Kitabı oku: «Geh, wilder Knochenmann!», sayfa 3
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Viktor Diepoldswiler strahlte eine satte Zufriedenheit aus. Nach vollbrachtem Tagewerk sass er im Auenhof am Kopfende des Tisches. Zu seiner Linken hatten Lena, die Grossmagd, und Esther auf der einen Längsseite Platz genommen, der junge Dölf und der alte Baschi, die beiden Knechte, sassen ihnen gegenüber.
Er bewirtschaftete den Hof nun schon seit über einem Jahr. Später einmal, wenn sich sein Vater aufs Altenteil setzte, würde man ihn mit dem Lindenhof zusammenlegen, und er würde Besitzer eines der grössten Bauerngüter im Tal werden. An Ostern hatte er sich mit Marlis Bieri, der Tochter eines reichen Bauern aus Trubschachen, verlobt. An Weihnachten würde er heiraten. Er würde Nachkommen zeugen und Stammvater eines neuen Zweigs von Diepoldswilers werden.
Das Wetter schien es in diesem Frühjahr 1861 gut mit den Bauern zu meinen. Oben in den Voralpen hatte die Schneeschmelze früh eingesetzt, und nun liessen Sonnentage und warme Regengüsse das Getreide und die übrige Feldfrucht wachsen. Das Gras stand bereits kniehoch. Bald würde man mit der ersten Heuernte beginnen und etwas später das Vieh zur Sömmerung auf die Lüderenalp treiben.
Viktor dankte dem Herrgott für Speise und Trank und kam gleich auf den Mordfall zu sprechen, der in jenem Frühjahr im ganzen Emmental für Gesprächsstoff sorgte. Er fühlte sich dazu besonders berufen, hatte ihm doch sein Vater, der Geschworener am Assisengericht von Burgdorf war, das über das Verbrechen zu urteilen hatte, den Fall in allen Einzelheiten geschildert.
Andreas Schlatter, der Schafberg-Resli aus Signau, ein siebenundvierzigjähriger Hagestolz, war am 15. Februar auf seinem Hof erschlagen worden. Sein Untermieter, der Schuhmacher Jakob Wyssler, der mit seiner Familie auf dessen Hof lebte, meldete der Polizei, die Leiche des Bauern liege auf dem Boden des Tenns. Offenbar sei er von der Heubühne gestürzt. Die Ärzte wollten allerdings nicht an einen Unfall glauben, denn der Schädel des Toten war vollständig zertrümmert. Da man wusste, dass sie mit Schlatter heillos zerstritten waren, wurden Wyssler und sein Freund, Samuel Krähenbühl, der als Knecht beim benachbarten Bauern Jakob Stucki arbeitete, in Haft genommen. Während zweier Monate leugneten die beiden die Tat, bis sie zermürbt von den endlosen Verhören und dem Aufenthalt im Dämmerlicht der engen Gefängniszelle gestanden, dass sie den Mord gemeinsam mit Krähenbühls Meister und Wysslers Frau Verena geplant und begangen hatten.
Während er sich langsam, Bissen um Bissen, mit Milch und Mehl weichgekochtes Gemüse, Kartoffeln, Speck und dazwischen einen gedörrten Birnenschnitz in den Mund schob, kaute und hinunterschluckte, berichtete Viktor, weshalb und wie der Schafberg-Resli umgebracht worden war.
Ein paar Tage vor der Tat hatten Stucki und sein Knecht im Wald des Nachbarn eine Tanne gefällt und auf den eigenen Hof geschafft. Schlatter, dem der Holzfrevel nicht entgangen war, drohte mit einer Strafanzeige. Die beiden Sünder liessen sich von den Wysslers, die bei ihrem Vermieter hoch verschuldet waren, überzeugen, dass allen Beteiligten gedient wäre, wenn man den Geizkragen umbringen würde. Gegen das Versprechen, von der erhofften Beute zweihundert Franken zu bekommen, erklärte sich Samuel Krähenbühl bereit, die Tat auszuführen.
Am 15. Februar traf man sich in Wysslers Wohnung und trank sich Mut an. Dann gingen die drei Männer in den Stall, wo Krähenbühl Schlatter mit einer Eisenstange mehrmals auf den Kopf schlug. Als sich der Bauer blutüberströmt wieder aufrappelte, packten Stucki und Wyssler den Schwerverletzten, schleppten ihn hinauf auf die Heubühne und warfen ihn kopfüber hinunter auf den Boden des Tenns. Anschliessend durchsuchten sie Schlatters Wohnung, fanden aber nicht mehr als ein paar Franken.
