Kitabı oku: «Kaukasische Sinfonie», sayfa 5
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Sophie und Karl sassen an diesem späten Sonntagnachmittag auf der Bank unter der Blutbuche. Der Junge las der Mutter aus dem Lederstrumpf vor, den sie ihm zum achten Geburtstag geschenkt hatte. Durch das offene Fenster des Salons war Jakob zu hören, der Klavier spielte und dazu sang. Karl liess das Buch sinken. Mutter und Sohn lauschten. Wie üblich wiederholte der Kleine die Melodie mehrmals und interpretierte sie dabei nach seinem eigenen Gusto. Margarethe, die älteste Tochter der Kutzschenbachs, besass eine Musikdose, auf deren Emaildeckel Papageno in seinem Federkleid abgebildet war. Wenn man sie aufzog, ertönte das Glockenspiel des Vogelfängers aus der Zauberflöte. Jakob hatte sich die Melodie am Pfingstsonntag zwei- oder dreimal angehört. Zwei- oder dreimal: Das genügte ihm, sie ein paar Tage später fehlerfrei und in verschiedenen Variationen nachzuspielen! Wieder einmal fragte sich Sophie, ob ihrem Jüngsten bestimmt sei, Musiker oder gar Komponist zu werden. Als sie realisierte, dass Karl ins Leere starrte, schob sie den Gedanken beiseite. «Was bedrückt dich?», wollte sie wissen und legte ihren Arm um die Schultern des Jungen.
«Weshalb liebt Vater Hannes und Jakob mehr als mich?», fragte er leise, ohne die Mutter anzuschauen.
Sophie erschrak. Karl hatte jene Frage gestellt, vor der sie sich schon lange fürchtete. Sie hatte sich eingeredet, es sei noch nicht an der Zeit, ihm zu sagen, dass er nur den Namen Diepoldswiler trug, dass aber Simon nicht sein leiblicher Vater war. Aber wann war es soweit? Wenn Karl erwachsen sein würde? Wenn er selbst darauf kam? Wenn er spürte, dass er anders behandelt wurde als seine Brüder – seine Halbbrüder? Also jetzt? «Wie kommst du darauf, dass Vater dich weniger lieben soll?», fragte sie hilflos.
«Er nimmt nur Hannes mit, wenn er ausreitet. Er nennt ihn ‹mein kleiner Stier›. Zu mir sagt er höchstens ‹Grosser›», brach es aus ihm heraus. «Jakob streicht er häufig über den Kopf und behauptet, er sei aus demselben Holz geschnitzt wie unser verstorbener Onkel. Er ist stolz darauf, dass der Kleine schon Klavier spielen kann. Wenn Herr Fresendorff mich für meine Leistungen im Unterricht lobt, ist ihm das gleichgültig.» Karls Augen füllten sich mit Tränen. Er presste die Faust gegen den Mund, konnte aber ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Sophie zog ihn an sich. «Schau», sagte sie, als er sich etwas beruhigt hatte, «alle Eltern lieben ihre Kinder. Vielleicht nicht jedes gleich, aber jedes auf eine andere Art. Hannes erinnert den Vater an seinen eigenen Vater, der gestorben ist, als er elf war. Jakob mahnt ihn an seinen Bruder, den er vor fünfzehn Jahren begraben musste. Du bist ihm etwas fremd. Du bist kein Bauer wie Vater und kein Künstler wie dein Onkel. Bei dir schlägt das baltische Erbe deines Grossvaters durch.» Und wenn man deinen dunklen Teint, deine dunklen Augen und dein dunkles Haar betrachtet, dachte sie, jenes von Schota Awalischwili, deinem Erzeuger. «Du hast viel von meinem Vater», fuhr sie fort, «seine schlanke Gestalt, seine Intelligenz und ja, auch seine zurückhaltende, vornehme Art.» Sophie fühlte sich unsicher. «Ich habe ihn sehr geliebt, obwohl ich erst kurz vor seinem Tod erfahren habe, dass ich seine Tochter bin. Ich bin froh, dass er in dir weiterlebt. Für mich bist du etwas ganz Besonderes.»
Karls Weinen liess nach.
