Kitabı oku: «Armee ohne Auftrag», sayfa 3
Die BRICS-Welt
Die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts brachten keine Klarheit darüber, wann, wie und ob sich überhaupt eine stabile oder wenigstens einigermaßen stabile Ordnung des internationalen Systems herauskristallisieren wird. Die Globalisierung jedenfalls sorgt dafür, dass lokale, regionale und sektorale Probleme und Fehlentwicklungen ihre Krisenwellen rasch in alle Welt weit ausbreiten können. Typische Beispiele dafür sind etwa die von amerikanischen Geldhäusern ausgehende Finanzkrise 2008 und die vom Bürgerkrieg in Syrien ausgelöste Flüchtlingswelle 2015. In beiden Fällen taten sich die europäischen Staaten schwer damit, die Folgen dieser Krisen einzudämmen und zu mildern. Von lösen wollen wir gar nicht erst sprechen. Ganz zu schweigen von der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Pandemie, die uns seit Dezember 2019 in Atem hält.
Die Symptome der gegenwärtigen Unübersichtlichkeit internationaler Politik und ihrer Klimaverschlechterung sind vielfältig; häufig genug verstärken sie sich gegenseitig. In sehr vielen Staaten ist das Regierungspersonal den Aufgaben nicht gewachsen, übermäßig korrupt und mithin ein Hauptproduzent sich ausbreitender Armut und Proteste. Damit erhöht sich die innergesellschaftliche Gewaltbereitschaft. Zwar haben die Regierungen, weil sie über mehr oder weniger gut organisierte und bewaffnete Sicherheitskräfte (Polizei und Streitkräfte) verfügen, hier einen Vorteil. In der Konfrontation mit liberal orientierten und auf Demokratisierungen drängenden oppositionellen Gruppen bleiben sie oft genug Sieger, wie beispielhaft die Bilanz des »Arabischen Frühlings« 2011 zeigt.
Der sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts ankündigende Aufstieg einer Reihe von Staaten zu Weltmächten verlief auch anders als gedacht: Die sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) bildeten 2006 eine lose organisierte Gruppe, die auch heute noch besteht. Aber viel Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gibt es nicht, ausgenommen die Zurückweisung einer von ihnen befürchteten amerikanisch-europäischen Wirtschaftshegemonie. Das reicht aber nicht aus, um als konstruktiver Beitrag zur Stabilisierung der Weltordnung gelten zu können. Den kündigten sie anfangs zwar an, aber dabei ist es dann auch geblieben.
Der brasilianische Präsident Bolsonaro ist zu einem Fan des Politikstils von Donald Trump geworden, beschädigt die ohnehin schwachen Ansätze innergesellschaftlicher Demokratie und billigt oder fördert sogar die Vernichtung des Regenwalds am Amazonas.
Der russische Präsident Putin verfolgt mit seiner Besetzung der ukrainischen Krim, dem nicht erklärten Hybrid-Krieg gegen die Ukraine, dem militärischen Eingreifen in Syrien sowie der nicht ungeschickt in Szene gesetzten Einmischung in innenpolitische Streitigkeiten der USA und europäischer Staaten das langfristige strategische Ziel, Russland wieder auf eine Machtbasis zu stellen, wie sie die UdSSR zwischen 1945 und 1989 innehatte. Die einst sozialistisch-kommunistische Ideologie wird dabei durch kaltschnäuzige Realpolitik ersetzt. Was schon einmal beschönigend als »gelenkte Demokratie« bezeichnet wurde, ist in Wahrheit eine Fake Democracy.
Indien, früher einmal als die »größte Demokratie der Welt« gefeiert, hat unter der Führung von Premierminister Modi und seiner hindu-nationalistischen Partei den Dauerkonflikt mit Pakistan um die Kaschmir-Region neu angeheizt. Die besondere Brisanz dieses mit religiösem Fanatismus auf beiden Seiten aufgeladenen Konflikts – er reicht weit in die Vergangenheit zurück – liegt nicht zuletzt darin, dass Indien und Pakistan über eigene Nuklearwaffen verfügen.
