Kitabı oku: «Geh, wilder Knochenmann!», sayfa 4

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7

In den folgenden Tagen machte sich Esther in der Küche und im Haushalt nützlich, sie pflegte den Pflanzgarten und besorgte das Kleinvieh, und wenn man sie brauchte, half sie bei der Feldarbeit. Aber nichts war mehr wie bisher. Ihre Fröhlichkeit und Zuversicht waren dahin. Ebenso wie die Drohung des Vetters, sie allenfalls als Diebin der Polizei zu übergeben, verstörte sie die Erkenntnis der eigenen Versehrbarkeit. Auch litt sie unter der Vorstellung, den Auenhof, wo sie aufgewachsen war, in ein paar Monaten verlassen zu müssen. Die Zukunft türmte sich wie eine dunkle Wolkenwand vor ihr auf.

Viktor erwähnte mit keinem Wort, was geschehen war. Er redete überhaupt kaum mit ihr, und wenn doch, so sprach er die Base nicht mehr mit ihrem Namen an. Sie war für ihn nur noch «das Mädchen». Sie nahm es ohne Widerspruch hin. Von Simon hatte sie gehört, dass man ihn bei den Reists «Bub» nannte. Das Mädchen und der Bub. Ohne dass sie es in Worte hätte fassen können, begriff Esther, dass sie als Geschändete verdingt, zum Ding entwürdigt worden war. Genau gleich wie Simon.

Am schwersten zu ertragen waren die Mahlzeiten. Wenn der Vetter am Morgen vor dem Frühstück mit bedeutungsschwerer Stimme einen Text aus der Bibel vorlas, starrte sie vor sich hin. Wenn beim anschliessenden Gebet die anderen die Hände falteten, den Kopf senkten und die Augen schlossen, beobachtete sie ihn verstohlen und voller Abscheu. Durch ihn hasste sie jenen Gott, dessen Segen er Tag für Tag auf den Auenhof herabflehte. Später beim Essen stocherte sie lustlos in ihrem Teller herum, gab, wenn man sie etwas fragte, nur einsilbig Antwort und war erleichtert, wenn sie wieder an ihre Arbeit gehen konnte.

Den Ekel, den der Vetter bei ihr auslöste, empfand sie auch vor Baschi und Dölf, den beiden Knechten. Sie hielt sich von ihnen fern und wich ihnen wenn immer möglich aus. Nur mit Lena sprach sie noch. Allerdings nur über alltägliche Dinge. Es war ihr unmöglich, über die Geschehnisse von Pfingsten zu reden.

Doch nachts, wenn sie im Bett lag, quälten sie die Bilder, die immer wieder aufs Neue aus ihrem Innern aufstiegen. Sie lauschte angstvoll in die Dunkelheit, ob der Vetter erneut kommen und ihr Gewalt antun würde. Wenn sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, schreckte sie beim kleinsten Geräusch hoch, hielt den Atem an, spürte ihr Herz rasen. Manchmal versuchte sie zu beten, dann fiel ihr ein, dass sie nichts mit jenem Gott zu tun haben wollte, mit dem Viktor offenbar auf vertrautem Fuss stand.

Als Simon am Sonntag nach Pfingsten in der Kirche neben Jakob Platz genommen hatte, versuchte er vergeblich einen Blick von Esther zu erhaschen. Sie sass drüben auf der Frauenseite neben Lena. Sie war blass und starrte, als ginge sie das, was um sie herum geschah, nichts an, auf einen imaginären Punkt im Chor. Simon beobachtete, wie Lena der Schwester einen Stoss in die Seite gab, wenn es galt, sich zu erheben, und wie sie sie am Ärmel zupfte, damit sie nicht stehen blieb, wenn sich die Gläubigen wieder auf die harten Bänke niederliessen. Esthers Verhalten verwirrte ihn. Sie schloss sich vom Gottesdienst aus – weder faltete sie die Hände, wenn Pfarrer Amsoldinger betete, noch beteiligte sie sich am Gemeindegesang. Während der vergangenen Woche hatte er sich oft gefragt, wie es ihr wohl ergangen war, nachdem Viktor sie dabei erwischt hatte, als sie ihm Esswaren zugesteckt hatte. Der Vetter hatte sie wie ein störrisches Schaf, das man dem Metzger zuführt, über den Gottesacker gezerrt. Ob sie geschlagen worden war, so wie er selber auf Hollerbüelhus geschlagen wurde? Nun, er würde es nach der Predigt wohl von ihr erfahren.

Als er aber endlich am Grab der Eltern stand, wartete er vergeblich auf sie. Stattdessen erschien sein Onkel, Moritz Diepoldswiler, der Lindenhofbauer.

