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Kitabı oku: «Die neue Magdalena», sayfa 7

Yazı tipi:

»Dessen bin ich gar nicht sicher«, sagte Julian leise, ohne dabei seine Tante anzusehen.

»Was sagen Sie? Ist das Geheimnis damit noch nicht zu Ende?«

»Dies hat noch nicht einmal angefangen. Sie sollen das weitere wieder von meinem Freunde, dem Konsul selbst hören.«

Julian nahm den Brief zur Hand und las weiter:

»Nach sorgfältiger Untersuchung der angeblichen Leiche hatte der deutsche Arzt gefunden, dass hier in der Eile des Rückzuges der Fall verkannt worden war, indem die Verwundung die Lebenserscheinungen momentan unterbrochen, nicht aber den Tod herbeigeführt hatte. Als Fachmann interessierte er sich besonders für diesen Fall und versuchte deshalb eine Operation. Sie gelang vollkommen. Die ersten Tage behielt er die Patientin in seiner Obhut, dann wurde sie in das nächste Spital gebracht – und das war in Mannheim. Doktor Wetzel musste wieder zu der Armee und so ließ er die Kranke in dem Zustande zurück, in welchem ich sie damals sah. Weder er, noch sonst jemand in dem Hospital konnte irgendwelche Auskunft über sie geben. Es fanden sich keine Papiere vor, überhaupt nichts, wodurch ich im Stande gewesen wäre, mich an ihr nahestehende Personen zu wenden; das einzige, was man mir in dieser Hinsicht zeigen konnte, war ein mit ihrem Namen gezeichnetes Taschentuch. Ich notierte mir den Namen »Mercy Merrick« und verließ das Spital.«

Lady Janet zog ihr Taschenbuch hervor und sagte: Ich will ihn mir auch notieren; ich habe ihn noch nie gehört und könnte ihn sonst leicht vergessen. Lesen Sie weiter, Julian.«

»Unter diesen Umständen musste ich warten, bis die Kranke wieder so weit hergestellt sein würde, um mit mir sprechen zu können. Es vergingen einige Wochen, während welcher ich gar nichts von der Sache hörte. Als ich einmal nachfragte, hieß es, das arme Geschöpf läge in heftigem Fieber, beständig zwischen Delirium und der darauffolgenden Ermattung. In ihren Phantasien rief sie oft den Namen Ihrer Tante, Lady Janet Roy; alles übrige war für ihre Umgebung ganz unverständlich. Ich dachte mehrmals daran, Ihnen deshalb zu schreiben, damit Sie mit Lady Janet darüber sprächen; aber da die Ärzte ihren Zustand für bedenklich, zwischen Leben und Tod schwankend erklärten, so beschloss ich zu warten, bis sich dieser auf die eine oder auf die andere Weise entschieden haben würde!«

»Sie mögen es zwar besser wissen, Julian«, sagte Lady Janet; »aber ich bekenne, ich verstehe nicht, weshalb mich dieser Teil der Geschichte interessieren soll.«

»Ich wollte eben dasselbe sagen«, setzte Horace hinzu. »Es ist recht traurig, aber uns geht dies doch eigentlich nichts an.«

»Lassen Sie mich erst vollenden«, antwortete Julian; »dann mögen Sie darüber urteilen.«

Er nahm den Brief und las weiter:

»Endlich erhielt ich die Mitteilung, dass Mercy Merrick, obgleich noch sehr schwach, doch außer Gefahr und im Stande sei, mir einige Fragen zu beantworten, die ich notwendig an sie richten musste. Als ich in das Hospital kam, wurde ich zu meiner Überraschung gebeten, zuerst dem Oberarzt auf seinem Zimmer einen Besuch zu machen. Dieser gab mir nun einige Winke, wie ich mich gegen die Kranke zu benehmen hätte. »Ich halte es für ratsam«, sagte er, »Ihnen zu sagen, dass Sie mit großer Vorsicht und Schonung ans Werk gehen müssen; geben Sie acht, sie durch kein Zeichen von Überraschung oder Zweifel über ihr etwas sonderbares Wesen zu reizen. Wir sind hier in Betreff ihres Zustandes verschiedener Ansicht. Einige, darunter bin auch ich, bezweifeln, dass mit der Wiedererlangung ihrer körperlichen Gesundheit auch ihr Geist genesen sei. Ohne sie gerade wahnsinnig nennen zu können – denn sie ist ganz sanft und harmlos – scheint sie uns doch in einer gewissen wahnsinnsähnlichen Täuschung befangen. Erinnern Sie sich meines Rates, und im Übrigen werden Sie ja selbst darüber urteilen können.« Ich war etwas betroffen und überrascht, tat aber, wie mir der Arzt gesagt. Ich fand die Kranke traurig, schwach und abgezehrt im Bette liegen, aber so weit ich es beurteilen konnte, bei vollkommen klarem Bewusstsein. In der Art, wie sie sprach und sich benahm, zeigte sich unverkennbar die Dame von Stand. Ich stellte mich ihr erst mit wenigen Worten vor und versicherte sie dann meines amtlichen und persönlichen Beistandes, wenn sie dessen irgendwie bedürfte. Bei dieser Gelegenheit redete ich sie mit dem Namen an, welchen ich in ihrer Wäsche gezeichnet gesehen hatte. Die Worte »Miss Merrick« waren kaum über meine Lippen, als sie ihre Augen mit einem wilden, rachsüchtigen Blick auf mich richtete und zornig ausrief: »Nennen Sie mich nicht bei diesem verhassten Namen! Es ist nicht der meinige. Alle Welt verfolgt mich hier damit, und wenn ich darüber in Zorn gerate, so weisen sie mir meine Wäsche vor. Wenn Sie mein Freund sein wollen, so tun Sie nur das nicht!« Ich erinnerte mich dessen, was mir der Oberarzt empfohlen hatte, und suchte sie durch meine Entschuldigung zu besänftigen, was mir auch gelang. Ich ließ die Frage in Betreff ihres Namens ganz fallen und bat sie nur, mir mitzuteilen, was sie zu tun gedenke und hierbei nach Belieben über mich zu verfügen. »Weshalb wollen Sie wissen, was ich zunächst beabsichtige?« fragte sie argwöhnisch. Ich erinnerte sie daran, dass ich englischer Konsul und deshalb hergekommen sei, um ihr womöglich behilflich zu sein. »Sie können mir einen großen Dienst erweisen«, sagte sie eifrig, »wenn Sie Mercy Merrick ausforschen lassen!« dabei nahmen ihre Augen wieder den rachsüchtigen Ausdruck an, und über ihre bleichen Wangen breitete sich eine zornige Röte. Ich enthielt mich jeder Äußerung der Überraschung und fragte sie, wer Mercy Merrick sei? »Eine schlechte Person, wie sie selbst von sich sagte«, versetzte sie rasch. »Wie soll ich sie aber ausfindig machen?« fragte ich. »Sie können sie an einem schwarzen Kleid mit dem roten Kreuz auf der Schulter erkennen; sie ist Krankenpflegerin bei einer französischen Ambulanz.« Ich fragte weiter, was sie denn getan habe? »Ich habe meine Papiere, meine Kleider verloren; beides muss Mercy Merrick mir entwendet haben«, sagte sie. »Wie wissen Sie das?« »Weil es niemand anderer entwendet haben kann. Glauben Sie mir, oder glauben Sie mir nicht?« Sie geriet in Aufregung; so versicherte ich sie nur, nach besten Kräften für die Ausforschung Mercy Merricks wirken zu wollen. Dann kehrte sie sich auf ihrem Kissen um, und ich hörte nur, dass sie mich einen guten Menschen nannte und bat, wenn ich etwas erfahren hätte, es ihr mitzuteilen. So verlief die erste Unterredung, welche ich mit unserer Landsmännin hatte. Zwar bezweifelte ich vollständig die Existenz jener beschriebenen Krankenpflegerin, allein ich wollte mein Versprechen erfüllen und so wendete ich mich zunächst an Doktor Wetzel, dessen stets wechselnder Aufenthaltsort seinen Freunden in Mannheim bekannt war. Ich schrieb an ihn und erhielt die Antwort, dass er, nachdem die Deutschen sich in jenem nächtlichen Gefecht der französischen Stellung bemächtigt hatten, in dem Häuschen nur zurückgelassene Verwundete, aber keine Krankenpflegerin bei ihnen angetroffen habe, das einzige lebende Wesen außerdem sei die junge Engländerin in einem grauen Reisemantel gewesen, welche an der Grenze angehalten und später durch den Kriegskorrespondenten einer englischen Zeitung in ihre Heimat befördert worden war.«

»Das war Grace«, sagte Lady Janet.