China, das sich bis vor wenigen Jahren noch zu den Entwicklungsländern rechnen ließ, hat inzwischen eine Sonderstellung im internationalen System bezogen. Es ist durch sein wirtschaftliches Wachstum, seine knallharte groß-regionale Vormachtpolitik in Asien und seine behutsam eingefädelten politisch-ökonomischen Verbindungen mit vielen Ländern auf anderen Kontinenten, Afrika etwa, zu dem großen Herausforderer der USA geworden. Mit anderen Worten: Die mit harten Bandagen ausgefochtene Konkurrenz zwischen China und den USA hat sich zum entscheidenden globalen Hegemonialkonflikt ausgeweitet. Zunächst noch vor allem auf der Ebene der Handelsbeziehungen und Technologiepolitik. Aber man muss gar nicht übertrieben furchtsam sein, um auch die Möglichkeit militärischer Konfrontationen in Betracht zu ziehen.
Südafrika schließlich, dem in der Zeit der Präsidentschaft von Nelson Mandela international viel Respekt entgegengebracht wurde, konnte unter seinen Nachfolgern, alles Politiker des African National Congress (ANC), den Erwartungen an das Land als afrikanischer Ordnungsmacht nicht gerecht werden.
Mindestens zwei Staaten aus der BRICS-Gruppe verfolgen inzwischen sehr erfolgreich eigene Hegemonialinteressen, Russland eher auf der Suche nach dem Status, den einst die UdSSR innehatte, China behutsam-aggressiv mit der Ambition, zur dominierenden Weltführungsmacht zu werden. Die Interessen beider Staaten stimmen keineswegs überein, überschneiden sich aber, weil ihnen beiden dieselbe Hürde im Weg steht – die amerikanisch-europäische Allianz. Wie fest diese Allianz allerdings wirklich ist, steht dahin. Russland und China verfolgen seit längerem auf unterschiedliche Weise das Ziel, sie zu untergraben. Aus ihrer Sicht ist das auch sinnvoll.
Amerika und Europa
Das große Problem der transatlantischen Allianz oder des »Westens« (wozu allerdings noch ein paar andere Staaten in anderen Regionen zu zählen sind) besteht darin, dass es sich dabei einerseits um ein normatives Projekt mit letztlich als universell angesehenen, aus der Aufklärung stammenden Werten wie Individualismus, Menschenrechte und Demokratie handelt, dem aber andererseits häufig recht unterschiedliche, ja widersprüchliche realpolitische Interessen der einzelnen Staaten entgegenstehen. Beides zu balancieren, ist nicht einfach. Im Ost-West-Konflikt wurde diese Balance erleichtert, weil es einen gemeinsamen Gegner gab, auf der Werte-Ebene den kollektivistisch ausgerichteten Sozialismus und Kommunismus und auf der realpolitischen Ebene die UdSSR und das »sozialistische Lager«.
Seither ist jene Notwendigkeit zur Balance immer schwieriger geworden. Mit dem Auftauchen von al-Qaida und anderer inter- oder transnationaler Terrorgruppen gab es zwar wieder einen gemeinsamen Feind. Aber zum einen war er das auch für Russland und China, taugte also nicht unbedingt dazu, den Zusammenhalt der transatlantischen Allianz nachdrücklich zu forcieren. Auch waren und sind diese Terrornetzwerke auf schwer identifizierbare, aber bestimmt nicht simpel zu ignorierende Weise mit manchen staatlichen Akteuren verknüpft, von denen einige, etwa Saudi-Arabien, auf der realpolitischen Ebene zu den westlichen Verbündeten zählen, was in diesem Fall mit gemeinsamen Öl-Interessen zusammenhängt.