«Als sie zurück ins Tenn kamen», schloss Viktor seinen Bericht, «bewegte sich der Totgeglaubte noch immer, worauf ihm Verena mit dem Schuhmacherhammer ihres Mannes das Lebenslicht endgültig ausblies.»
Das Gesinde schwieg beeindruckt, während sich der Meister Milch nachschenkte.
«Da haben sie den alten Mann einfach totgeschlagen wie einen räudigen Hund und zu allem Elend war es ein Weib, das ihm den Rest gegeben hat», sagte Dölf endlich. Es klang beinahe anerkennend, und so fügte er schnell hinzu: «Das hat er nicht verdient, der Schafberg-Resli. Ich hoffe, sie wird ihre gerechte Strafe erhalten.»
Esther fragte sich, ob Dölf, der sich viel auf seine Männlichkeit zugutetat, es nicht in Ordnung fand, dass Schlatter letztlich von Frauenhand hatte sterben müssen. «Die drei Männer haben sich ebenso schuldig gemacht wie Verena Wyssler», empörte sie sich.
Der Melker gab sich nicht geschlagen. «Ihr Mann, Stucki und Krähenbühl haben lediglich versucht, ihn umzubringen. Ermordet hat ihn das Weibervolk», trumpfte er auf. «Das ist doch vor dem Gesetz ein Unterschied, nicht wahr, Meister?»
Viktor mochte es, wenn ihn das Gesinde bei Differenzen nach seiner Meinung befragte. Das gab ihm das Gefühl, auch in Dingen jenseits der täglichen Arbeit auf dem Hof die letzte Instanz zu sein. Er lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Stirn in Falten. «De jure mag das, was Dölf sagt, korrekt sein, de facto hat aber zweifellos Esther recht.» Er machte eine Pause und schielte zu seiner hübschen Base. Realisierte sie, dass ihm lateinische Begriffe wie de jure und de facto ganz natürlich über die Lippen flossen? Obwohl er bald heiraten würde, gefielen ihm die fraulichen Rundungen der inzwischen siebzehnjährigen Verwandten, die auch seine Jungmagd war. «Mein Vater meint, dass sie alle dieselbe Strafe bekommen werden.» Er fuhr mit der Kante der rechten Hand über seine Kehle.
«Rübe ab!», kommentierte Baschi, der Karrer, der sich bis dahin ausschliesslich dem Essen gewidmet hatte.
«Auge um Auge, Zahn um Zahn», bestätigte der Meister.
«Jesses», entsetzte sich Lena, «vier Leben für eines!»
«Die irdische Gerechtigkeit muss dem göttlichen Gesetz Genüge tun.» Viktor geriet ins Moralisieren. «Angefangen hat alles mit Gier und Neid. Die Wysslers, diese Hungerleider, wollten Schlatters Geld. Stucki und Krähenbühl stahlen ihm Holz. Jede böse Tat bringt eine neue hervor, und am Schluss stehen Mord und Totschlag.» Er schaute Esther bedeutungsvoll an. «Du sollst nicht stehlen, spricht der Herr.»
Sie erwiderte seinen Blick und fragte sich, ob der Vetter wusste, dass sie Woche für Woche einen Raubzug in die Speisekammer unternahm, um das, was sie entwendete, ihrem kleinen Bruder zuzustecken.
6
Anders als für Simon hatte sich Esthers Leben nach dem Tod des Vaters nicht wesentlich verändert. Gewiss, sie diente jetzt als Magd auf dem Auenhof – aber war sie das, bei rechtem Lichte besehen, nicht schon vorher gewesen? Hatte sie nicht schon früher in der Küche und auf dem Pflanzplätz mithelfen und das Kleinvieh besorgen müssen? Sie bewohnte weiterhin ihre Kammer, niemand missgönnte ihr das Essen und für Lena war sie nach wie vor die Tochter des alten Meisters, der nun eben, Gott sei’s geklagt, gestorben war.