»Und der Kriegskorrespondent war ich«, setzte Horace hinzu.

»Hören Sie noch einige Worte«, sagte Julian, »und Sie werden begreifen, weshalb ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen habe.«

Er nahm den Brief zum letztenmale auf und las den Schluss, wie folgt:

»Ich teilte die Erfolglosigkeit meiner Nachforschungen in Betreff jener Krankenwärterin der Dame, welche ich doch Mercy Merrick nennen will, schriftlich mit und erhielt darauf weiter keine Antwort. Erst gestern wurde ich wieder gebeten, mich bei der Patientin einzufinden. Sie war unterdessen so weit hergestellt, dass sie ihre Entlassung begehrte, um unverzüglich nach England zurückzukehren. Der Oberarzt wollte die Verantwortlichkeit nicht auf sich nehmen und hatte deshalb mich rufen lassen. Es war unmöglich, sie darum zurückzuhalten, weil ein Teil der Ärzte ihre geistigen Fähigkeiten für nicht hinreichend zuverlässig erklärte, um sie nicht noch zu beaufsichtigen; so konnte er weiter nichts tun, als mich von ihrer Entlassung in Kenntnis setzen, und im übrigen die Angelegenheit in meine Hände geben. Als ich sie da zum zweitenmale sah, fand ich sie mürrisch und zurückhaltend. Sie schrieb das Nichtauffinden der Krankenpflegerin unverhohlen meinem geringen Eifer in ihrer Angelegenheit zu. Ich hatte meinerseits auch keinen Grund, sie zurückzuhalten; ich fragte sie daher nur, ob sie das nötige Geld für ihre Reisekosten besäße, und da sagte sie mir, dass auf Verwendung des Hospitalsgeistlichen, welcher ihre trostlose Lage an mehreren Orten geschildert hatte, die in Mannheim lebenden Engländer unter sich einen kleinen Betrag gesammelt hätten, um ihr dadurch die Reise in ihre Heimat zu ermöglichen. In dieser Richtung mit der erhaltenen Auskunft zufrieden, fragte ich sie, ob sie zu Bekannten oder Verwandten nach England zurückkehre. Darauf antwortete sie, sie hätte eine Freundin, welche die Gastfreundschaft selber sei – Lady Janet Roy. Sie können sich meine Überraschung denken, als ich dies hörte; ich fand es nach alledem ganz unnötig, noch irgend etwas weiter zu forschen; woher sie Ihre Tante kannte, oder, ob diese sie erwartete. Meine Fragen schienen sie zu verletzen; wenigstens hörte sie sie mit düsterem Schweigen an. Unter diesen Umständen beschloss ich nun, da ich auf Ihre menschenfreundliche Unterstützung dieses unglücklichen Geschöpfes mit Sicherheit rechnen durfte, die Dame mit einem Brief an Sie zu versehen, und dadurch bei ihrer Ankunft in London Ihrem Schutze zu empfehlen. Sie werden alles von ihr selbst erfahren und besser als ich beurteilen können, ob sie wirklich in irgendwelcher Beziehung zu Lady Janet Roy steht. Nun muss ich Ihnen zum Schluss dieses ungebührlich langen Briefes noch sagen, dass ich, wie schon erwähnt, bei meinem ersten Besuche sie nicht weiter nach ihrem Namen gefragt hatte; bei dem zweiten jedoch konnte ich ihr diese Unannehmlichkeit nicht mehr ersparen.«

Bei diesen letzten Worten gewahrte Julian, wie Lady Janet in plötzlicher Unruhe von ihrem Stuhl leise aufstand und sich hinter ihn stellte, um über seine Achsel hinweg den Brief zu lesen. Er sah die Bewegung gerade noch rechtzeitig, um ihre Absicht zu vereiteln, indem er die letzte Zeilen des Briefes mit der Hand bedeckte.

»Was soll das heißen?« fragte die Tante scharf.