Die enge Verbindung zwischen Amerika und Europa leidet aber auch wegen interner Entwicklungen auf beiden Seiten des Atlantik. Für beide gilt, wenn auch vielleicht nicht in gleich starkem Maße, dass die wertgebundene Seite ihrer Politik zusehends verblasst. Sie ist mehr und mehr in die Sonntagsreden abgerutscht, schmückt auch nach wie vor Resolutionen und Präambeln von Verträgen, kann aber im politischen Alltag kaum mehr bewirken als ein schlechtes Gewissen der Beteiligten. Aber selbst darauf trifft man gegenwärtig immer seltener, weil sich hüben wie drüben eine eigentümliche Re-Nationalisierung durchzusetzen begonnen hat. Innenpolitisch drückt sich das im Auftreten populistischer Politiker aus, die für die Vorstellung von einem schlechten Gewissen wegen der Missachtung eigener gesellschaftlicher Werte nur ein müdes Lächeln übrig haben. In der Wirtschaftspolitik haben sich die amerikanischen und europäischen Prioritäten auseinanderentwickelt, wie man an dem Hin und Her von Strafzöllen und Gegenstrafzöllen aus den letzten Jahren ablesen kann. Sicherheitspolitisch dreht die Europäische Union eine Pirouette nach der anderen, das heißt: sie kommt nicht vom Fleck. Die USA wiederum lassen sich durch ihre Verbündeten in der NATO, seien es nun die europäischen Staaten oder die Türkei, kaum beeinflussen und handeln mehr oder weniger konsequent in unilateraler Perspektive.
Allem Anschein nach ist diese Auseinanderentwicklung keine bloß vorübergehende Episode in den amerikanisch-europäischen Beziehungen. Den aktiveren Part spielen hier die USA. Die gern und oft vorgenommenen Versuche, einzelnen Politikern die »Schuld« dafür anzulasten, wie wenig sie unserem Bild von einer reifen politischen Persönlichkeit auch entsprechen mögen, halten sich mit reinen Oberflächen-Phänomenen auf. Die entscheidende und schon seit mindestens einem Jahrzehnt zu beobachtende Entwicklung ist, um Thomas Jäger (2019) zu zitieren, das »Ende des amerikanischen Zeitalters«.
Bei der Gestaltung oder Umgestaltung der Weltordnung spielt gegenwärtig und in absehbarer Zukunft der transatlantische Westen nicht die entscheidende, jedenfalls keine von anderen Akteuren unbestrittene Rolle. Welche Rolle er tatsächlich spielt, ist noch nicht entschieden. Aber die Unentschlossenheit der Europäischen Union und der amerikanische Hang zu einem politischen Gemisch aus Unilateralismus und gleichzeitigem Rückzug aus welt(ordnungs)politischen Aufgaben (wie 2019 aus Syrien) stimmen Befürworter des transatlantischen Projekts eher melancholisch.
Die weltpolitische Klimaverschlechterung hat vielerlei Ursachen. Eine davon, und nicht die unwichtigste, ist das Fehlen einer dominierenden Ordnungsmacht oder eines einigermaßen stabilen Gleichgewichts zwischen den miteinander konkurrierenden Mächten, die sich selbst als Ordnungsmacht verstehen und von anderen Staaten auch so verstanden werden. Nach dem Wiener Kongress 1815 hat es für etliche Jahrzehnte ein »Konzert der europäischen Mächte« (Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, Preußen) gegeben. Der Ausdruck »Konzert« besagt dabei, dass es bei aller Konkurrenz der Mächte eben doch ein diplomatisches und völkerrechtliches Regelwerk gab, das überdeutliche Missklänge in der Politik verhinderte. Zwischen 1945 und 1990 galt der Ost-West-Konflikt als Strukturkonflikt der Weltpolitik. Auch hier existierte spätestens seit den frühen 1960er-Jahren eine Konflikt regelnde Kommunikation zwischen den Antagonisten (detente).
