Kitabı oku: «Aus der Praxis», sayfa 10
XI. Kapitel
Emma war gegen Morgen in einen leichten Halbschlaf verfallen, nachdem sie sich die Nacht hindurch teilweise mit Lesen, teilweise mit dem Aufzeichnen eigner Gedanken beschäftigt. Das Studium der Philosophen, das sie nun gründlicher betrieb, half ihr über vieles hinweg, in der eignen Produktion entdeckte ihre groß angelegte Natur eine Quelle der Zufriedenheit, die ihr selbst das Unerträgliche erträglich machte. Zugleich begann sie eifriger denn je Kunstgeschichte zu studieren, kaufte viele Kopien großer Meister und vervollkommnete ihre Kenntnisse, die Schärfe ihres Urteils in kurzer Zeit derart, dass sie, wie sie fühlte, nun erst ihres Gatten Arbeitskraft zu würdigen und völlig zu verstehen vermochte.
Jetzt erst glaubte sie ihm ebenbürtig zu sein; wenn jemals wieder eine Versöhnung zwischen ihnen zustande kommen sollte, würde er im wahren Sinne eine geistige Mitarbeiterin an ihr finden. Ihr geistiger Hochmut hatte sich allmählich in eine ernste, würdige Bescheidenheit verwandelt, denn nun erst, nachdem sie mehrere Bilder Pauls studiert, lernte sie erkennen, wie das naive Kunsttalent dem abstrakten Denken immer überlegen bleibt. Jetzt wusste sie erst, welch’ innere Tiefe, welch’ hohe Gemütsbildung dazu gehört, Kunstwerke zu schaffen; und sie sah mit Ehrfurcht zu dieser stillen, kindlichen Geistesgröße empor, sie schämte sich aufrichtig ihres früheren Genialitätsdünkels. Auf diesem Wege gelangte sie wenigstens dahin, ihre Seelenleiden, wenn sie dieselben auch nicht vernichten konnte, zu mildern, dieselben sich in Entfernung zu halten.
Sie saß angekleidet auf dem Sofa, den Kopf mit den geschlossenen Augen, dem halboffenen Mund, ein wenig auf die Seite geneigt; vor ihr auf dem Tisch beglänzte die Lampe Bücher, Blätter, Schreibgerätschaften. Die Türe, die nach dem Garten zuführte stand offen und ließ den kühlen Nachtwind ins Zimmer, der mit der Flamme der Lampe spielte. Über den Wipfeln des Parks dämmerte es bereits, als Emmas regelmäßige Atemzüge zu stocken und ihre geschlossenen Lider zu zucken begannen; sie seufzte und träumte, die Möbel um sie her würden lebendig. Plötzlich war es ihr, als rufe eine fremde Stimme ihren Namen; im Schlaf antwortete sie mit einem verdrossenen: ›ja!‹, hob ein wenig die Augenlider, und da es ihr vorkam, als stünde eine Gestalt vor ihr, öffnete sie die Augen völlig:
»Wer ist da,« rief sie ganz laut, erschrocken emporfahrend, als sie ein sehr einfach, fast ärmlich gekleidetes Weib aus dem Volk vor sich stehen sah. Die Lampe, die schon seit einer Stunde mit dem Erlöschen gekämpft, zuckte auf, rauchte immer stärker und erlosch, so dass jetzt der trübe, gelbfahle Herbstmorgen die Gestalt jenes Weibs in ein gespenstisch-graues Licht hüllte und Emma die Züge desselben nicht erkennen ließ.
»Was wollen Sie hier, wer sind Sie?« sagte sie rau, aber ohne Erregung, denn die Seelenkämpfe der letzten Wochen hatten ihr eine gewisse, müde Gleichgültigkeit gegen äußere Eindrücke verliehen, ließen ihr alles, was sich nicht auf jene Kämpfe bezog, als unwesentlich erscheinen. Nichts vermochte sie in Erstaunen oder Schrecken zu setzen; wäre ein Mörder um diese Stunde in ihr Zimmer gedrungen, sie würde ihn wohl mit derselben Ruhe angeredet und zu ihm aufgeblickt haben.
»O, hören Sie mich, gnädige Frau,« stieß die Unbekannte, den verstörten Blick auf den Boden geheftet, heraus.