Am Pfingstsonntag, der in diesem Jahr auf den 19. Mai fiel, ging Esther zusammen mit dem Gesinde vom Auenhof, ein paar Schritte hinter Viktor, durch die Marktstrasse zur Kirche. In ihrer Sonntagstracht mit dem schwarzen Mieder über dem gestärkten, weissen Hemd, der weissen Schürze, dem grauen, gestreiften Rock, unter dem zwei weissbestrumpfte Knöchel hervorblitzten, und dem Strohhut, der keck auf ihrem zu einem Zopf gebundenen braunen Haar sass, war Esther eine aparte Erscheinung. Es war unübersehbar: Das schlanke und grossgewachsene junge Mädchen stand an der Schwelle zum Frausein. Wenn sie sich im Dorf sehen liess, zog sie nicht nur die begehrlichen Blicke stössiger Burschen auf sich. Realisierte sie, dass ihr Anblick so manches Männerherz, auch jenes ihres Vetters, in Aufruhr versetzte?
Nach der Predigt traf sich Esther wie üblich hinter der Kirche mit Simon am Grab der Eltern. Sie umarmte den Bruder. Die grosse Schwester war die einzige, der er solche Zärtlichkeiten erlaubte. Der Junge schnupperte. Sie roch nach Frühling. Lydia Amsoldinger, Jakobs Pflegemutter, hatte ihr zu Weihnachten ein Fläschchen mit Maiglöckchenessenz geschenkt und ihr gesagt, die Jungfern in der Stadt Bern würden damit bei festlichen Gelegenheiten Handgelenke und Ohrläppchen betupfen. Offenbar war Pfingsten ein solcher Anlass.
Jenseits der Mauer, die den Gottesacker umfriedete, lag das Pfarrhaus mit seinem Garten, wo Jakobs Staffelei stand. Vielleicht wollte der Bruder am Nachmittag die Schrattenfluh malen, die im Südosten den Horizont abschloss. Ihre schwarzen Felsen hoben sich vom blauen Himmel ab, über den Schönwetterwolken zogen.
Als sie unter ihrer Schürze die in ein Tuch eingeschlagenen Esswaren hervorzog, um sie Simon zu geben, legte sich schwer eine Hand auf ihre Schulter. Erschreckt fuhr sie herum. Hinter ihr stand Viktor Diepoldswiler. Von den Geschwistern unbemerkt, war er ihnen nach dem Gottesdienst hierher gefolgt und hatte sie beobachtet. Ruhig nahm er Esther das Paket aus den Händen, öffnete es und betrachtete, die rechte Braue hochgezogen, die beiden Dauerwürste, das grosse Stück Käse, den Streifen Speck und die gedörrten Apfelringe, die aus der Speisekammer des Auenhofs stammten. «Deine Schwester verschenkt anderer Leute Eigentum», sagte er zu Simon, der ihn unerschrocken anstarrte. «Du magst es behalten, als Gabe von deinem Vetter – Hungerleider!» Er warf ihm alles vor die Füsse.
Während der Junge auf allen vieren seine Schätze barg, packte Viktor Esther am Oberarm und zerrte sie über den Friedhof, an der Kirche vorbei und die Treppe hinunter zum Bärenplatz. Obwohl sie sich heftig sträubte und laut zeterte, lockerte er auch in der Marktstrasse, wo die Leute stehen blieben und ihnen verwundert nachstarrten, seinen Griff nicht. Er führte sie wie eine Gefangene über die Brücke der Ilfis hinunter in die Schwemmebene, vorbei an den Schachenhäusern zum Auenhof, und liess sie erst los, nachdem er sie in seine Kammer gestossen und die Tür hinter sich verschlossen hatte.
Es war das Zimmer von Esthers Eltern. Hier war sie vor siebzehn Jahren zur Welt gekommen. Hier war die Mutter bei der Geburt ihres vierten Kindes gestorben, das, als sie es aus ihrem Schoss gepresst hatte, bereits tot war. Hier, auf demselben Bett, hatte man vor zwei Jahren die Leiche Hannes Diepoldswilers aufgebahrt. Hier stand der schwere Tisch aus Eichenholz, an dem der Vater Einnahmen und Ausgaben ins grosse Haushaltbuch eingetragen hatte. Und hier, vor diesem Tisch, hatte sie jeweils Rede und Antwort stehen müssen, wenn sie gegen eines seiner Gebote verstossen hatte.
So wie jetzt. Viktor hatte Platz genommen und musterte die Base aus zusammengekniffenen Augen, während sie mit puterrotem Gesicht vor ihm stand, mühsam gegen Tränen der Wut und der Scham kämpfend.