«Wenn du glaubst, deine Schwester habe wieder die Speisekammer meines Sohnes geplündert, damit du dir mit Speck und Würsten den Bauch vollschlagen kannst, Bürschchen, so täuscht du dich.» Er nahm den Jungen am Ohr und drehte es, so dass der einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken konnte. «Solange sie als Magd auf dem Auenhof dient, wirst du mit ihr keinen Kontakt mehr haben. Hast du verstanden?» Er liess ihn los.

Simon starrte den Vormund, den er von ganzem Herzen und aus ganzer Seele hasste, entgeistert an. Der Onkel, der ihn am Verdingmarkt an Anton Reist verschachert hatte, wollte ihm verbieten, mit Esther zu sprechen.

Diepoldswiler packte ihn am Oberarm und schüttelte ihn. «Ob du verstanden hast, habe ich gefragt», schrie er.

«Würdet Ihr bitte Simon in Ruhe lassen!» Die energische Frauenstimme gehörte Lydia Amsoldinger. Sie und Jakob waren unterwegs zum Pfarrhaus, das jenseits der Hecke am Ostende des Friedhofs stand.

Der Waisenvogt liess von seinem Mündel ab. Er schaute die vornehme Frau, die als einzige im Dorf städtische Kleidung trug, aus schmalen Augen an. «Ihr tätet besser daran, Euch nicht in Dinge einzumischen, die Euch nichts angehen», sagte er drohend.

Sie liess sich von ihm nicht einschüchtern, erwiderte unerschrocken seinen Blick. «Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn Ihr glaubt, einen Gast unseres Hauses misshandeln zu dürfen.»

«Ein Gast Eures Hauses!», höhnte Diepoldswiler. «Einer, der sich von seiner Schwester mit gestohlenen Esswaren vom Hof meines Sohnes mästen lässt.»

«Mir will scheinen, da wäre noch viel zu mästen.» Die Ironie in der Stimme der Pfarrfrau war nicht zu überhören. Ihr Blick schweifte von der wohlgenährten Gestalt des Lindenhofbauern hinüber zum mageren Jungen. «Als sein Vormund müsstet Ihr dafür sorgen, dass er dort, wo Ihr ihn in Pflege gegeben habt, genügend zu essen bekommt.»

«Sagt mir nicht, was wir zu tun haben», grollte Diepoldswiler. «Sein Meister erhält von der Gemeinde Pflegegeld.»

«Fünfundzwanzig Franken im Monat, ich weiss. Dafür arbeitet er wie seine Schwester ohne Lohn zehn Stunden am Tag für fremde Leute.» Lydia Amsoldinger funkelte den Waisenvogt an. Alles in ihr empörte sich über das Fürsorgewesen in den Gemeinden, das zuliess, dass Kinder auf Bauernhöfen wie Leibeigene gehalten wurden. «Ich möchte gern wissen, was mit dem vielen Geld geschehen ist, das die Gemeinde für den Verkauf des Erbes der drei Kinder Eures verstorbenen Vetters gelöst hat.»

«Ihr solltet besser Eure Zunge hüten.» Erneut versuchte der Bauer die Pfarrfrau mit seinem Blick niederzuringen.

Sie gab kein Jota nach. «Und Ihr solltet Euch gut überlegen, wie Ihr Euch für Euer Tun rechtfertigt, wenn Ihr eines Tages vor Gottes Thron tretet. Kommt, Buben!» Sie wandte sich den Brüdern zu, die sich vom Dialog kein Wort hatten entgehen lassen. «Das Mittagessen wartet auf uns.» Sie legte den beiden die Arme um die Schultern und liess Moritz Diepoldswiler stehen.

«Und jetzt verrätst du uns, worum es in der Geschichte mit der Speisekammer geht, die den Waisenvogt derart in Rage gebracht hat», forderte Pfarrer Amsoldinger Simon auf, nachdem seine Frau die Begegnung mit dem Lindenhofbauern geschildert hatte. Man sass am gedeckten Tisch und wartete, bis die Magd, die man in der Küche rumoren hörte, das Essen auftragen würde.

Stockend gestand der Junge, dass ihn die Schwester bis vergangene Woche Sonntag für Sonntag mit guten Gaben vom Auenhof versorgt hatte.

«Seine Meistersleute im Gohlgraben missgönnen ihm jeden Bissen», warf Lydia Amsoldinger ein. «Ohne Esthers Hilfe müsste der arme Bub Hunger leiden.»