Sophie küsste ihn auf die Stirne. «Lies mir jetzt das Kapitel von Unkas Tod fertig vor und geh dann zu deinem kleinen Bruder. Sag ihm, dass er nicht den ganzen Tag am Klavier sitzen, sondern auch ab und zu ins Freie gehen soll.»
Beim Abendessen erwähnte Ekaterina, sie habe gegen vier Uhr gesehen, wie Wassilij drüben bei den Ställen zwei Pferde vor eine Kutsche gespannt habe und dann davongefahren sei.
«Weshalb hat ihn Simon wohl zurückgeschickt?», wunderte sich Sophie. Sie mass dem Vorfall aber keine Bedeutung bei. Später sass sie auf der Veranda. Es war noch hell. Ihre Gedanken kreisten um Karl und seinen Kummer.
«Was beschäftigt dich?» Mayranoush hatte eine Kanne Tee und einen Teller mit Gebäck aufgetischt. Jetzt nahm sie ihr gegenüber Platz und schaute die junge Frau forschend an.
«Karl.» Sophie seufzte. «Er hat mich heute gefragt, weshalb sein Vater ihn weniger liebe als seine Brüder.»
«Und, hast du ihm gesagt, dass er nicht Simons Sohn ist?»
«Nein, das ist doch noch zu früh.»
«Ob es für dich nicht immer zu früh sein wird?» Die Armenierin unterdrückte ein Lächeln. «Willst du es halten wie der Baron, der erst, als er im Sterben lag, zugab, dass er dein Vater war?»
Das sei etwas anderes, behauptete Sophie. Sie habe das Geständnis ihres Vaters als Geschenk empfunden. Karl hingegen müsse sie etwas wegnehmen, wenn sie ihm sage, dass er nicht Simons Sohn sei.
«Ja, und ausserdem musst du ihm dann sagen, wer sein richtiger Vater ist und weshalb er dich nicht geheiratet hat.»
Sophie wurde rot. «Das kann ich nicht. Ich würde mich zu Tode schämen. Ich trage die Schuld an allem, ich allein.» Sie wich Mayranoushs Blick aus. «Bin ich verpflichtet, Karl mehr zu lieben als die beiden anderen, als Ersatz gewissermassen?», fragte sie.
«Wie soll das gehen? Liebe kann niemals Pflicht sein. Ausserdem sind Hannes und Jakob ebenso deine Söhne wie Karl. Jeder von den dreien hat Anspruch auf deine Liebe. Und es wird immer wieder Ereignisse geben, in denen sie der eine mehr braucht als die beiden anderen.»
Sie schwiegen und schauten hinüber zum Teich im Blumengarten. Jakob und Karl lagen nebeneinander auf dem Bauch und beobachteten die Goldfische, die im dunklen Wasser unter den Seerosen ihre Bahnen zogen. Die Sonne versank allmählich hinter den Kämmen des Dschawachetischen Gebirges. Ihre letzten Strahlen liessen die Krone der Blutbuche leuchtend rot erscheinen. Wie immer um diese Zeit flogen Dutzende von Krähen lärmend übers Herrenhaus zu ihren Schlafplätzen in den Pappeln auf der Krete über dem Weiher.
Der Hufschlag von Pferden war zu hören. Kurz darauf tauchte die Kutsche auf, mit der Wassilij weggefahren war. Simon und Cornelius Fresendorff sassen im Fond des Wagens. Ihre Pferde hatten sie ans Gefährt angebunden.
Sophie sah, wie die beiden Männer Hannes vorsichtig aus dem Wagen hoben. Das linke Bein des Jungen war mit blutdurchtränkten Stofffetzen umwickelt. Sein Gesicht war weiss wie ein Laken. In wenigen Schritten war sie bei ihnen. «Guter Herr Jesus!», stammelte sie. «Was ist geschehen?»
Als Hannes ihre Stimme hörte, begann er zu weinen: «Mein Bein ist kaputt. Es tut so weh», klagte er.
Simon schwieg. An seiner Stelle antwortete der Lehrer: «Wir sind überfallen worden. Eine Kugel hat den Jungen ins Knie getroffen. Lewan Gabaschwili ist nach Katharinenfeld geritten, um den Doktor zu holen. Aber Hannes leidet. Es wäre gut, wenn wir etwas für ihn hätten, um seine Schmerzen zu lindern.»