Etwas Ähnliches gibt es gegenwärtig nicht. Stattdessen die sich langsam mit gegenseitiger Aggressivität aufladende Konkurrenz zwischen den USA, die nicht mehr, und China, das noch nicht die mit dem Status einer aktiven Weltordnungsmacht verbundenen Kosten zu übernehmen bereit sind, obwohl beide die ebenfalls mit diesem Status verbundenen Nutzeffekte für sich einheimsen möchten. Vor dem Hintergrund der vielen latenten und manifesten Gewaltkonflikte, der Schwächung vieler Staaten, der weiterhin dynamischen Globalisierung und der Entwicklungssprünge in der Rüstungstechnologie ist das eine ziemlich brisante weltpolitische Konstellation.
Prekäre Sicherheit
Die weltpolitische Klimaverschlechterung hält nun schon einige Zeit an, und es ist kaum anzunehmen, dass sie uns nicht auch in den nächsten Jahren behelligen wird. Das hat beträchtliche Auswirkungen auf die inneren Verhältnisse der Staaten und auf die zwischenstaatlichen Beziehungen – beides verknüpft durch die mehr oder weniger alle Lebensbereiche und sozialen Zusammenhänge verändernde Globalisierung. In einer solchen Zeit klingen politische Zielkonzepte wie Frieden und die ihn anstrebende Friedenspolitik geradezu utopisch. Gewiss, in Politikerreden wird der Frieden als Ziel der eigenen Politik immer neu beschworen. Und nach wie vor wird viel über seine Voraussetzungen nachgedacht. Dies zumindest ist auch gut so. Aber wenn es zur Sache geht, hält man sich heute eher an realistischere und pragmatisch ausgerichtete Konzepte wie Sicherheit und Sicherheitspolitik. An den Universitäten sind neben die Friedensforschung, die sich jetzt häufig lieber »Konfliktforschung« nennt, als neue Teil- und Unterdisziplin die Sicherheitsstudien (Security Studies) getreten.
Selbstverständlich gehörte die Bereitstellung von Sicherheit, sei es soziale Sicherheit, wirtschaftliche Sicherheit, Rechtssicherheit und zuvörderst auch Sicherheit als militärischem Schutz immer schon zu den Kernaufgaben des modernen Staates. Und zu den schwierigsten. Je verlässlicher der Schutz gegen Unsicherheiten aller Art war, oder je erfolgreicher die Anstrengungen einer Staatsführung zur Abwehr von Sicherheitsbedrohungen waren, desto höher stiegen die Beliebtheitswerte von Regierung und des politischen Systems insgesamt. Und dies ungeachtet des Sachverhalts, dass Sicherheit auch nur einen Zielwert beschreibt, dem man sich allenfalls annähern kann. Vollständige Sicherheit gibt es nun mal nicht.
Seit vielen Generationen und trotz aller Globalisierung gilt auch heute der Staat als entscheidender und unersetzbarer Organisationsrahmen für die Herstellung von Sicherheit. Innenpolitisch sowieso, aber auch, was die Interessenvertretung gegenüber anderen Staaten und den Schutz vor Bedrohungen von außen angeht. Die Staatsführung kann sich mit anderen zusammentun und mit ihnen auf vielfältige Weise kooperieren, politisch, wirtschaftlich, auch militärisch. Jedoch sind solche Bündnisse, Allianzen und Unionen nur »auf Zeit« angelegt. Sie können auch wieder rückgängig gemacht werden oder zerfallen. Die Geschichte des britischen Austritts aus der Europäischen Union bietet ein (für viele schwer verdauliches) Beispiel für die Austrittsoption, die den Staaten in Bündnissen verbleibt und auf die sie zurückgreifen, weil anders die gesellschaftliche Verunsicherung innerhalb ihrer Bevölkerung zu groß zu werden droht. Manch einer hegt die Befürchtung, das Brexit-Drama könne der Beginn einer Zerfallsphase der Europäischen Union werden.
