. Sag ihnen, die Grube soll etwa zweieinhalb Arschin tief sein und so breit, dass wir die vier nebeneinanderlegen können.» Er stieg aufs Pferd. «Inzwischen werde ich für die Beseitigung der Mörder sorgen.»
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