«Du hast mich bestohlen, Mädchen», sagte er jetzt. Mädchen – als sei sie ein unartiges Kind. «Seit einiger Zeit beobachte ich, wie du meine Speisekammer plünderst. Weisst du, was man hierzulande mit Dieben macht?»
Esther biss sich auf die Lippen und starrte trotzig zu Boden.
«Eine wie dich sperrt man ins Gefängnis, und wenn du endlich wieder freikommst, findest du keine Stelle mehr. Wer will schon eine, die sich an fremdem Besitz vergreift? Auch einen anständigen Mann wirst du nicht finden», fuhr er fort, «höchstens einen Vaganten oder Landstreicher, einen, der auch im Loch gewesen ist. Ihr werdet weiter betrügen und stehlen, irgendeinmal werdet ihr jemanden totschlagen, um ihn zu berauben, so wie die vier Mörder von Signau, und schliesslich werdet ihr im Zuchthaus oder auf dem Schafott enden.»
Wenn Viktor geschrien hätte oder getobt, wie seinerzeit der Vater, wäre alles weniger schlimm gewesen. Aber er sprach ganz ruhig, sagte ihr ein Schicksal voraus, das unausweichlich schien, ein Schicksal als Verworfene. Esther fiel die Mutter ein, die fromm gewesen war und die sie stets angehalten hatte, nicht vom rechten Pfad abzuweichen. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
«Heulen nützt auch nichts», meinte Viktor. «Ich werde dich dem Landjäger übergeben müssen, du wirst die heutige Nacht in der Zelle im Gemeindehaus verbringen, morgen kommst du dann ins Gefängnis nach Burgdorf.»
«Nein», schluchzte Esther, «nicht ins Gefängnis. Ich habe ja nichts für mich genommen. Es war alles für Simon, der bei seinem Meister Hunger leiden muss.»
«Du hast gestohlen», sagte Viktor unbarmherzig. Er legte zwei Finger seiner linken Hand unter ihr Kinn. «Schau mich an, Mädchen.» Durch einen Tränenschleier nahm sie wahr, dass seine Augen seltsam glänzten.
«Du weisst, dass du Unrecht getan hast, dass du eine Diebin bist und dass du bestraft werden musst?»
«Ja», schniefte sie, «aber bring mich nicht ins Gefängnis.» Obwohl es ihr unangenehm war, dass er sie anfasste, wagte sie nicht, sich zu bewegen.
«Du möchtest lieber, dass ich dich bestrafe, als dich der Polizei zu übergeben?» Seine Stimme klang jetzt heiser. Er hatte sich vom Stuhl erhoben. Gross und massig stand er vor ihr. Er zwang sie, den Kopf in den Nacken zu legen und ihm ins Gesicht zu schauen.
«Ja.» Esther schrie es beinahe. «Alles, nur nicht ins Gefängnis.»
«Nun, du hast es gewollt. Beug dich über den Tisch.»
Sie glaubte nicht recht gehört zu haben. Als Kind war sie auf diese demütigende Weise vom Vater gezüchtigt worden. Später hatte es nur noch Maulschellen abgesetzt, wenn sie ihm Anlass zum Zorn gab.
«Wird’s bald?», knurrte der Vetter. «Oder soll ich dich auf die Gemeinde bringen?»
Esther legte den Oberkörper auf die Tischplatte. Mit den Händen klammerte sie sich an der Kante fest. Entsetzt realisierte sie, dass Viktor, was der Vater nie gemacht hatte, ihr Rock und Unterrock über die Hüfte hochschlug, so dass sie ihm den nackten Hintern präsentierte. Sie presste die Beine zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Er sollte sie nicht schreien hören. In Erwartung des Schmerzes spannte sie alle Muskeln an. Würde er sie mit einem Stock schlagen oder mit einem Riemen?
Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen hörte sie das Geräusch raschelnder Kleider, hörte, wie der Vetter schwer atmete, spürte, wie er sich über sie beugte, wie er seinen Fuss zwischen ihre Knöchel schob, wie er sie zwang, die Beine breitzumachen. Sie starrte über den Tisch hinweg aus dem Fenster hinüber zur Dürsrüti, wo, wie ihr seltsamerweise einfiel, die schönsten Weisstannen weit und breit wuchsen. Ein Teil des Waldes, der jetzt im Besitz Viktors war, hatte ihrer Familie gehört, so wie der Auenhof mit seinen Feldern, Äckern und dem Weideland.