Der Pfarrer überging ihren Einwand. «Hast du gewusst, dass das, was dir Esther gegeben hat, gestohlen war?»

«Sie hat nichts gestohlen, was nicht uns gehören würde.» Das war Jakob. Er war erregt. «Sie haben uns um unser Erbe betrogen, haben Esther zur Magd gemacht und Simon zum Knecht …» Er verstummte.

Lukas Amsoldinger hob überrascht den Kopf. Es kam selten vor, dass sich sein fünfzehnjähriger Pflegesohn in eine Diskussion einmischte. In der Regel hörte Jakob zu, beobachtete, versuchte zu ergründen, was zwischen den Zeilen gesprochen wurde. Was er dachte, gab er bestenfalls in den Bildern, die er malte, preis.

Während die Magd das Essen auftischte, dachte der Pfarrer nach. Sein asketisches Gesicht nahm einen kummervollen Ausdruck an. Obwohl man seit bald sechzig Jahren in einer Demokratie lebte, verstanden sich im Emmental Grossbauern wie Moritz Diepoldswiler als Angehörige einer Art ländlicher Aristokratie, die in ihren Gemeinden das Regiment nach eigenem Gusto führten. Die Armen – und es gab viele von ihnen, allein in Langnau musste jeder Vierte von der Fürsorge unterstützt werden – waren ihrer Willkür preisgegeben. So wie die Kinder des verstorbenen Hannes Diepoldswiler, dessen Besitz sie unter sich aufgeteilt hatten, während ein elternloser Junge wie Simon darben musste. «Es geht hier nicht um den Waisenvogt, sondern um das, was Esther getan hat», sagte er schliesslich. «Auch wenn sie es gut gemeint hat – sie hat Dinge gestohlen, die ihr nicht gehören. Wenn ihr Meister sie anzeigt, wird man sie bestrafen.»

Jakob und Simon starrten den Pfarrer fassungslos an. Auch seine Frau war schockiert. «Er könnte sie anzeigen?», erregte sie sich. «Dieser aufgeblasene Kerl, der sich auf Kosten der drei Kinder bereichert, könnte das liebe Mädchen, das sich um seinen kleinen Bruder kümmert, anzeigen? Du weisst, dass das nicht gerecht ist.»

Ihr Mann hob mit einer hilflosen Geste die Arme. «Gerechtigkeit und Recht sind zwei verschiedene Dinge. Anders als Esther, die gestohlen hat, handelte der Gemeinderat, der für das Fürsorgewesen zuständig ist, rechtens, auch wenn er Unrecht getan haben mag.»

«Getan haben mag …» Lydia Amsoldingers Stimme wurde schrill. «Diese kleinen, gierigen Dorfkönige haben Unrecht getan, sie haben sich gegen Gott und die drei Kinder versündigt. Ich habe so genug von diesem verlogenen Pack, das sonntags in der Kirche beim Gebet fromm die Hände faltet und unter der Woche die Armen, Witwen und Waisen ins Elend stösst.» Sie unterbrach sich, zog ein blütenweisses Taschentuch aus dem Ärmel und presste es gegen den Mund, während sie hustend um Atem rang. Als der Anfall endlich vorbei war, lehnte sie sich erschöpft im Stuhl zurück und betrachtete erschrocken das Tüchlein das sich rot verfärbt hatte. «Blut», flüsterte sie entsetzt und schaute ihren Mann aus grossen Augen an. Sie erhob sich: «Bring mich in unser Zimmer.»

Er war ebenfalls aufgestanden. «Esst ohne uns, Buben», sagte er, während er sie aus dem Raum führte. «Wir müssen eine Weile allein sein.»

«Ich mag auch nichts.» Jakob faltete seine Serviette zusammen. «Iss so viel du kannst», forderte er den Bruder auf. «Du brauchst es. Wenn du fertig bist, findest du mich in meinem Zimmer.»

Simon blieb allein zurück. Vor ihm auf dem Tisch stand, wie er sich das in der vergangenen Woche, wenn er ans Mittagsmahl im Pfarrhaus dachte, oft ausgemalt hatte, eine Platte mit einem Schmorbraten, ferner Schüsseln mit Dörrbohnen, Kartoffeln und Birnenschnitzen. Einen Augenblick lang kämpfte er mit sich, ob er dem Bruder folgen sollte, dann stieg ihm der Duft des Essens in die Nase. Hinter ihm lagen sieben magere Tage, an denen er kaum satt geworden war. Er schob den Gedanken an Esther und die Pfarrfrau beiseite und schöpfte sich den Teller voll.