Inzwischen waren auch Mayranoush, Karl und Jakob näher getreten. Alle starrten entsetzt auf Hannes, dem die Tränen über die Wangen liefen.
«Unterwegs ist er immer wieder in Ohnmacht gefallen», sagte Simon jetzt. «Ich habe geglaubt, er müsse …» Er verstummte. «Was sollen wir tun?», fragte er hilflos.
«Ich laufe hinüber ins Dorf und hole Mariam Stepanyan», sagte Mayranoush. «Sie hat eine Tinktur, von der man sagt, sie sei stärker als die grössten Schmerzen.» Und zu Sophie: «Du kannst inzwischen ein Bett in meiner Wohnung für ihn herrichten. Es ist wohl besser, wenn wir ihm den Transport in den ersten Stock ersparen.»
Sophie nickte. Sie strich Hannes über die schweissnasse Stirn. «Du kommst in das Zimmer, in dem ich bis zu meiner Hochzeit gelebt habe. Und solange du unten bist, werde ich bei dir schlafen.»
Simon schien etwas sagen zu wollen, liess es aber bleiben.
«Vater und die Brüder müssen mich aber jeden Tag besuchen», schluchzte Hannes. «Und auch Herr Fresendorff.»
«Gewiss, alle werden kommen, bis du wieder gesund bist und selbst die Treppe zu unserer Wohnung hochsteigen kannst.»
Eine halbe Stunde später lag der Junge zwischen sauberen Leintüchern in Sophies früherem Bett. Sie hatte dem Buben die Hosen vom Leib geschnitten. Dann hatte Cornelius Fresendorff ein Brett unter sein Bein gelegt und es mit Verbandstoff am Ober- und Unterschenkel fixiert. Unterdessen war auch Mariam eingetroffen. Sie war nicht nur die Hebamme auf Eben-Ezer, sondern wurde von den Leuten im Dorf und im Herrenhaus auch geholt, wenn jemand krank oder verwundet war. In einer Tasse mit erwärmtem Wein verrührte sie Zimt und Honig und goss aus einem Fläschchen ein paar Tropfen einer Flüssigkeit hinein. «Trink das, Bub!», befahl sie. Kurz darauf schlief er ein.
Sophie bat ihren Mann und Cornelius, ihr ein zweites Bett in die Kammer zu stellen. «Ich werde bei Hannes bleiben, bis er wieder gehen kann.»
Simon war anzusehen, dass es ihn sauer ankam, seine Nächte in nächster Zeit allein verbringen zu müssen. Er verzichtete aber darauf, etwas zu sagen.
3
Gegen acht Uhr am Montagmorgen fuhr Doktor Erchinger mit seinem Einspänner vors Herrenhaus. Er war bereits um vier in Katharinenfeld aufgebrochen. Der Doktor kannte sich aus mit Schusswunden. Er hatte 1848/49 als junger Militärarzt aktiv an den Kämpfen der badischen Revolutionäre gegen die preussischen Truppen teilgenommen und war nach der bitteren Niederlage von Rastatt in die Schweiz geflohen. Drei Jahre später wanderte er nach Grusinien aus. Josef Erchinger hatte sich in Katharinenfeld niedergelassen und lebte seit bald drei Jahrzehnten an der Kreuzgasse, wo sich auch seine Praxis befand.
Sophie empfing den Doktor. Sie kannte den grossen, mageren Mann mit seinem inzwischen grauen, sorgfältig gestutzten Bart seit ihrer Schulzeit. Man hatte ihn ins Pfarrhaus gerufen, wenn dort jemand krank war. Als Backfische hatten sie und ihre Freundin, Lotte Hegele, sich heimlich über seinen alemannischen Dialekt lustig gemacht. Inzwischen war Lotte mit seinem einzigen Sohn Georg verheiratet, der als Advokat und Notar die grösseren und kleineren Rechtsgeschäfte der Kolonisten im Schwabendorf besorgte. Man traf sich manchmal in deren Haus am Äusseren alten Wingert.