Ein Schmerz, der sie zu zerreissen drohte, liess Esther aufschreien. Aufschluchzend trommelte sie mit den Fäusten auf die Tischplatte, als sie spürte, wie warmes Blut ihre Oberschenkel nässte und die Beine hinunterlief.
Endlich liess Viktor von ihr ab. Benommen richtete sie sich auf, bedeckte mit fahrigen Bewegungen ihre Blösse, ballte die Fäuste.
«Schau dir an, was du angerichtet hast», fuhr sie der Vetter an, der sich die Hose zuknöpfte. Auf dem Boden glänzte eine Blutlache. «Du holst jetzt eine Bürste und einen Eimer und bringst die Sauerei in Ordnung!»
Esther taumelte aus der Kammer. Ihr Unterleib schmerzte. Jeder Schritt tat ihr weh. Nach einer Weile kam sie zurück, liess sich auf die Knie nieder und begann die Tannenbohlen zu schruppen.
Viktor stand vor ihr, schaute auf sie hinunter. Seine zwei von schwarzem Tuch umhüllten Beine standen wie Säulen vor ihr. Der Boden war längst sauber. Sie schruppte weiter, bewegte die Bürste, die sie immer wieder in den Eimer tauchte, hin und her, als könne sie so ungeschehen machen, was geschehen war, als könne sie sich von ihrer Befleckung reinigen.
«Es genügt. Du kannst jetzt aufhören.»
Abrupt hielt sie inne. Sie blieb auf den Knien. Senkte den Kopf, schloss die Augen und versuchte vergeblich, ihren Vergewaltiger aus ihrer Welt zu verbannen. Seine Stimme drang durch die unsichtbare Mauer, die sie um sich zu errichteten versuchte.
«Ich will anerkennen», sagte er, «dass du nur für deinen kleinen Bruder, diesen Tunichtgut, zur Diebin geworden bist, und ich bin, unter gewissen Bedingungen, bereit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.»
Erschreckt hob sie den Kopf.
«Erstens musst du über das, was heute zwischen dir und mir geschehen ist, schweigen. Zweitens», fuhr er fort, «wirst du mir versprechen, mich nie mehr zu bestehlen. In diesem Fall darfst du bis zum Ende dieses Jahres auf dem Auenhof bleiben. Dann wirst du eine neue Stelle suchen müssen. Denn eine wie dich möchte ich meiner künftigen Frau als Magd nicht zumuten. Hast du mich verstanden?»
Esther hatte sich inzwischen hochgerappelt und starrte den Vetter, der, die Daumen in den Ärmellöchern seiner Weste, drohend vor ihr stand, aus verquollenen Augen verständnislos an.
«Hast du das begriffen, Mädchen, oder soll ich dafür sorgen, dass du ins Gefängnis kommst?», herrschte er sie an.
«Nein», flüsterte sie entsetzt. «Ich werde mich an alles halten. Ich verspreche es.»
«Siehst du, ich wusste, dass wir uns verstehen», meinte er. «Und nun pack dich fort!»
In ihrem Zimmer warf sich Esther aufs Bett. Sie barg ihr Gesicht in der rechten Ellenbeuge. Ihre Gedanken kreisten endlos um das Wort «geschändet», das sich mit den Schmerzen in ihrem Unterleib zur Gewissheit verband, sie sei für immer beschmutzt, sei nicht mehr wert als ein Stück Vieh, über das der Vetter verfügen konnte.
Nach einer halben Ewigkeit hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und jemand ihre Kammer betrat. Sie verkrampfte sich. War er zurückgekommen? Wollte er seine böse Lust erneut an ihr stillen? Erleichtert realisierte sie, dass es die alte Lena war, die an ihrem Bettrand stand und mit ihren schwieligen Händen ihren Rücken streichelte.
Zwei Stunden zuvor hatte die Grossmagd aus dem Küchenfenster beobachtet, wie der Meister Esther, die sich verzweifelt gegen seinen harten Griff zur Wehr setzte, hinter sich her über den Hof ins Wohnhaus gezogen hatte. Als sie hörte, dass er sie hinauf in sein Zimmer schaffte, war sie leise die Treppe hochgestiegen. Sie hatte nicht alles verstanden, was hinter der geschlossenen Tür gesprochen wurde, aber sehr wohl geahnt, was Viktor drinnen mit der jungen Frau anstellte.