Später sass er bei Jakob, der mit einem Kohlenstift ein Bild skizzierte. Eine Frau, fast noch ein Mädchen, war mit schweren Ketten an einen Felsen geschmiedet, der hoch aus dem wildschäumenden Meer ragte. Ihr Haar flatterte im Wind. Ihr Blick war auf ein grässliches Ungeheuer gerichtet, das aus den Wellen auftauchte.

Simon erkannte sofort, dass der Bruder eine Szene aus der Perseus-Sage zeichnete. Die Unglückliche war Andromeda, die von ihren Eltern dem Nereus geopfert werden musste, weil sich ihre Mutter über die Töchter des Meeresgottes erhoben hatte.

Gebannt schaute er zu, wie Jakob der Jungfrau die Gesichtszüge Esthers verlieh, deren Augen panisch geweitet waren.

«Wo ist Perseus?», fragte Simon, der wusste, dass der Held das Ungeheuer besiegt und die Jungfrau geheiratet hatte.

«Ich stelle mir vor, dass er nicht gekommen ist und Andromeda sterben musste.» Jakob legte das Blatt in die grosse Mappe, in der er seine Bilder aufbewahrte.

«Aber in der Geschichte hat Perseus sie befreit.»

«Ja, in der Geschichte. Aber wer sagt, dass die Geschichte stimmt?»

Simon schwieg verwirrt. Wieder einmal konnte er den Gedankengängen des Bruders, dessen Talent er neidlos bewunderte, nicht folgen. Eine Sage einfach zu verändern, erschien ihm irgendwie unrecht. Hinzu kam, dass der Bruder Andromeda nach dem Vorbild Esthers gemalt hatte. Weshalb hatte er das getan?

Drüben im Salon wurde Klavier gespielt. Offenbar hatte sich Lydia Amsoldinger von ihrem Anfall erholt. «Es geht ihr wieder besser», stellte Simon fest.

Jakobs lauschte konzentriert. «Weisst du, was sie spielt?» Er öffnete leise die Tür und beobachtete die Pflegemutter, die mit halb geschlossenen Augen Der Tod und das Mädchen von Franz Schubert interpretierte, eine melancholische Weise in Moll, zu der sich der Komponist, wie sie ihm einmal erzählt hatte, von einem Gedicht von Matthias Claudius hatte inspirieren lassen.

«Nein, sie hat das noch nie gespielt, wenn ich da war.»

«Es geht um ein Mädchen, das den Tod, der zu ihr kommt, anfleht:

Vorüber! Ach, vorüber!

Geh, wilder Knochenmann!

Ich bin noch jung, geh, Lieber!

Und rühre mich nicht an

«Und», wollte Simon wissen, «verschont er sie?» Der Vers löste eine Beklommenheit in ihm aus, die ihn ängstigte. Er musste an Esther denken, die heute bleich und seltsam abwesend in der Kirchenbank neben Lena gesessen war.

Jakob hatte seinerzeit die Pflegemutter gebeten, ihm das ganze Gedicht vorzulesen, aber sie hatte sich geweigert. Heute sang sie den Text nicht, sondern beschränkte sich allein auf die Melodie. Er kannte und hasste jeden Ton dieses Totentanzes, der für ihn zur Begleitmusik der Schwindsucht geworden war, die seine Pflegemutter von innen her auffrass. Das Schubertlied war inzwischen zu einem Ohrwurm geworden, der sich in seinem Kopf eingenistet hatte.

«Ich weiss nicht, wie es weitergeht», antwortete er dem Bruder in einem Ton, der jede weitere Frage ausschloss.

Nach einer Weile brach das Klavierspiel ab. Aus dem Salon hörten sie, ohne zu verstehen, was gesprochen wurde, die Stimmen der Eheleute. Als die Glocken der Kirche vier Uhr schlugen, kam Lydia Amsoldinger in Jakobs Zimmer. «Du musst zurück nach Hollerbüelhus», sagte sie zu Simon und drückte ihm ein Paket in die Hand. «Jetzt, wo deine Schwester nicht mehr für dich sorgen kann, werden wir dir jeweils Proviant für die Woche mitgeben.» Sie schaute ihn mitleidig an und berührte mit zwei Fingern seine Wange.

Simon stammelte einen unbeholfenen Dank und stürmte grusslos aus dem Zimmer. Erst oben auf dem Dorfberg, nachdem er die letzten Häuser von Langnau hinter sich gelassen hatte, setzte er sich unter eine Linde und weinte, als müsse er sich von allen Tränen, die sich in den letzten beiden Jahren aufgestaut hatten, auf einmal erleichtern.