»Sie mögen den Schluss des Briefes für sich lesen«, erwiderte Julian. »Aber vorher muss ich Sie auf eine große Überraschung vorbereiten. Fassen Sie sich und hören Sie den Brief zu Ende; er schließt mit den zwei Worten, welche ich Ihnen dann aufdecken will.«

Er fuhr fort:

»Ich sah der Engländerin scharf in das Gesicht und sagte ihr: Sie haben geleugnet, dass der Name, welcher in Ihrer Wäsche gezeichnet ist, der Ihrige sei. Wenn Sie nun nicht Mercy Merrick heißen, wie heißen Sie sonst? Sie antwortete ohne zu zögern: Ich heiße —«

Julian entfernte die Hand von dem Papier. Lady Janet las die zwei nachfolgenden Worte und fuhr mit einem lauten Schrei des Erstaunens zurück; Horace sprang empor.

»Sagen Sie mir doch eines der Worte«, rief er, »welchen Namen nannte sie?«

Julian sagte es ihm:

»Grace Roseberry.«

5.
Ein Rat von Dreien

Horace stand wie vom Donner gerührt und blickte in maßlosem Erstaunen auf Lady Janet. Als er sich halbwegs gesammelt hatte, wendete er sich zu Julian:

»Soll das ein Scherz sein?« fragte er streng. »Dann sehe ich wahrhaftig keinen Witz darin.«

Julian deutete auf die engbeschriebenen Blätter des Briefes. »Wenn ein Mann mit solcher Weitläufigkeit schreibt«, sagte er, »so wird er dies wohl schwerlich eines Scherzes halber tun. Die Engländerin nannte diesen Namen im vollsten Ernste als den ihrigen und reiste von Mannheim bloß deshalb hierher, um sich Lady Janet Roy vorzustellen.« Er wendete sich zu seiner Tante. »Jetzt wissen Sie und werden es wohl begreifen, warum ich so betroffen war, als sie in meiner Gegenwart zuerst Miss Roseberrys Namen erwähnten. Ihnen«, wendete er sich wieder zu Horace, »sagte ich, Sie hätten als Miss Roseberrys künftiger Gatte einiges Interesse daran, meiner Unterredung mit Lady Janet beizuwohnen; auch Sie verstehen jetzt, weshalb ich dies sagte.«

»Die Person ist offenbar irrsinnig«, sprach Lady Janet; »aber es ist im Augenblick allerdings eine etwas frappante Form von Wahnsinn. Die Sache muss zunächst wenigstens für Grace ein Geheimnis bleiben, das versteht sich.«

»Darüber kann bei ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand gar kein Zweifel sein«, stimmte Horace bei. »Da wäre es wohl auch angezeigt, den Leuten im Hause einzuschärfen, dass, im Falle diese Abenteurerin oder Irrsinnige, was sie sein mag, hierher käme, sie nicht vorgelassen werde.«

»Das kann gleich geschehen«, sagte Lady Janet. »Was mich übrigens überrascht, Julian – bitte, ziehen Sie an der Glocke – ist, dass Sie sich für sie interessieren, wie es in Ihrem Brief heißt.«

Julian antwortete – ohne jedoch an der Glocke zu ziehen: »das tue ich jetzt mehr als je, seitdem ich weiß, dass Miss Roseberry selbst hier bei Ihnen im Hause ist.«

»Sie sind gerade noch so wie als Kind, Julian, stets absonderlich in Ihren Neigungen und Abneigungen«, versetzte Lady Janet. »Warum ziehen Sie nicht die Glocke, wenn ich es Ihnen sage?«

»Aus dem einfachen Grunde, liebe Tante, weil ich nicht will, dass Sie Ihren Leuten den Befehl geben, einem armen, verlassenen Geschöpf die Tür zu weisen.«

Lady Janet warf einen Blick auf ihren Neffen, welcher diesem deutlich sagte, dass er sich ihr gegenüber etwas zu viel Freiheit erlaubt habe.

»Sie werden doch wohl nicht von mir erwarten, dass ich diese Person empfangen soll?« fragte sie in kühlem Tone.

»Im Gegenteile«, antwortete Julian gelassen, »ich hoffe sicher, dass Sie sie empfangen werden. Ich war nicht zu Hause, als sie zu mir kam. Ich muss jedenfalls hören, was sie mir zu sagen hat, und da hörte ich es am liebsten in Ihrer Gegenwart. Auf Ihre Erlaubnis hin, sie bei Ihnen vorzuführen, habe ich sie hierher bestellt.«

Lady Janet blickte in stummer Resignation zu dem Schnitzwerk der Decke empor.