Emma, die Müdigkeit gewaltsam verscheuchend, betrachtete, als sie sich umwendete und die Dämmerung ihr Gesicht erhellte, die, wie es schien, hocherregte Eingedrungene genauer —: sie träumte nicht mehr – sie täuschte sich nicht – sie hatte diese Züge schon einmal erblickt. Louise stand vor ihr, jenes Modell, um das im Atelier Pauls einst der Kampf mit dem jungen Schreiner entbrannt war. Emma erhob sich; diese jetzt so verstörten, nicht unschönen Züge erweckten peinliche, fast eifersüchtige Erinnerungen in ihr. Sie wollte sich diesem Eindruck entziehen und schritt, eine heftig abweisende Handbewegung ausführend, nach der Türe.
»Wenn Sie Geld brauchen…« sagte sie zurückgewendet, doch die andere, die jetzt erst zu Worte zu kommen schien, unterbrach sie.
»Sie müssen mich hören,« rief sie und hielt sich mühsam am Tisch aufrecht, »sein Leben ist in Gefahr —.«
»Was? Wessen Leben?« sagte Emma, erschrocken aufhorchend.
»O, es ist schrecklich, schrecklich,« rief das Mädchen, statt aller Antwort die Hände vor das Gesicht drückend.
»Was ist schrecklich —? Sie träumen wohl!« stieß Emma tonlos hervor.
»Ich weiß nicht, was ich tue – hören Sie mich nur!« keuchte Louise, nach Fassung ringend, »ich lief hierher zu Ihnen, – es ist so, wie ich sagte, für so schlecht hätte ich ihn nie gehalten – er hat es mir gestanden – und wenn Sie nicht eilen, ist er verloren – !«
»Wer – verloren —?«
Emma trat näher, ihre Scheu überwindend und durch die Gebärden der Unglücklichen zum Mitleid bewegt.
»Ich verstehe Sie gar nicht, liebes Kind,« entgegnete sie freundlich, »sprechen Sie doch ruhig; wenn ich Ihnen helfen kann – recht gern – aber —!«
Louise brach in Tränen aus. Erst nach einiger Zeit brachte sie es über sich, in atemloser, stockender Hast zu erzählen, wie sie schon seit einigen Tagen an Heinrich, ihrem Bräutigam, eine seltsame Unruhe bemerkt. Schließlich habe sie aus mehreren seiner Äußerungen erraten, dass er, von Eifersucht gefoltert, irgend einen Racheplan gegen Pauls Leben geschmiedet. Da habe sie, um hinter das Geheimnis zu kommen, zu einer List gegriffen. Als er heute Morgen außergewöhnlich früh die Werkstatt betreten, habe sie ihren Bräutigam mit den Worten empfangen: eben gehe das Gerücht durch die ganze Stadt: Paul Steinacher sei tot, man habe seine Leiche gefunden. Da müsse denn doch in Heinrich das Gewissen erwacht sein, er sei kreidebleich geworden, habe sich verflucht und sich wie ein Wahnsinniger gebärdet. In diesem Zustand habe er ihr gestanden, dass er das oberste Brett des Gerüsts, auf welchem Paul im Hause des Bankiers Weber zu malen hatte, künstlich so gelegt, dass es notwendig, sobald es ein Fuß betrete, umschlagen musste.
»Was sagen Sie?« presste Emma, als sie dies vernommen, hervor, »und Paul —, wann betritt er das Gerüst?«
»Das weiß ich nicht,« rief das Mädchen; in Tränen ausbrechend, »eilen Sie nur zu ihm – o Gott – Heinrich ein Mörder – eilen Sie zu ihm. Er kann es ja in jedem Augenblick betreten, und ich sah den Gartensaal, in dem das Gerüst steht – es ist eine Höhe – wer herunterstürzt, bleibt für immer liegen.«
Emma starrte die Verzweiflungsvolle entsetzt an, keines Wortes, keiner Bewegung fähig. Nur der eine Gedanke bohrte sich ihr weh und gewaltsam ins Gehirn: ›Du siehst, du hörst ihn nicht mehr‹; alles übrige Denken und Fühlen blieb ihr wie von dieser Vorstellung verschlungen.