«Wie geht es deinem Sohn?», erkundigte sich der Arzt, der Sophie noch immer duzte, und wunderte sich, als er erfuhr, dass Hannes die ganze Nacht durchgeschlafen habe.
«Mariam Stepanyan, unsere Hebamme, hat ihm etwas gegeben, das seine Schmerzen gelindert hat.»
«Und was war das?»
«Eine Tinktur, die aus neun Zehntel Wein und einem Zehntel Saft von Schlafmohn besteht, hat sie gesagt. Ausserdem füge sie noch etwas Bilsenkraut, Alraune und Tollkirsche dazu. Hannes hat einen Becher gesüssten Wein getrunken, in den sie ein paar Tropfen ihrer Medizin geschüttet hat.»
«Da habt ihr ja eine richtige Hexe auf Eben-Ezer! Sie hat ihr Tränklein nach der Rezeptur von Paracelsus gebraut.» Der Doktor war perplex. «Woher mag eine einfache Armenierin die wohl haben?»
«Von ihrer Mutter. Und die wird es von Mariams Grossmutter haben.» Sophie schob ihr Kinn vor. «Möglicherweise wussten Kräuterfrauen aus dem Volk schon lange vor Theophrastus Bombast von Hohenheim um die schmerzstillende Wirkung des Schlafmohns.»
«Du kennst den richtigen Namen von Paracelsus?» Es schien, dass Josef Erchinger an diesem Morgen nicht mehr aus dem Staunen herauskommen sollte. «Den hat man dir gewiss nicht in der Schwabenschule beigebracht.»
«Nach dem Schulabschluss hat mich mein Vater in Französisch, Geografie und Geschichte unterrichtet.»
«So, so, Herr von Fenzlau.» Der Doktor schwieg. Er und der Baron waren sich stets höflich distanziert begegnet. Die radikal-demokratischen Ansichten des Badeners, der gegen Fürstenwillkür gekämpft hatte, und die monarchistisch-konservative Gesinnung des Barons waren einer engeren Beziehung der beiden Herren im Weg gestanden. «Nun», wechselte er abrupt das Thema, «es ist höchste Zeit, dass wir uns um den kleinen Patienten kümmern.»
Eine Stunde später sassen der Doktor und Sophie wieder auf der Veranda. Mayranoush hatte für den Arzt ein spätes Frühstück zubereitet. Aus dem Salon waren Klavierklänge zu hören. Josef Erchinger hob den Kopf und lauschte. Er war ein musikalischer Mensch, spielte Violine und gehörte zu den Stützen des Katharinenfelder Sinfonieorchesters. «Boccherinis Menuett aus dem Streichquintett in E-Dur», sagte er. «Ich habe geglaubt, du seist die Einzige, die auf Eben-Ezer Klavier spielt.» Er schaute Sophie an.
«Das ist Jakob, unser Jüngster.» Sie bemühte sich, ihren Stolz nicht zu sehr zu zeigen.
«Dein Jüngster?» Der Doktor war verblüfft. Er rechnete nach. «Der ist doch erst fünf Jahre alt.»
«Fünfeinhalb.»
«Fünfeinhalb! Wie lange hat er geübt, bis es das Stück so spielen konnte?»
«Ich höre es zum ersten Mal.» Jetzt konnte Sophie ihr Hochgefühl, Mutter eines derart begabten Jungen zu sein, nicht mehr verbergen. «Manchmal kramt er in meinen Noten und spielt dann etwas ab Blatt. Sein Spiel wird noch besser werden, sobald er mit seinen Füssen die Pedale erreichen kann.»
«Unglaublich», murmelte Erchinger. Er schwieg, hörte zu und schüttelte verwundert den Kopf.
«Euer Sohn wurde übel zugerichtet», sagte der Doktor zu Simon, als dieser aus dem Kontor kam, um sich über Hannes’ Zustand unterrichten zu lassen.
«Das war Grigol Ratischwili, dieses Schwein, der Sohn von Fürst Zviad, der aus dem Hinterhalt auf uns geschossen und das Kind getroffen hat.»
«Das hat mir bereits der Mann berichtet, den Ihr zu mir geschickt habt. Aber weshalb hat er euch angegriffen?»