»Wann würde mich die Dame dann wohl mit ihrem Besuche beehren?« fragte sie ironisch.

»Heute«, versetzte ihr Neffe mit unerschütterlicher Ruhe.

»Um wieviel Uhr?«

Julian sah gelassen auf die Uhr. »Es sind schon zehn Minuten über die verabredete Stunde«, sagte er und steckte die Uhr wieder ein.

Im selben Augenblicke trat ein Diener ein und überreichte ihm auf einem Silberteller eine Visitkarte.

»Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, gnädiger Herr!«

Julian nahm die Karte und übergab sie mit einer Verbeugung Lady Janet.

»Da ist sie«, sagte er stets mit derselben Ruhe.

Lady Janet las die Karte – und stieß sie unwillig ihrem Neffen wieder hin. »Miss Roseberry«, rief sie aus. »Da steht es deutlich gedruckt auf der Karte. Hören Sie, Julian, auch meine Geduld hat ihre Grenzen. Ich will sie nicht sehen.«

Der Diener stand noch in Erwartung einer Antwort da; er nahm an dem, was vorging, keinen Anteil, wie andere menschliche Wesen, sondern verhielt sich, wie es gut dressierten Bedienten zukommt, ganz wie irgend ein Möbel, welches mittelst einer kunstvollen Vorrichtung auf Befehl kommt und geht. Julian redete diesen wunderbar konstruierten Automaten mit »James« an.

»Wo wartet die Dame?« fragte er.

»In dem Frühstückszimmer, gnädiger Herr.«

»Gut. Sie bleiben in der Nähe, bis wir Sie rufen.«

Die Beine dieses Bedientenmöbels setzten sich in Bewegung und trugen ihn geräuschlos hinaus. Julian wendete sich zu seiner Tante.

»Verzeihen Sie, dass ich mir erlaubte, in Ihrer Gegenwart dem Diener Befehle zu geben. Ich fürchte jedoch, Sie könnten sonst zu vorschnell entscheiden, und es ist doch sicherlich nicht mehr als recht und billig, dass wir hören, was uns die Dame zu sagen hat.«

Horace war ganz anderer Ansicht.

»Wir beleidigen damit Grace«, rief er erregt aus, »wenn wir sie anhören.«

Lady Janet war ganz mit ihm einverstanden. »Das finde ich auch«, sagte sie mit einem Kopfnicken und schlang dabei entschlossen ihre hübschen, obgleich etwas verwelkten Hände ineinander.

Julian antwortete zuerst auf Horaces Äußerung.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »dies hat noch gar keinen Bezug auf Miss Roseberry, und wird sie auch nicht im Geringsten in diese Angelegenheit verwickeln. Wenn Sie sich erinnern«, fuhr er zu seiner Tante gewendet fort, »erwähnt mein Freund in seinem Briefe der geteilten Ansichten, welche unter den Ärzten Mannheims in Betreff dieser Kranken bestanden. Einige – und darunter auch der Oberarzt – glauben, dass ihr Körper zwar, aber ihr Geist nicht geheilt ist.«

»Mit anderen Worten«, bemerkte Lady Janet, »ich soll eine Irrsinnige in meinem Hause empfangen!«

»Sie dürfen nicht übertreiben«, sagte Julian sanft. »In dieser ernsten Angelegenheit kann dadurch nur Unheil entstehen. Der Konsul gibt, von dem Doktor dazu autorisiert, die Versicherung, dass sie ganz ruhig und ungefährlich sei. Leidet sie an Geistesstörung, so hat sie darum noch mehr Anspruch auf unsere Teilnahme und wir sollten ihr gerade deshalb die nötige Pflege zuteil werden lassen. Ihr eigenes gutes Herz, teuere Tante, wird es ihnen schon sagen, dass es eine Grausamkeit wäre, dieses unglückliche Wesen so ohneweiters in die Welt hinauszustoßen.«

Lady Janets natürliches Gerechtigkeitsgefühl konnte allerdings gegen diese vernünftige, rein menschliche Ansicht nichts einwenden. »Es ist wohl etwas Wahres daran«, sagte sie und rückte unbehaglich in ihrem Stuhle hin und her. »Meinen Sie nicht auch, Horace?«

»Ich kann das nicht finden«, antwortete dieser in dem bestimmten Tone eigensinniger Beharrlichkeit, welche durch nichts zu erschüttern war.