»Eilen Sie, ehe es zu spät ist, zu Ihrem Gatten,« rief Louise, die Hände ringend, »vielleicht ist es schon zu spät, vielleicht liegt er bereits zerschmettert.«
Dieser Verzweiflungsschrei brachte die Schmerzgelähmte wieder zu sich; es brauste ihr in den Ohren; wie im Taumel stammelnd, wie im Rausch, alle ihre philosophischen Grundsätze zu Hilfe rufend, dankte sie dem Mädchen, klingelte und befahl dem aus dem Bett geholten Kutscher, sogleich anzuspannen. Mit Gewalt, alle ihre philosophischen Grundsätze zu Hilfe rufend, kämpfte sie, solange sie auf den Wagen warten musste, ihre fieberhafte Erregung nieder, aber ihre Phantasie war mächtiger als ihr Verstand; sie warf die Bücher, die sie ergriffen, auf den Tisch, malte sich Pauls Lage mit den wildesten Farben aus und stöhnte unter den Eindrücken ihrer erhitzten Einbildungskraft laut auf.
Und wenn es zu spät war, wenn sie ihn als Leiche wiedersähe? Nein! Nein! Nur zu ihm, gewiss – er zögerte noch, das Gerüst zu betreten; es war 5 Uhr; da schlief er noch – um 6 konnte sie bei ihm sein, das Drohende abzuwenden. Also zu ihm! Noch in dieser Stunde! Ihn wiedersehen? Und unter welchen Umständen?! Sie dachte nicht mehr daran, dass er in Gefahr schwebte, dass sein Fuß das verhängnisvolle Brett betreten könne, ehe sie ihn daran zu verhindern vermochte – wie ein Blitz schlug es vor ihr nieder – sie dachte jetzt nur an das Wiedersehen, daran, dass sie seine Retterin werden könne und dass er – vielleicht – wär’s möglich? – Es beschlich sie ein eigentümliches Wonnegefühl, dass er, wenn er ihre Angst, ihre Sorge um sein Leben ihr in den Augen lese – —! Ja, das war Hoffnung, wie hingebend weich ihr auf einmal ums Herz ward! Gewiss, er konnte seiner Retterin nicht länger zürnen, sie hatte ja ihren Fehler wiedergutgemacht, hatte bewiesen, wie sehr sie ihn lieben gelernt. Gewiss, das war der Moment – das besiegte ihn, versöhnte ihn, und er war der Ihre, sie die Seine für immer.
Als sie bereits im Wagen saß, erschien sie zwar äußerlich gefasst, in ihrem Inneren sah es desto wüster aus.
Ihrer Leidenschaftlichkeit kam der Wagen nicht rasch genug von der Stelle, es drängte und zog sie innerlich vorwärts, es war ihr, als müsse die Natur mitleidig ein Übriges tun und ihr für kurze Zeit Flügel verleihen, und dann stellte ihr Verstand ihr das Unsinnige, Zwecklose all dieser Ideen vor die Seele und zeigte ihr, wie mitleidslos grausam das Schicksal meist unsre liebsten Wünsche unberücksichtigt lässt; uns den Becher, den wir eben an die Lippen setzten, aus der Hand schlägt, dass uns seine Scherben die Finger blutig schneiden. Dann sank sie in die Polster zurück, stöhnte, schloss die Augen und überließ sich ganz den Martern der Erwartung, die an ihren Nerven rissen, dass jede Faser an ihrem Leibe zu zucken begann. Immer war es ihr, als komme sie zu spät, als habe der Himmel beschlossen, sie zu strafen, ihren Stolz, ihre Selbstsucht zu brechen, ihr zu beweisen, dass es ein Höheres gebe im Leben, als hohe Geistesgaben, und dazwischen träumte sie von seiner Dankbarkeit, seinem Kuss —!
Endlich, endlich hielt der Wagen vor der Villa.
Das Haus machte einen schläfrigen, einsamen Eindruck, inmitten des Gartens, im Licht dieses trüben, regnerischen Herbstmorgens. Als sie die Treppe hinaufeilte, wunderte sie sich darüber, dass das Tor offen stand, dass ihr kein Mensch entgegentrat und dass in dem Hausflur jene sonderbare Verwahrlosung herrschte, die auf außergewöhnliche Ereignisse schließen ließ. Rings an den Wänden prangten Blumen, alle Gasflammen brannten, auf dem Marmorboden lagen Blumensträuße, Papierhüllen, Handschuhe zerstreut.