8

Unmerklich war der Lenz zum Frühsommer geworden. Der strahlend blaue Himmel versprach eine Reihe schöner Tage, so dass Viktor Diepoldswiler mit der Heuernte beginnen konnte. Er und Baschi sowie drei Tauner, die aufgeboten worden waren, machten sich am 13. Juni in aller Herrgottsfrühe an die Arbeit.

Ausgerüstet mit Sensen, deren Sichelblatt man am Vorabend am Dengelambos geschärft hatte, schritten die fünf Männer nebeneinander durch die Wiese und mähten mit gleichmässigem, weit ausholendem Schwung das kniehohe Gras. Viktor gab das Tempo vor, nach dem sich die anderen zu richten hatten. Er war der Jüngste und Kräftigste von allen, und es war für jeden Einzelnen eine Frage der Ehre, nicht aus dem Glied zu fallen und zurückzubleiben. Alle waren froh, wenn der Meister innehielt, damit man die Sense mit dem Wetzstein, den man am Gürtel trug, nachschärfen konnte.

Als die Sonne zwei Handbreit über dem östlichen Horizont stand, brachte Esther einen Korb mit dem Frühstück, das Lena in der Küche bereitet hatte: Brot, Käse, Fleisch, eine Kanne Kaffee und einen Krug Most. Die Mäher unterbrachen ihre Arbeit und rasteten im Schatten eines Apfelbaums.

Inzwischen musste die Jungmagd, die zuvor Dölf im Stall zur Hand gegangen war, mit einer Gabel die Mahd ausbreiten, damit das Gras an der Sonne trocknen konnte. Im Laufe der nächsten Tage würde sie, zusammen mit der Frau eines Tagelöhners, das Heu noch mehrmals zetten müssen und es jeweils abends zum Schutz vor der Taufeuchtigkeit zu Nachtschwaden zusammenrechen. Wenn das Wetter warm und trocken blieb, konnte man das Gras nach ein paar Tagen in die Scheune einfahren.

Am Abend des zweiten Tages der Heuernte erschien Moritz Diepoldswiler auf dem Auenhof. Man war beim Essen. Er setzte sich an die untere Schmalseite des Tisches, gegenüber von Viktor. Während Lena ihm Wein einschenkte, musterte Esther ihn verstohlen. Sie hatte die Ähnlichkeit von Vater und Sohn immer als etwas Gegebenes betrachtet. Seit sie aber der bösen Lust des Vetters ausgeliefert war, graute ihr auch vor dem Alten, der sie erahnen liess, wie Viktor in drei Jahrzehnten aussehen würde: Ein Fleischkoloss mit Wülsten im Nacken, grobporiger Haut, dem lächerlichen Schnurrbärtchen über der Oberlippe und den kleinen, verkniffenen Äuglein, von denen sich nur jene täuschen liessen, die nicht erkannten, dass sich dahinter ein selbstbewusster Tyrann verbarg, dessen Wünsche man tunlichst als Befehl zu verstehen hatte. Sie schauderte bei der Vorstellung, sie müsse sich auch vor ihm über die Tischplatte beugen, damit er sie, wie sein Sohn, schänden könne.

Er komme von Burgdorf, wohin man ihn als Geschworenen ans Assisengericht aufgeboten habe, sagte jetzt der Alte gewichtig. Er machte eine Pause und trank einen Schluck aus dem mit den drei Tannen des Langnauer Wappens verzierten Zinnbecher. Man habe heute Jakob Wyssler und seine Frau Verena sowie Jakob Stucki und dessen Knecht, Sämi Krähenbühl, die den Schafberg-Resli im Februar erschlagen hätten, zum Tode verurteilt. Er schaute bedeutungsvoll in die Runde. «Einstimmig», fügte er dann hinzu. «Einzelne der Geschworenen, und ich gehöre auch zu ihnen», fuhr er fort, «haben bedauert, dass im Kanton Bern seit drei Jahrzehnten Hinrichtungen nur noch mit dem Schwert erfolgen. Kurz und gnädig.» Er lachte verächtlich. Früher, als man Mörder aufs Rad geflochten, Ketzer ersäuft und Diebe aufgehängt habe, sei der Respekt vor der Obrigkeit grösser gewesen als heute.

«Kopf ab.» Viktor nickte und schaute in die Runde. Sein Blick suchte Esther. «So geht es jenen, die ihre Meister betrügen und bestehlen und schliesslich sogar Hand an sie legen.»