Lena selber war vor einem halben Jahrhundert als Dreizehnjährige von ihren Eltern auf den Auenhof verdingt worden. Zwei Jahre später hatte sich der alte Diepoldswiler, Esthers Grossvater, zum ersten Mal an ihr vergriffen. Er hatte sie immer wieder missbraucht. Schliesslich war sie schwanger geworden. Die Meisterin hatte nicht danach gefragt, wer der Vater des Jungen war, den sie auf dem Hof zur Welt bringen durfte. Nach der Geburt wurde das Kind vom Waisenvogt abgeholt. Ein Ehepaar aus Bern wolle es adoptieren, hatte man ihr gesagt. Er werde es dort gut haben, die Leute seien reich. Sie hatte ihren Sohn nie wiedergesehen. Falls er noch lebte, war er inzwischen achtundvierzig Jahre alt, ein Mann.
Im Übrigen hatte sie Glück gehabt. Da die Meisterin fast gleichzeitig Mutter eines Mädchens geworden war, das sie selbst nicht stillen konnte, behielt man Lena auf dem Hof, damit sie als Amme das Kind mit jener Milch ernährte, die für ihren Jungen bestimmt gewesen wäre.
Ihr Schicksal war nicht ungewöhnlich. Weder damals noch heute. Jetzt hatte es eben Esther getroffen. Die Dinge wiederholten sich, würden sich wohl nie ändern. Wenn eine Magd jung und hübsch war und niemanden hatte, der sich um sie kümmerte, so galt sie für viele Bauern im Tal als Freiwild.
Lena war wieder in die Küche hinuntergegangen. Nein, sie hatte nicht eingegriffen. Wie auch? Der junge Diepoldswiler hätte sie vom Hof gejagt und sie mit ihren dreiundsechzig Jahren dem Elend des Strassenbettels preisgegeben.
Später, als er endlich in der Stube erschien und am grossen Tisch Platz nahm, hatte sie ihm die Mahlzeit aufgetragen, die er nach einem kurzen Tischgebet schweigend in sich hineinschaufelte. Als er fertig war, hatte er seinen Hut genommen und erklärt, er besuche seine Braut.
Sie hatte ihm nachgeschaut, als er über den Hof schritt. Er war ein stattliches Mannsbild, gross und breitschultrig, mit einem Hang zur Korpulenz. Auch wenn er nur der Pächter seines Vaters war, schien es Lena, als sei Viktor um Zentimeter gewachsen, seit er auf dem Auenhof das Sagen hatte.
Lena setzte sich auf Esthers Bett. «Er hat dir Gewalt angetan, nicht wahr?», sagte sie leise, und als sie spürte, wie sich die junge Frau versteifte: «Und er hat dir verboten, darüber zu sprechen.»
«Es tut so weh», wimmerte Esther, die sich nicht umdrehte.
«Ich habe dir etwas mitgebracht, das deine Schmerzen lindert.» Lena kramte einen Tiegel aus ihrer Schürze. «Es ist eine Kamillensalbe. Trag sie auf die wunde Stelle auf, sie wird sie heilen.»
«Nichts wird mich heilen», flüsterte Esther, «nichts wird wieder gut werden. Nie mehr.»
Noch immer streichelte Lena ihren Rücken. «Du wirst es überwinden, glaub mir.»
«Was weisst du davon?», stiess Esther verzweifelt hervor. «Ich bin gezeichnet fürs Leben.»
«Frauenschicksal», sagte Lena. «Ich weiss von diesen Dingen mehr, als du ahnst. Du bist nicht die Erste, der man Gewalt angetan hat, und du wirst nicht die Letzte sein. Solange es der Meister ist, der sich an einer Jungmagd vergreift, wird im Tal kein Hahn danach krähen. Dein Vater, Gott hab ihn selig, der dich vor ihm hätte schützen können, liegt auf dem Gottesacker. Du tust gut daran, die ganze Sache tief in deinem Herzen zu begraben und weiterzuleben wie bisher.»
«Das kann ich nicht!» Esther setzte sich auf und schaute Lena verzweifelt an.
«Glaub mir, du kannst es. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig.»