Emma hielt den Atem an. Die Ausgestorbenheit der Räume hemmte ihre Empfindungs- und Gedankenwelt, sie fürchtete nicht, hoffte auch nicht, es lag wie ein zurückgedämmtes Fieber auf ihren Nerven. Die Türen standen fast im ganzen Hause offen, ein heißer, mit verschiedenartigen Gerüchen geschwängerter Dunst lagerte sich aus der Luft über die Gegenstände ab, und, als sie in den ersten Saal trat, bemerkte sie, dass sich hier eine zahlreiche Gesellschaft an reich besetzten Tafeln die Nacht hindurch hatte wohl sein lassen; das bewiesen die Reste der Mahlzeit, die geleerten Flaschen, die umgestürzten Stühle. Wie traurig die Gasflammen der Kronleuchter im grauen Morgenlicht flackerten, die Trümmer dieses Schlachtfeldes der Vergnügungen grämlich mit gelbem Glast überzogen; wie trübselig dieser verlassene Prunk, diese leeren Tische anmuteten; es war, als spottete die Pracht der Wände der genossenen Lust, als witzelten die hüpfenden Flammen über die Vergänglichkeit der Genüsse.
Neben der Türe lag ein Diener auf zwei Stühlen und schnarchte; Emma dachte daran, ihn zu wecken, um nach den Bewohnern zu fragen, zog es alsdann aber vor, weiter zu eilen. Wahrscheinlich schliefen nach den Anstrengungen der durchwachten Nacht sämtliche Hausbewohner, selbst die Dienerschaft schien ihre Pflichten im langentbehrten Schlummer zu vergessen. Sie beschloss daher, zu warten, da es ja in diesem Fall nicht eilte, Paul vor dem Gerüst, das er heute schwerlich besteigen würde, zu warnen.
Als sie das Ende des Saals erreicht, kam es ihr vor, als vernehme sie Stimmen; sonderbar, ganz schlummerselig scholl das Echo durch die leeren Gemächer, ersterbend schlug es von den verschlafenen Wänden zurück. Dieser aus dem Grab hervorhallende Ton stimmte Emma missmutig; es begann sie zu frösteln, sie gähnte mehrmals und fühlte eine unüberwindliche, unbehagliche, fast fieberartige Schlafneigung. Nur wenn sie daran dachte, dass sie heute noch Paul gegenüberstehen sollte, kam sie wieder zu sich und dann presste ihr eine wehe, krampfartige Beklommenheit die Brust. Dachte er noch manchmal an sie? Wie würde er ihr plötzliches Erscheinen auffassen? Würde er ihr verschlossen oder herzlich entgegenkommen? Und wie lebte er mit Elisabeth? Rechtfertigte auch das, was sie ihm mitzuteilen hatte, ihren Besuch? Sie hätte ja auch eine Dienerin schicken können; es sah doch schließlich, wenn sie kam, ihn selbst aufzusuchen, aus, als könne sie nicht ohne ihn existieren? Alle diese Fragen fielen ihr schwer auf die Brust, als sie nun in dem kleinen Wintergarten angelangt war, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Das eintönige Rauschen des Strahls vermehrte Emmas seltsame, aufgeregte Schlaftrunkenheit, und da sie sich in einem Sessel niederließ, wäre sie vielleicht eingenickt, hätten nicht plötzlich bekannte Laute ihr Ohr berührt. Das war die Stimme Pauls, sie klang zwar gedämpft, aber vernehmlich von rechts her durch die mit bunten Lampen geschmückten Gebüsche. Emma stieg das Blut in die Schläfen; dieser Klang weckte wieder ihre ganze, bis zur Leidenschaft gesteigerte Liebe, ihre brennende Reue, und der glühende Wunsch, ihm zu Füßen zu stürzen, ihn um Verzeihung zu bitten, sich vor ihm zu demütigen, rang aufs Neue mit ihrem Stolz. Eine andere Stimme, die Stimme Elisabeths, antwortete.