Julian besaß jedoch ebenso viel Geduld als Horace Eigensinn; und nahm mit unveränderter Gelassenheit das Gespräch wieder auf. »Jedenfalls ist es für uns alle gleich wünschenswert, die Sache einschlafen zu lassen. Die Umstände sind uns in diesem Augenblicke so günstig als möglich, Lady Janet. Miss Roseberry ist sogar vom Hause abwesend; wenn wir uns diese Gelegenheit, wie wir sie uns nicht besser wünschen könnten, entgehe lassen, wer weiß, was für Unheil uns die nächste Zukunft bringen kann?«

»So lassen Sie die Person hereinkommen«, entschied Lady Janet rasch; denn das Zögern war ihr unerträglich. »Aber gleich, Julian – ehe Grace zurückkehrt. Wollen Sie diesmal wohl die Glocke ziehen?«

Julian tat es. »Soll ich dem Diener den Auftrag geben?« fragte er ehrerbietig.

»Tun Sie, was Sie wollen, und fragen Sie mich nicht weiter!« versetzte die alte Dame ziemlich gereizt, indem sie rasch aufstand und ein paarmal im Zimmer auf und ab ging, um ihre Erregung zu verbergen.

Der Diener verschwand, um die Fremde einzulassen.

Zugleich schritt Horace quer über das Zimmer – offenbar in der Absicht, dasselbe durch die gegenüberliegende Tür zu verlassen.

»Sie wollen doch nicht fortgehen?« rief Lady Janet.

»Allerdings, ich sehe nicht ein, weshalb ich her bleiben sollte«, erwiderte Horace mürrisch.

»Wenn dem so ist, so verlange ich es direkt von Ihnen, dass Sie hier bleiben.«

»Dann muss ich allerdings. Nur bitte ich Sie, nicht zu vergessen«, fügte er hartnäckig hinzu, »dass ich Julians Ansicht durchaus nicht teile. Von mir aus hat sie kein Recht, irgendetwas von uns zu beanspruchen.«

Julian konnte diesmal seine Gereiztheit nicht unterdrücken.

»Seien Sie nicht hartherzig, Horace«, sagte er scharf. »Jede Frau kann von uns Schonung beanspruchen.«

Sie waren im Eifer des Gespräches unwillkürlich nahe zusammengetreten und standen mit dem Rücken gegen die Tür des Bibliothekszimmers gekehrt. Bei den letzten Worten hatte das Geräusch des Öffnens und Schließens einer Tür ihre Aufmerksamkeit wieder auf den ursprünglichen Gegenstand ihrer Debatte zurückgeführt. Wie mit einem Schlage wendeten sich alle drei nach der Richtung um, aus welcher der Schall kam.

6.
Die Tote lebt

An der Tür stand eine kleine, unscheinbare Frauengestalt, in ärmliche, schwarze Kleider gehüllt. Sie schlug schweigend den schwarzen Schleier zurück und enthüllte ein trauriges, bleiches und abgezehrtes Antlitz. Die breite, niedrige Stirn, die ungewöhnlich weit auseinander liegenden Augen, und die besondere Zartheit der unteren Gesichtsteile verliehen der Erscheinung einen Reiz, wodurch sie, wenn auch nicht absolut schön, aber in gesundem Zustande, wie der Konsul in Mannheim geschrieben hatte, höchst anziehend zu nennen war. Jetzt trug ihr Gesicht den Stempel überstandener Leiden – schwerer Leiden. So wie sie jetzt aussah, konnte sie wohl Aufmerksamkeit und Neugierde, niemals aber Bewunderung oder tieferes Interesse erregen.

Unbeweglich stand die schwächliche, schwarze Gestalt mit dem bleichen, abgezehrten Gesicht an der Tür und blickte schweigend auf die drei Personen im Zimmer.

Diese standen einen Augenblick regungslos, die Augen fest auf die fremde Erscheinung geheftet, deren Anblick jedoch – vielleicht war es auch die plötzliche, unheimliche Art ihres Eintretens – jedes wärmere Gefühl für sie verscheuchte. Lady Janet und ihre beiden Begleiter hatten von jeher viel mit Menschen verkehrt, und sich in jeder Lage des sozialen Lebens leicht und gut zu benehmen gewusst; jetzt waren sie zum ersten Male wieder seit ihren Kinderjahren durch das Zusammentreffen mit einem fremden Wesen in die peinlichste Verlegenheit versetzt.