Hatte sie ihn gehört? Lena beobachtete das Mädchen aus den Augenwinkeln. Ihr schien schon lange, Esther lebe unter einer Glocke aus Glas, aus der sie nicht herauskommen, in die aber auch niemand hineingelangen konnte. Auch sie nicht. Obwohl sie die Tochter des verstorbenen Meisters vor siebzehn Jahren auf ihrem Schoss geschaukelt und ihr den Schoppen gegeben hatte, sie später bei ihren kindlichen Kümmernissen getröstet und zuletzt versucht hatte, ihr die früh verstorbene Mutter zu ersetzen. Das Kind hatte es schwer, besonders jetzt, wo der Bauer sie gegen ihren Willen und viel zu früh zur Frau gemacht hatte. In den vergangenen Wochen hatte sie zwei- oder dreimal Geräusche aus Esthers Kammer gehört, von denen sie nichts wissen durfte, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, aus ihrem Dienst gejagt zu werden. Lena sprach mit niemandem über die bösen Dinge, die sich auf dem Auenhof zutrugen. Auch nicht zu Frau Pfarrer Amsoldinger, die sie kürzlich in der Kramlaube gefragt hatte, ob sie wisse, weshalb Esther, das gute Kind, derart verstört sei. Die alte Magd hatte nur stumm den Kopf geschüttelt.

«Wann findet die Hinrichtung statt?», unterbrach Viktor Lenas Gedankengänge. «Ich denke, dass ich mit meinen Leuten hingehen werde, nicht aus Neugierde, sondern damit sie sehen können, dass an jenen, welche das Leben und Eigentum anderer gefährden, ein Exempel statuiert wird.» Wieder warf er Esther einen Blick zu.

Das sei eine gute Idee, fand sein Vater. Als Waisenvogt werde er Anton Reist empfehlen, mit dem kleinen Bruder von Esther hinzugehen. Das werde dem ungezogenen Bengel, der weder Zucht noch Ordnung kenne, guttun. Er streckte Lena den leeren Becher hin und liess sich von ihr Wein nachschenken. Was den Zeitpunkt des Vollzugs der Todesstrafe betreffe, meinte er dann, müsse man noch den Entscheid des Grossen Rates abwarten. «Jetzt, wo die Kanaillen realisieren, dass es ans Lebendige geht, werden sie um Gnade winseln. Die Herren in Bern müssen wohl oder übel das Gesuch behandeln. Sie werden es ablehnen. Wie üblich.»

In diesen Tagen sprach man im ganzen Tal über das Urteil von Burgdorf. In den Dörfern und auf den Einödhöfen in den Seitentälern, auf den Feldern und selbst auf den Hochweiden erhitzte die bevorstehende Hinrichtung die Gemüter. Dass vier Köpfe am selben Tag abgeschlagen werden sollten, war unerhört. Das hatte es seit undenklichen Zeiten nicht mehr gegeben. Niemand wollte sich das Spektakel entgehen lassen. Auf dem Markt, im Bären, im Löwen und in der Kramlaube werweissten die Langnauer darüber, wann und vor allem wo das blutige Schauspiel stattfinden würde. In Signau, wo die ruchlose Tat geschehen war, oder in Langnau, am Sitz des Regierungsstatthalters?

Es gab Gerüchte. Bereits am Donnerstag, dem 4. Juli, kamen Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung scharenweise ins Dorf, weil sie glaubten, die Exekution würde an diesem Tag stattfinden.

Am folgenden Sonntag regnete es. Erst gegen Abend brach die Sonne durch die dunklen Wolken und malte einen prächtigen Regenbogen über Langnau. Lena betrachtete ihn durch das Küchenfenster. Sie deutete ihn als Gnadenzeichen Gottes für die von der weltlichen Gerichtbarkeit zum Tode Verurteilten. Esther, die neben ihr stand, schaute sie verständnislos an.

Dölf, der seinen Wochenverdienst wie üblich im Bären vertrunken hatte, berichtete beim Abendessen, vor dem Amtshaus habe sich eine riesige Menschenmenge eingefunden. Man sei von weither gekommen: zu Fuss, im Einspänner, in überfüllten Leiterwagen. Die Geistlichkeit aus der ganzen Umgebung sei dagewesen, als der Herr Regierungsstatthalter den vier Mördern eröffnete, was man tags zuvor im Bund, dem Intelligenzblatt der Stadt Bern, habe lesen können: Die Obrigkeit hatte mit siebzig gegen dreissig Stimmen ihr Gnadengesuch abgelehnt. Morgen Montag in aller Frühe werde man den Übeltätern auf dem Richtplatz, im Ramserengraben bei Bärau, die Köpfe abschlagen. Viktor erklärte, man werde um drei Uhr aufbrechen. «Alle!» Er fixierte Esther. Dann schickte er das Gesinde in ihre Kammern.