Emmas Herz, dem eigentlich, da es grad, einfach und groß empfand, die Regungen der wirklichen Eifersucht von jeher fremd geblieben, krampfte sich doch zusammen, als diese beiden flüsternden Stimmen so sonderbar kosend und schäkernd durch die Blätter herüberdrangen; es packte sie, wie eine Angst vor sich selbst, vor ihrer eignen Hilflosigkeit, als müsse sie sich etwas unsagbar Trauriges verbergen und sie wandte ihr Haupt ab von der Stelle, von der die Töne kamen. Doch das wusste sie ja: seine kindliche Natur war keiner Schändlichkeit fähig; sie durfte ihm, obgleich sie ihn aufs tiefste beleidigt, keine so niedrige Rache zutrauen.
War er doch ein verschämter, schüchterner Mensch, der vor dem Ewigweiblichen die höchste Ehrfurcht hegte. Sie erhob sich sogar, um sich zu entfernen, denn ihrem Charakter lag jede Neugier fern, aber in diesem Augenblick sah sie ein rosarotes Ballkleid durch die Myrtengebüsche schimmern und bemerkte, wie hinter dem breiten Fächer einer Palme ein schwarzer Gesellschaftsanzug zum Vorschein kam. Mit innerem Widerstreben wendete sie langsam den Kopf; ein eisiger Schauer fror ihr vom Herzen nach dem Hirn; was war das? Dort – hinter dem Palmenschaft – unmöglich; ihr Gesicht nahm einen enttäuschten, angstvoll schmerzlichen Ausdruck an, als sie einen nackten Frauenarm sich um diesen schwarzen Anzug schlingen, ein Haupt sich im Kuss auf ein anderes herabneigen sah. Doch sie sah mehr … das Erniedrigendste! Ihr Mund, der sich blau färbte, öffnete sich wie zum Schrei; ihr entsetzter, gequälter Blick blieb ausdruckslos an dem Bild haften, das sie nicht zu begreifen schien. Also doch! Du hast ihn verloren! Du bist gestraft, so grausam, wie du es verdienst, – und er tut recht, denn du wiesest seine Liebe von dir –!
Sie sah, hörte nichts mehr, sie floh von dannen, als verfolgte sie die Hölle. Wie klein, wie gedemütigt, wie erbärmlich sie sich auf einmal vorkam. Da begann es unheimlich ihr Hirn zu durchwühlen; es war ihr, als krieche eine ekelhafte, schwarze Spinne durch die Kanäle ihres Hirns – o nur nicht werden wie die Mutter, lispelte sie und presste die Hände vor die Stirne; aber das Schicksal ist unerbittlich, sie wusste es. Nur diesen peinlichen Druck im Kopf verbannen! – Aber er wollte nicht weichen, er nahm zu und eine hämische Stimme lispelte: ›ich fasse dich doch, du bist mir verfallen, es liegt dir im Blut von der Mutter her; —‹ und eine andere Stimme antwortete: ›Dämon, ich bin mächtiger als du, denn ich bin der Tod und mir ist alles untertan…‹
XII. Kapitel
Es mochte gegen 9 Uhr morgens sein, als sich Paul aus den Armen Elisabeths riss.
»Und jetzt, nachdem du die ganze Nacht durchwacht, willst du arbeiten?« fragte ihn Elisabeth, ihm liebevoll die Wange streichelnd.
»Gerade in solchen überreizten Stimmungen arbeite ich am besten,« sagte er verdrießlich und entzog sich beschämt ihren Liebkosungen.
»Warum ziehst du die Stirne so in Runzeln?« entgegnete sie.
Er wandte sich angeekelt von ihr ab und sah ohne zu antworten, starr, finster ins Weite. Sie schmiegte sich an ihn; er drückte sie leise von sich weg; man sah ihm an, dass er sie lieber heftig von sich gestoßen.
»Lass’ mich, lass’ mich!« sagte er, indem sein Gesicht einen wahrhaft unglücklichen Ausdruck annahm.
Dann verließ er sie, um das Gerüst zu besteigen und sich im Drang künstlerischer Arbeit Zerstreuung zu suchen.