Der Brexit hat zwar mit militärischer Sicherheit nichts zu tun; ein britischer Rückzug aus der NATO liegt völlig außerhalb der Vorstellungskraft (außer vielleicht bei einer Handvoll linker Labour-Abgeordneter). Man sieht aber an diesem Beispiel, dass Sicherheit auf sehr unterschiedlichen Politikfeldern ein begehrtes Gut ist und dass gesellschaftliche Verunsicherungen auch ohne direkte militärische Bedrohung die Politik einer Regierung nachhaltig beeinflussen können.
Sicherheit als Schutz und Verteidigung
Bleiben wir bei den Aspekten von Sicherheit, die vor allem auch militärischer Mittel bedarf. Dabei handelt es sich um Sicherheit vor organisierter physischer Gewalt. Aber auch gegen ihre Androhung seitens eines anderen Staates (vielleicht gar mehrerer) oder eines die eigene Staatlichkeit oder Gesellschaftsordnung attackierenden, nicht staatlichen Akteurs muss man militärisch glaubwürdig gewappnet sein. Auf die Glaubwürdigkeit kommt es an. Es braucht absehbar wirkungsvolle Schutzmaßnahmen und Schutzinstrumente, um solchem Druck standhalten zu können (neuerdings »Resilienz« genannt) und seine Quellen zu verschließen.
In einer idealen Welt mit allseitiger Kooperation und dem gemeinsamen Vertrauen aller Staaten und Völker in die Vorteilhaftigkeit der bestehenden weltpolitischen Ordnung brauchte es solche Maßnahmen und Instrumente nicht. Es würde ja alles friedlich sein. Überflüssig zu sagen, dass es diese ideale Welt nicht gibt und auf absehbare Zukunft auch nicht geben wird.
In der papierenen Welt der allgemein gehaltenen Abkommen, der völkerrechtlichen Verbote (zum Beispiel von Angriffskriegen) und der Institutionen, die wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Verstöße gegen solche Verbote verhindern bzw. ahnden sollen, herrscht ein geschäftiges Treiben. Nutzlos ist das nicht. Aber auch lange nicht so erfolgreich, wie es der Wortlaut von regierungsamtlichen Absichtserklärungen, Kommuniqués und von Resolutionen internationaler Gremien vorspiegeln. Gewiss wird auf Pressekonferenzen von Politikern in wässriger Sprache vor einem riesigen Aufgebot von Journalisten mit und ohne Kamera gerne beteuert, dass man ehrlich und angestrengt nach gewaltfreien Konfliktlösungen suche. Nicht immer ist das jedoch wirklich ehrlich gemeint, einer der Hauptgründe, warum Friedensverhandlungen oft so ausgehen wie das Hornberger Schießen. Papier ist geduldig.
In der Welt der Realpolitik geht es erheblich rauer zu. Da sind alle Staaten zunächst einmal sich selbst am nächsten. Ihr Führungspersonal trägt die Verantwortung für den Schutz der eigenen Bevölkerung, des eigenen Territoriums und der eigenen gesellschaftlichen Ordnung. Für das Papier, auf dem die Staats- und Regierungschefs dem Verbot jeglicher militärischen Gewaltanwendung – außer in dem Notfall der Selbstverteidigung, wie es die UNO-Charta von 1945 (Artikel 2, Ziffer 4 und in Artikel 51) festlegt –, ihrer glühenden Zustimmung versichern, sind inzwischen schon etliche Wälder draufgegangen. Vergebens, wie die große Zahl der zwischen- und innerstaatlichen Kriege in den letzten 75 Jahren zeigt. Das waren ja, schon rein logisch betrachtet, keine Auseinandersetzungen, in denen alle beteiligten Kontrahenten nur sich selbst verteidigten. Das Verbot des Einsatzes militärischer Gewalt zu anderen Zwecken als den der (auch nur bis zu Maßnahmen des Sicherheitsrates erlaubten) Selbstverteidigung hört sich strikt und eindeutig an. Angesichts konkreter und zuweilen wie gordische Knoten verwickelter Konfliktlagen verliert es aber viel von seiner Eindeutigkeit. Außerdem verfügen die Staaten über mehr oder weniger effektive Propaganda-Apparate, um den eigenen Einsatz von Streitkräften als Selbstverteidigung hinzustellen, selbst wenn dadurch die wahren Sachverhalte auf den Kopf gestellt werden. Kämpfe um die Deutungshoheit über politisch-militärisches Vorgehen und Fake News hat es schon immer gegeben.