«Aus Wut, aus Neid, was weiss ich? Ich habe von Herrn von Kutzschenbach ein Stück Wald erworben, das die Ratischwilis haben wollten.»
«Der Georgier, ich glaube, er hiess Lewan, hat gesagt, dass Ihr dem Kerl, nachdem er von Euch überwältigt worden war, dasselbe angetan habt wie er Eurem Kind.» Das war sowohl eine Feststellung als auch eine Frage.
«Du hast einen Gefangenen …?» Sophie blieb der Satz im Hals stecken. Sie schaute ihren Mann entsetzt an.
Auch der Arzt betrachtete ihn fragend.
Simon hielt seinem Blick stand. Er zuckte lediglich mit den Schultern. «Blut gegen Blut», knurrte er.
Als Josef Erchinger einsah, dass er keine weitere Auskunft erhalten würde, erklärte er: «Hannes hatte Glück im Unglück. Es war ein Streifschuss, der die linke Seite des Knies und das obere Ende des Unterschenkels verwundet hat. Immerhin musste ich keine Kugel herausholen. Hätte ihn der Kerl ein wenig weiter rechts getroffen, wäre möglicherweise die Arterie verletzt worden, und Hannes hätte verbluten können. Leider ist es unmöglich, in einen Körper hineinzusehen», fuhr er fort. «Aber soweit ich es ertasten konnte, handelt es sich Gott sei Dank nicht um einen Trümmerbruch. Ich habe nicht viel mehr machen können, als das Bein einzugipsen.»
Sophie war dabei gewesen und hatte Hannes’ Hand gehalten. Doktor Erchinger hatte sein Jackett ausgezogen und die Ärmel seines weissen Hemdes hochgekrempelt. Zunächst hatte er mit einer Pinzette vorsichtig einige Knochensplitter aus der Wunde entfernt, einen grossen Teil des Beins seines kleinen Patienten mit einer Gazebinde abgedeckt und darüber eine Watteschicht gelegt. Dann hatte er aus seiner Tasche Verbandstoff genommen und eine Büchse mit Gips, den er in einer Schüssel mit Wasser verrührte. Er hatte den Verband in die Lösung getaucht und das gestreckte Knie des Jungen zwei Handbreit über der Wunde von oben her bis über die Mitte des Unterschenkels bandagiert. Dort, wo die Wunde war, hatte er eine Öffnung im Gips gelassen.
«Haben Sie ihm wehtun müssen?», erkundigte sich Simon.
«Er hat vor der Untersuchung ein paar Tropfen Laudanum erhalten.» Josef Erchinger lächelte. «So nennt man die Tinktur, die eure Kräuterhexe gebraut hat. Wie heisst sie schon wieder?»
Mariam Stepanyan sei keine Hexe, warf Mayranoush ein, die hinter dem Tisch stehen geblieben war.
«Schon gut», brummte der Doktor. «Ich wollte sie nicht beleidigen. Ihr könnt ihr sagen, sie sei eine tüchtige Frau. Das gilt übrigens auch für Herrn Fresendorff, der dafür gesorgt hat, dass das Bein des Jungen über Nacht fixiert war. Dank ihm besteht die Möglichkeit, dass Hannes später wieder einigermassen normal gehen kann.»
«Einigermassen?» Simon runzelte die Stirn.
«Eine gewisse Behinderung wird wohl bleiben.» Josef Erchinger schaute ihn an. «Ihr solltet froh sein, dass der Junge wahrscheinlich nicht zum Krüppel geschossen wurde.»
Simon drehte sich wortlos um und ging zurück in sein Kontor.
«Wahrscheinlich?» Sophie sah den Doktor aus grossen Augen an.
«Wir wissen viel zu wenig. Ich habe mich bemüht, das Bein so einzugipsen, dass die Wunde gut verheilen kann. Bestenfalls.» Der Arzt machte eine hilflose Geste. «Vorderhand bleibt nichts übrig als abzuwarten. Ich komme in ein paar Tagen wieder. Hannes wird darüber klagen, dass es ihn unter dem Gips juckt, aber das muss er aushalten.» Er zögerte. «Wenn du an ihm einen unangenehmen Geruch wahrnimmst oder es zu eitern beginnt, musst du unverzüglich jemanden nach mir schicken.» Er vermied das Wort Wundbrand.