In welch’ elender Stimmung er sich befand, wie öd, wie nüchtern nach dieser verstürmten Nacht ihm die Welt ins müde Auge starrte; er hätte sich selbst beohrfeigen mögen, so unzufrieden war er mit sich, so sehr bereute seine feine Natur, dass er sich vergessen, sich benommen wie ein gemeiner Lüstling! Und wie er nun dies Weib, das ihn besiegt, hasste, ganz seiner sanften Art entgegen, ballte er die Fäuste und schäumte innerlich vor Wut, welche Wut er schließlich gerecht genug war auf sich selbst zu richten. Heftiger denn je erwachte jetzt, da er die erniedrigende Liebe dieser Kokette genossen, die Sehnsucht nach Emmas lauterer Natürlichkeit, ernster Würde in ihm, und er beschloss, heute noch zu ihr zurückzukehren.
›Ja! Ich will nicht länger den gekränkten, tugendstarken Helden spielen, ich will ihr zu verstehen geben, wie mir’s ums Herz ist, wie ich sie trotz all ihrer Fehler liebe; es soll alles wieder gut werden zwischen uns,‹ dachte er, indem er ins Freie trat. Dann wieder raunte ihm sein Stolz zu, er dürfe noch nicht verzeihen, er müsse sie noch im Ungewissen lassen, aber da brannte ihm auf einmal die Wange —: sie hatte an ihm gesündigt, er hatte nun auch an ihr gesündigt, schwer und unverzeihlich. Der Entschluss reifte in ihm, ihr seinen Fehltritt, seinen Verrat offen einzugestehen.
›Das ist der Prüfstein,‹ rief er sich zu, ›nur so vermagst du dich zu überzeugen, ob sie dir völlig ergeben, ob sie ein wahres Weib. Sie soll wissen, dass ich sie hintergangen, dann mag sie entscheiden, ob wir noch zusammen gehören können, ob ihre Liebe mächtig genug ist, auch den Schwachen, Abtrünnigen neben sich zu dulden, ob ihre Reue aufrichtig genug ist, um jede Strafe als eine verdiente ansehen zu können.‹ Von diesem Gedanken beseelt, fühlte er plötzlich alle seine Kräfte wachsen. Augenblicklich wollte er zu ihr eilen; jetzt, da ihm noch die Folgen seines Fehltritts das Herz bedrückten, wollte er sein Geständnis ablegen.
Als er, von diesen Phantasien beherrscht, auf den Gartensaal zuschritt, bemerkte er nicht, wie der alte Gärtner von weitem auf ihn zueilte, beständig mit dem Grabscheit winkend.
»Herr Steinacher, Herr Steinacher,« rief der alte Mann, »kommen Sie doch, ’s ist was passiert, hören Sie doch.«
Paul blieb stehen.
»Was ist denn,« sagte er ungeduldig.
Der Alte hinkte heran.
»Kommen Sie mal mit, Herr,« hustete er, nach dem kleinen Tempel deutend, der zwischen den Bäumen weiterhin sichtbar ward.
»Ich habe keine Zeit,« entgegnete Paul unwirsch —.
»Ja, kommen Sie nur,« fuhr der andere flüsternd fort, Paul am Rockknopf ziehend, —»’s ist was ganz Merkwürdiges – ein Weib – Herr —.«
»Ein Weib?«
»Ein – ja eine Ersoffne.«
»Was?«
»Wir haben eben, ich und mein Knecht, ein Weib aus dem oberen Teich herausgezogen,« keuchte der Alte mit wichtigem Gesichtsausdruck.
»Was?« stieß Paul bestürzt heraus.
»Ja, so ist’s, kommen Sie nur mit,« sagte er geheimnisvoll grinsend, »’s ist ein sehr schönes Frauenzimmer, sie ist pudelnass natürlich. Wir arbeiteten grad am kleinen Tempel, wissen Sie, als wir was rauschen hörten – mein Junge lief hin – nun da sah er die Bescherung – da schwamm was Schwarzes im Wasser. ›Holla,‹ rief ich, ›willst du dort liegen bleiben?‹ Es gab keine Antwort, sondern tauchte unter und wieder auf, und jetzt sah ich auch ein kreideweißes Weibergesicht im schwarzen Wasser. ›Hollah!‹ dacht’ ich, ›die hat’s eilig mit dem Himmelreich‹, und watete in den Schlamm durch die Binsen und konnte sie mit leichter Müh’ an den Kleidern herausziehen, denn dort ist der Teich am Grund dicht bewachsen, man sinkt kaum unter. Wir trugen sie gleich in den Tempel.«
»Lebt sie noch?« fragte Paul beklommen.