Als der damalige Verteidigungsminister Struck (SPD) den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vor dem Bundestag rechtfertigte, das war im März 2004, variierte er einen bereits zwei Jahre zuvor von ihm in die Debatte geworfenen Satz und sagte: »Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.« Ein unscheinbarer, aber inhaltsschwerer Satz. Denn er illustriert den Spagat, um den staatliche Sicherheitspolitik heutzutage nicht herumkommt: Die Verteidigung gegen eine Bedrohung kann sich nicht damit begnügen, die Außengrenzen zu schützen. Vielmehr können solche Bedrohungen in ganz anderen Räumen ihren Schwerpunkt haben und dennoch auf den eigenen Staat, die eigene Gesellschaft übergreifen, so dass es sinnvoll sein kann, sie am Ort ihrer Entstehung zu neutralisieren. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass alle Schritte bei der Herstellung von Sicherheit immer komplizierter geworden sind. Von der Beurteilung der Sicherheitslage und den Entscheidungen über die wirksamste Ausrüstung und Bewaffnung der Streitkräfte sowie der Absprachen mit anderen Akteuren im Rahmen von Bündnissen und im UNO-Rahmen bis hin zur Entscheidung, ob überhaupt und, wenn ja, mit welchem genau definierten Auftrag und in welcher Größenordnung, Streitkräfte »zur Verteidigung der eigenen Sicherheit« in Krisengebieten zum Einsatz kommen.
Realpolitik versus Idealpolitik
Die inzwischen schon recht zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr verfolgen in aller Regel aber nicht die »Verteidigung der eigenen Sicherheit« als oberstes und direktes Ziel, sondern ordnen sich ein in eine Art multinationale Mission im Namen und Auftrag der »internationalen Gemeinschaft«. Dieser herzerwärmende und bei Journalisten und Völkerrechtlern gleichermaßen beliebte Begriff bezeichnet, grob gesprochen, die gesamte Mitgliedschaft der Vereinten Nationen. Ihn umschwebt die Aura einer rechtlichen, moralischen und politischen Verantwortung für die Verstöße gegen das Gewaltverbot des Artikel 2 der UNO-Charta, für wirksame Unterstützung bei Natur- und sonstigen Katastrophen mit vielen Betroffenen und für die Überwindung allzu deutlich gegen die Menschenrechte verstoßende Regime (wie etwa seinerzeit das Apartheid-Regime in Südafrika). Dass alle Mitgliedsregierungen der Vereinten Nationen diese Verantwortung in gleichem Maße verspüren, die gleiche Hilfsbereitschaft bei Katastrophen zeigen und dass sie allesamt repressive Regime verabscheuen, davon kann freilich keine Rede sein. Viele von ihnen sind selbst repressiv und verstoßen gegen die Menschenrechte und völkerrechtliche Normen. »Internationale Gemeinschaft« ist also ein inhaltlich weitgehend entleerter Begriff, wovon es, nebenbei gesagt, in der politischen Sprache gar nicht wenige gibt.