Sophie verstand ihn auch so. Sie begann zu weinen.
«Nun, nun.» Josef Erchinger legte ihr die Hand auf den Arm. «Wir wollen nicht gleich ans Schlimmste denken. Gibt es auf Eben-Ezer jemanden, der für den Jungen Krücken machen kann? Wenn alles gut verheilt, sollte er in vier bis sechs Wochen wieder einigermassen gehen können.»
«Ich werde unserem Zimmermann, Hovhannes Stepanyan, den Auftrag geben», sagte Mayranoush. «Er ist der Mann der Kräuterhexe.» Sie schaute den Arzt herausfordernd an.
«Eine bemerkenswerte Familie, in der Tat.» Der Doktor hüstelte und wechselte das Thema. «Offenbar übte dein Mann Selbstjustiz», wandte er sich an Sophie. «Ich kann ja verstehen, dass er den Kerl nicht dem zuständigen Gericht in Dmanissi übergeben wollte. Eine angemessene Verurteilung hätte ihn rund dreitausend Rubel gekostet.»
«Wie das?», staunte Sophie.
«Ach Kind, Gerechtigkeit und Recht sind sehr entfernte Verwandte. Jenes ist göttlicher Natur und dieses Menschenwerk.» Josef Erchinger seufzte. «Die Russen fürchten Adelsaufstände und verurteilen höchst ungern Angehörige eines georgischen Fürstenhauses. Dein Mann müsste eine hohe Bestechungssumme bezahlen, damit ein Richter den Mistkerl mit Verbannung und Zwangsarbeit bestrafen würde. Ich nehme an, dass er das weiss, und so hat er es vorgezogen, den jungen Ratischwili selbst zu richten. Aber was ist mit dem Unseligen geschehen, nachdem ihm Simon ins Knie geschossen hat? Hat er ihn einfach liegen lassen? Befindet er sich womöglich noch immer schwer verletzt im Wald? Weshalb will dein Mann nicht darüber sprechen?» Er schaute Sophie an, als erwarte er eine Erklärung.
Sie schüttelte den Kopf. «Ich weiss es nicht.» Sie hatte es bisher unterlassen, Simon nach den Einzelheiten des Überfalls zu fragen. Einerseits weil sie sich seit gestern Abend ausschliesslich um Hannes gekümmert hatte, andererseits schien ihr Mann zurzeit nicht mit ihr sprechen zu wollen. Sie hatte geglaubt, er sei missgestimmt, weil sie in den nächsten Wochen das Bett nicht mit ihm teilen würde. Gab es etwas, das er ihr verschwieg?
Nachdem Doktor Erchinger gegen elf Uhr Eben-Ezer verlassen hatte, ging Sophie in die Schulstube, die sie im Annexbau eingerichtet hatte. Der Lehrer liess Karl einen Abschnitt aus der Hauptmannstochter von Puschkin vom Russischen ins Deutsche übersetzen. Sie unterbreche den Unterricht ungern, sagte sie, aber sie müsse unbedingt mit Herrn Fresendorff sprechen. «Lass uns bitte für ein paar Minuten allein», bat sie ihren Ältesten.
«Ich weiss, dass Simon Grigol Ratischwili ins Knie geschossen hat», kam Sophie sofort auf den Punkt, nachdem Karl den Raum verlassen hatte. Obwohl ihre Stimme ein wenig zitterte, war sie bemüht, sie energisch klingen zu lassen. «Ihr werdet mir sagen, was dann mit dem jungen Menschen geschehen ist, der meinen Sohn verletzt hat.»
«Wir haben uns mit Hannes auf den Heimweg gemacht.» Der Balte wich ihrem Blick aus.
«Und ihr habt den Unseligen einfach zurückgelassen?»
Simon habe nichts davon wissen wollen, dass man sich um den Mordbuben kümmere. Es gelte, keine Zeit zu verlieren, habe er gesagt. Sein Sohn brauche Hilfe. In Kariani allerdings hätten sie dann einen kleinen Umweg zum Besitz der Ratischwilis gemacht.