Der Regierungsstatthalter hatte befohlen, die vier Verurteilten in der Nacht vor ihrer Hinrichtung getrennt voneinander im Amtshaus in je einem von Landjägern bewachten Raum unterzubringen. Allen wurde ein Pfarrer zugewiesen, denn im Kanton Bern wollte man niemanden zu Tode bringen, ohne ihm zuvor den angemessenen geistlichen Trost zu spenden.

Lukas Amsoldinger sass bei Verena Wyssler und betrachtete die Frau, die dem Opfer mit dem Schuhmacherhammer ihres Mannes endgültig den Schädel zertrümmert hatte. Sie hockte in einer Ecke, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und starrte vor sich hin. Die schmutzigen Kleider schlotterten um den abgemagerten Leib. Ihr strähniges Haar, das man im Nacken geschoren hatte, um dem Scharfrichter die Arbeit zu erleichtern, hing ihr unordentlich in die Stirn.

Ob sie mit ihm beten wolle, fragte der Pfarrer nach einer Weile. Er hatte auf dem einzigen Stuhl im Raum Platz genommen und sass ihr gegenüber.

Unendlich langsam hob sie den Kopf. «Beten? Wozu?» Dann versank sie erneut in Schweigen.

«Vielleicht möchtet Ihr bereuen.»

Sie gab ihm keine Antwort, starrte vor sich hin. Bewegungslos.

Amsoldinger bohrte weiter: «Wollt Ihr Euch nicht mit Gott versöhnen, vor dessen Thron Ihr morgen treten werdet, um Rechenschaft darüber abzulegen, was Ihr aus dem Leben, das er Euch geschenkt hat, gemacht habt?»

Sie schwieg lange. Hatte sie ihm überhaupt zugehört? Dann endlich: «Bereuen? Versöhnen? Rechenschaft? Wisst Ihr überhaupt, wovon Ihr sprecht, Pfarrer?» Pause. Dann: «Euer Herrgott hat nicht nur mir das Leben geschenkt, sondern auch jenen, die es mir und den Meinen zur Hölle gemacht haben.» Nein, sie bereue nichts. Schlatter, sie spuckte den Namen des Ermordeten förmlich aus, habe den Tod mehr als verdient. Sie und ihre Familie seien ihm ausgeliefert gewesen und hätten das Geld, das er ihnen ausgeliehen habe, abarbeiten müssen, ohne je auf einen grünen Zweig zu kommen. Ein Geizhals sei er gewesen, der auch am Essen gespart und ihren Kindern jeden Bissen missgönnt habe. Sie hob den Kopf und schaute Amsoldinger aus Augen an, in denen er nur noch Hoffnungslosigkeit und Resignation erkannte. «Er hat uns bevogtet, drangsaliert und verhöhnt», sagte sie tonlos. «Kein Mädchen im Tal hätte ihn geheiratet. Bei all seinem Geld nicht. Um keinen Preis. Er war ein Grüsel.» Immer wieder habe der Unflat versucht, ihr an den Hintern zu greifen und an die Brüste, habe ihr gedroht, wenn sie ihm nicht zu Willen sei, die Familie aus dem Haus zu jagen. Sie könne dann als Bettelweib schauen, wie sie ihre Brut ernähren wolle. «Meine Brut. Vier Kinder. Drei von Jakob und eines aus erster Ehe.» Sie verstummte, barg das Gesicht in den Händen.

«Und jetzt, wo man Euch dem Scharfrichter übergibt», fragte der Pfarrer, «was meint Ihr, was mit Euren Kindern geschieht?»

«Was soll schon mit ihnen geschehen? Man hat sie verdingt, verschachert an einen dieser reichen Bauern, der wenig Pflegegeld für sie verlangt und sie dann über ihre Kräfte hinaus arbeiten lässt und ihnen keine Liebe schenken wird. Sie werden dasselbe erleiden, wie mein Mann und ich in unserer Kindheit erlitten haben. Leute unserer Art kommen nie aus dem Dreck.»

Der Pfarrer sagte nichts. Er dachte an Simon und Esther, die man auch verdingt hatte und die sich nicht mehr sehen durften. Sein Versuch, Viktor Diepoldswiler zu bewegen, das Verbot aufzuheben, war gescheitert. Die Base, welche ihm die Gemeinde in Obhut gegeben habe, sei eine Diebin und ihr Bruder ein widerborstiger Tunichtgut, der sie zum Stehlen verführe, hatte er erklärt. Er wolle nicht, dass die beiden miteinander Umgang pflegten.