Die Machtübernahme repressiver Regime und die Handlungen der Diktatoren zur Konsolidierung ihrer Macht sind nicht die einzige, aber eine wichtige Ursache für Krisen und gewaltsame Konflikte. Die Globalisierung hat unter anderem bewirkt, dass es sehr schwer, in den meisten Fällen ganz unmöglich geworden ist, die von solchen Krisen und Konflikten ausgehenden Destabilisierungswellen lokal oder regional zu begrenzen. Manche Machthaber, wie die Familiendynastie der Kims in Nordkorea (seit 1948 an der Macht), schaffen das mit Glück und einigem Geschick. Aber in der Regel haben die Krisen der Gegenwart, vor allem wenn sie schon in das Stadium gewaltsamer Konflikte mit vielen Kriegsgräueln eingetreten sind, auch Auswirkungen auf andere Regionen und Kontinente. Die Bilder von Massakern, weltweit verbreitet, rufen humanitäre Nichtregierungsorganisationen (NGO) mit Hilfseinsätzen auf den Plan. Viele der in den Konflikten um ihren Lebensunterhalt und ihre Lebensperspektiven gebrachten Menschen verlassen das Land und suchen nach einer sicheren Bleibe, die Mehrzahl von ihnen in den benachbarten Ländern, aber viele auch weiter weg in den reichen und demokratischen Ländern. Welche widersprüchlichen Folgen solche Migrationswellen in diesen Ländern haben, erleben wir täglich. Und selbstverständlich finden sich unter den friedlich gesonnenen Migranten auch Terroristen und Kriminelle, die an den Grenzen gar nicht oder nur mühevoll identifiziert werden können. Sind sie einmal durchgerutscht, können sie beträchtliche Schäden anrichten.
Wenn man diese Entwicklungen, wofür es nun wirklich gute Gründe gibt, auch als indirekte Bedrohungen der eigenen Sicherheit betrachtet, dann gewinnen die politisch-militärischen Überlegungen und Ansätze zur Eindämmung lokaler Krisen und gewaltsamer Konflikte in den weit ab von solchen Konflikten gelegenen Staaten auch eine real-, das heißt machtpolitische Dimension. Die oben zitierte Formulierung des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck klingt zwar zunächst etwas irritierend, denn Verteidigung findet vornehmlich an den Grenzen des eigenen Staates statt (es sei denn, man verwendet den Begriff rein militärisch-operativ). Außerdem verteidigen Staaten eigentlich auch nicht ihre Sicherheit, sondern ihre Staatsbürger, ihr Territorium und ihre Gesellschaftsordnung. Weniger verschwurbelt hätte es sich angehört, wenn Struck »Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch bedroht« gesagt hätte. Was man dann, sofern dieses Urteil als zutreffend beurteilt wird, gegen solch eine Bedrohung unternimmt, muss klug überlegt werden. Zumal in den letzten 30 Jahren die Zahl der weit von Deutschland entfernt liegenden Regionen nicht geringer geworden ist, von denen Bedrohungen von Deutschlands Sicherheit ausgehen. Mal stärker, mal schwächer, mal direkt und mal indirekt. Fazit: Deutschland tut wie jeder andere Staat gut daran, seine Sicherheitspolitik global auszurichten.
Das wird in der Regel auch versucht, mehr oder weniger geschickt. Allerdings nicht immer auf der Basis realpolitischer Lageanalysen, sondern oft, weil sie insbesondere in Deutschland innenpolitisch dem ideal- oder moralpolitischen Druck kosmopolitischer und humanitärer Nichtregierungsorganisationen ausgesetzt sind. Deren Forderungen nach einem Eingreifen in Konflikte weit out of area (außerhalb des Territoriums der NATO-Staaten) haben weniger mit der eigenen Sicherheit, sondern mehr mit der Sicherheit der bedrängten, unterdrückten, heftiger lokaler Gewalt ausgesetzten Menschen an diesen Konfliktorten zu tun (Human Security lautet der Fachbegriff). Ideal- oder Moralpolitik ist, nach Max Weber, Politik aus einer bestimmten Gesinnung heraus. Humanitäre Gesinnung verdient zweifelsohne Respekt. Das Problem dabei ist nur, dass sie häufig die Kosten, die mit ihrer Durchsetzung verbunden sind, vernachlässigt.
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