Sophie kannte den Gutshof, der einst ein prächtiger Bau gewesen war. Ein Fürstensitz. Inzwischen war er heruntergekommen. Der Verputz bröckelte von den Mauern und das Dach hätte längst neu gedeckt werden müssen. Offenbar fehlte dem Knjaz das Geld, sein Haus instand zu halten. Als sie daran dachte, fragte sie sich, ob Zviad Ratischwili überhaupt in der Lage gewesen wäre, für den Wald, der einst seinen Vorfahren gehört hatte, fünftausend Rubel zu bezahlen. Ob Simon von Alexander von Kutzschenbach über den Tisch gezogen worden war? Sie schob den Gedanken beiseite.
«Vor dem Eingang legten wir Hannes ab», berichtete Cornelius. «Nachdem Simon einen Knecht angewiesen hatte, Zviad Ratischwili zu holen, befahl er mir, mein Gewehr in der Ellenbeuge zu halten, so als wäre ich bereit, jederzeit zu schiessen. Als der Alte endlich herauskam, ein kleiner, korpulenter Mensch mit einem grauen Schnurrbart, dessen Enden bis zum Kinn hinunterhingen …»
«Ich weiss, wie Fürst Ratischwili aussieht», unterbrach Sophie den Balten ungeduldig. «Was hat mein Mann zu ihm gesagt?»
«Er sagte ganz kalt: Sein Sohn sei ein Verbrecher, der aus dem Hinterhalt auf sein Kind geschossen habe. Der Knjaz wurde bleich und wollte wissen, was mit Grigol geschehen sei.» Simon habe daraufhin eine lange Pause gemacht und den Georgier von Kopf bis Fuss gemustert. Endlich habe er erklärt: «Der Kerl liegt mit der exakt gleichen Wunde, wie sie auch Hannes hat, in meinem Wald.» Das «meinem» habe er ausdrücklich betont. Wenn der Vater den Taugenichts wiederhaben wolle, so könne er ihn dort holen. Er gebe ihm für dieses eine Mal die Erlaubnis, seinen Besitz zu betreten. «Und dann schrie er plötzlich: ‹Wir sind jetzt quitt, Ratischwili! Wenn Ihr die Fehde weiterführen wollt – nur zu. Meine Hirten wissen, mit Waffen umzugehen. So wie sie uns vor den Überfällen tatarischer Viehdiebe schützen, können sie uns auch grusinisches Adelspack vom Leibe halten, das uns zuerst Land verkauft und es dann mit Waffengewalt zurückholen will.› Dann holte er tief Atem und fügte hinzu: ‹Ich warne Euch! Wenn einem der Meinen das Geringste geschehen sollte, wenn einer meiner Leute von einem Ausritt nicht zurückkehrt, wenn nur einer meiner Heustöcke in Brand gesteckt, wenn eine einzige meiner Kühe gestohlen wird, dann werden wir über euch kommen, und Ihr werdet der Erste sein, den ich zur Rechenschaft ziehe. Ich hoffe, Ihr habt mich verstanden.› Und dann …» Fresendorff zögerte. Er war sichtlich verlegen.
«Und dann?», drängte Sophie. «Sprecht schon!»
«Und dann muss ich vor lauter Schreck den Abzug meiner Flinte betätigt haben. Der Schuss fuhr Gott sei Dank vor den Füssen des Alten in den Boden. Er machte einen Satz und floh ins Haus.»
«Und was hat Simon gesagt?»
«Das hätte ich gut gemacht, hat er gesagt. Jetzt wisse der Schweinehund wenigstens, dass er es ernst meine.»
Sophie musste lachen. Sie hatte die Männer verabschiedet, als sie gestern losgezogen waren. Fresendorff hatte seinen europäischen Anzug gegen die Kleider getauscht, die ihm Mayranoush genäht hatte: eine blaue, am Stehkragen mit Ornamenten bestickte Russenbluse und schwarze Pluderhosen, die in Reitstiefeln steckten. Auf seinem Kopf sass schief eine graue Papacha. «Ihr seht aus wie ein Bergtatar, wie Ihr so auf Eurem Kabardiner sitzt, die Flinte griffbereit im Futteral», hatte sie gescherzt. Und nun hatte sich dieser friedfertige Mensch aus dem Baltikum, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, wider Willen auch so benommen.
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