Dem Pfarrer war aufgefallen, dass der Jungbauer seinem Blick auswich. Steckte mehr hinter der ganzen Geschichte als die paar Würste, die aus der Speisekammer des Auenhofes entwendet worden waren? Seine Frau war davon überzeugt. Lena, die sie in der Kramlaube darauf angesprochen habe, wisse von Dingen, über die sie nicht reden wolle. Sie hatte ihren Mann bedrängt, die alte Magd und Esther in den nächsten Tagen ins Gebet zu nehmen. Er hatte es ihr versprochen. Ungern, denn sich mit Viktor Diepoldswiler anzulegen bedeutete, auch einen Streit mit dessen Vater, der ein mächtiger Mann und als Kirchenvorstand sein Vorgesetzter war, vom Zaun zu brechen.

Seufzend wandte sich der Pfarrer wieder Verena Wyssler zu. «Und das göttliche Gericht?», fragte er. Er betrachtete es als seine Pflicht, dieses unselige Weibsbild vor der ewigen Verdammnis zu retten.

Verena Wyssler schaute ihn an, als sei er nicht bei Trost. «Ich werde morgen früh für meine Tat büssen. Euer Herrgott braucht da nicht mehr nachzudoppeln. Und jetzt lasst mich in Ruhe, Pfarrer. Ich möchte meine letzten Stunden nicht mit unnützem Geschwätz vertun.»

«Versündigt Euch nicht, Frau, er ist auch Euer Herrgott.»

Sie umfasste wieder ihre Knie, liess den Kopf sinken und wiegte den Oberkörper hin und her wie ein verlassenes Kind. Mit ihrer ganzen Haltung brachte sie zum Ausdruck, dass sie nichts mehr von ihm hören, nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.

Noch ein paar Mal versuchte der Pfarrer, sie anzusprechen. Vergeblich. Sie gab ihm keine Antwort mehr. Sie sass da, regungslos, schweigend, getrennt von der Welt, die sie ausgestossen hatte.

Schliesslich gab er es auf. Er faltete die Hände und betete lautlos für die zum Tod Verurteilte.

Während sich Lukas Amsoldinger ohne rechte Überzeugung bemühte, die verstockte Seele Verena Wysslers der Gnade Gottes anzuempfehlen, lag Esther wach in ihrem Bett. Viktor hatte den Schlüssel zu ihrer Kammer an sich genommen. Wenn ihm der Sinn danach stand, kam er. Ohne Vorankündigung, mitten in der Nacht. Hatte sie sich an seine Besuche gewöhnt? Sie verabscheute den schweren Mann, der sich schwitzend auf sie legte und irgendeinmal mit einem befriedigten Grunzen von ihr liess und wortlos in sein eigenes Zimmer verschwand. Der Gedanke an die Vorstellung, er könnte ihr ein Kind machen, bereitete ihr Übelkeit bis zum Erbrechen.

Esther horchte in die Stille des Hauses. Von der Kirche schlug es elf, dann zwölf. Sie entspannte sich. Diese Nacht würde er sie wohl in Ruhe lassen. Noch drei Stunden blieben ihr. Sie fiel in einen leichten Schlummer, bereit, jederzeit hochzuschrecken. Am schlimmsten zu ertragen war es, wenn er sie im Schlaf überraschte.

Am 8. Juli 1861, in der Dunkelheit des frühen Montagmorgens, führte man Jakob Wyssler, seine Frau Verena, Jakob Stucki und dessen Knecht, Samuel Krähenbühl, ins Freie. Zuvor war ihnen vom Regierungsstatthalter das Todesurteil verlesen worden. Jetzt standen sie, mit auf dem Rücken verschnürten Armen, im dämmrigen Licht der Gaslaternen auf dem Platz vor dem Amtshaus. Hinter den Schranken, die am Vorabend aufgestellt worden waren, hatte sich eine riesige Menschenmenge eingefunden. Ein Raunen ging durch die Reihen, als Franz Josef Mengis, der Scharfrichter, den man eigens aus dem aargauischen Rheinfelden hatte kommen lassen, sein Pferd bestieg. Er stammte aus einem Geschlecht von Henkern, die in der ganzen Schweiz gerufen wurden, wenn es galt, einem Delinquenten den Kopf abzuschlagen oder ihm, wie das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall gewesen war, Schlimmeres anzutun. Obwohl bereits sechzigjährig, war er gross und kräftig. Nur sein einst schwarzes Haar und der buschige Bart, der fächerartig Hals und Kragen bedeckte, waren grau. Als er seinen Umhang zurückschlug, sah man das Richtschwert, mit dem er das Urteil vollstrecken würde.

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