»Sie muckst sich nicht,« sagte der Alte, »sie ist ganz starr.«
»Geh’, ruf den Arzt,« befahl Paul, »lass’ mich allein, ruf’ den Arzt.«
»’S ist recht,« sagte der Alte und hinkte davon, während Paul rasch dem kleinen Tempel zuschritt.
›Ein Weib! Wird eine arme Landstreicherin sein,‹ dachte er und eilte, ohne eigentlich Mitleid zu empfinden, nur vom Wunsche zu helfen beseelt, weiter, bis er den Tempel erreicht. Im Ganzen kam ihm dieser Vorfall, der seinen Gedanken eine andere Richtung gab, recht gelegen, er riss ihn aus seiner öden Stimmung, flößte ihm Tatkraft und Entschlossenheit ein.
Als er einen Blick durch die offene Tür des Lusthäuschens warf, durchfuhr ihn, er wusste selbst nicht, welche jähe Erinnerung; eine Farbe, die er dort im Halbdunkel des engen, fünfeckigen Raums schimmern sah, beunruhigte ihn, kam ihm bekannt vor, und als er nähertrat, bemerkte er, dass es die dunkelgrüne Farbe eines Frauenkleids war, die ihn so wunderlich erschreckte. Von dem einzigen blaufarbigen Fenster des Raums beleuchtet, lag die Unglückliche auf einer eisernen Gartenbank; er sah bis jetzt nur ihre Stiefelsohlen, die ihm zugekehrt waren, sprang die paar Stufen hinauf und wäre beinahe auf den Sandsteinfliesen ausgeglitten, die der nasse Körper des Weibes mit einer Wasserlache verunreinigt. ›Am besten beginne ich gleich mit den Atmungsversuchen,‹ dachte er, nun doch ein wenig erregt und sich mit jener Scheu, die der Anblick des Elends dem Menschen einflößt, von der Langhingestreckten abwendend. Doch das war feige, er schalt sich und schritt dann, nachdem er sich an das blaue Halbdunkel des Raums gewöhnt, auf den Körper zu.
Der Atem stockte ihm, die Augen traten ihm aus den Höhlen – nein! Das konnte nicht sein, das war ja der helle Wahnsinn. Er griff sich langsam an die eiskalt werdende Stirn und, während sich seine Brust, nach Fassung ringend, krampfhaft abarbeitete, war es ihm, als rissen unzählige Wirbelstürme von allen Seiten an seinem Körper.
»O! O!«
Dieses wachsbleiche Gesicht, dieser zusammengekniffene Mund, diese triefenden Haare – er stöhnte auf – alles so still, kalt und starr, was da vor ihm lag – sie war es gar nicht mehr und war es doch —.
»Emma!« schrie er jammernd, knickte in die Knie, umfasste zuckend den schwer herabhängenden Kopf der Unseligen. »Sie weiß alles!« rief es in ihm, »sie kennt mein Vergehen – und o, wie sie mich liebte —!«
Laut jammernd rief er kindisch, ihre kalte Wange liebkosend:
»O, wie du mich liebtest, nicht wahr?«
Dann verließ ihn die Besinnung. So lag er, bis eine raue Hand, die Hand des Gärtners ihn aus seiner Betäubung rüttelte. Ein fremder, schwarzgekleideter Herr beugte sich, ganz in seine Wiederbelebungsversuche versunken, auf die Verunglückte herab, regelmäßige Bewegungen mit ihren Armen aus führend.
Paul schlug, sich auf den Boden werfend, sinnlos wütend um sich; es lebte nur die eine zermalmende Empfindung in ihm: ›du hast sie getötet!‹, und diese Empfindung zerriss ihm die Brust, verwirrte sein Denken bis zur Raserei.
»O, lasst mich, was beginnt Ihr?« rief er, des Gärtners Beruhigungen abwehrend, »ich will nicht leben, ich will nicht – lasst mich – es ist alles aus —.«
Und er drückte mit dem Kopf gegen den Fußboden, als wolle er sich in die Erde verkriechen, wo sie am tiefsten ist.