War durch das Auftreten der wahren Grace Roseberry in ihnen der Verdacht rege geworden, dass die falsche ihren Namen erstohlen und die Stellung, in der sie sich befand, durch einen Betrug erworben hatte?

Nicht die leiseste Ahnung davon lag in dem unbehaglichen Gefühl, welches sie bis jetzt insgesamt ihre sonstige Artigkeit und Geistesgegenwart vergessen ließ. Die Identität der Adoptivtochter des Hauses zu bezweifeln, wäre ihnen gerade so wenig in den Sinn gekommen, als es dem Leser einfallen würde, die seines nächsten, teuersten Verwandten in Frage zu stellen. Mercy besaß als erste Inhaberin ihrer Stelle den mächtigsten Vorteil, welchen ihr die Verhältnisse gewähren konnten; die älteren Beziehungen zu ihr und das Gewohnte ihrer Existenz verteidigten sie mit unbesiegbaren Waffen. Nicht um eines Haares Breite vermochte das erste Erscheinen der wahren Grace Roseberry die Stellung der falschen Grace bei den Bewohnern von Mablethorpe-House zu erschüttern. Lady Janet, Julian und Horace, alle fühlten sich von jenem sonderbaren Wesen abgestoßen, aber keines wusste eigentlich, weshalb. Sie hätten in diesem Augenblicke ihre innerste Stimmung nicht leicht beschreiben können; aber jedes empfand, dass sich mit der schwarzgekleideten Gestalt auch das unbestimmte Vorgefühl eines bevorstehenden Unglückes in das Zimmer eingeschlichen hatte. Es regte sich unsichtbar und redete, aber in unverständlicher Sprache.

Es entstand eine momentane Stille. Nur das Knistern des Feuers und das Ticken der Uhr wurde im Zimmer gehört.

Die Fremde unterbrach zuerst mit einer harten, aber klaren, ruhigen Stimme das Schweigen.

»Mister Julian Gray?« sagte sie mit einem fragenden Blick auf beide Herren.

Julian gewann sogleich seine Selbstbeherrschung wieder und näherte sich ihr. »Ich habe sehr bedauert, Sie verfehlt zu haben, als Sie mir den Brief des Konsuls überbrachten«, sagte er. »Bitte, setzen Sie sich.«

Lady Janet ging ihr darin mit dem Beispiele voran, indem sie sich in einiger Entfernung niederließ, während Horace neben ihr stehen blieb. Sie verbeugte sich mit steifer Höflichkeit gegen die Fremde, ohne jedoch ein Wort zu sprechen. »Ich muss dies Wesen wohl anhören«, dachte sie, »aber ich brauche nicht mit ihr zu sprechen. Das ist Julians Sache.«

»Setzen Sie sich nieder, Horace, Ihr Stehen macht mich nervös.« Dann verschlang sie, wie es ihre Gewohnheit war, die Arme und harrte so in absichtlichem Schweigen der kommenden Ereignisse, wie der Richter gegenüber dem Angeklagten.

»Wollen Sie sich nicht setzen?« wiederholte Julian, da er sah, dass die Fremde seine erste Aufforderung nicht beachtet hatte.

Diesmal verstand sie ihn. »Ist diese Dame Lady Janet Roy?« frug sie mit einem starren Blick auf die Herrin des Hauses.

Julian bejahte die Frage und beobachtete, etwas seitwärts tretend, den Erfolg seiner Antwort.

Jetzt veränderte auch die ärmliche schwarze Gestalt zum erstenmale ihre Stellung und schritt langsam zu Lady Janet hinüber. Ihre bisherige Stellung war, obgleich durchaus bescheiden und anspruchslos, doch voll Vertrauen bezüglich der Art ihrer Aufnahme gewesen. So wendete sie sich nun ehrerbietig zu ihrer erwarteten Beschützerin und sagte: »Mein Vater hat mich auf seinem Sterbebette Ihrem Schutze und Ihrer Güte empfohlen.«

Lady Janet betrachtete es nicht als ihre Aufgabe, der Sprecherin zu antworten; sie horchte aufmerksam, aber mit hartnäckigem Schweigen auf ihre Rede.

Grace Roseberry trat einen Schritt zurück; dieses Benehmen hatte sie zwar nicht eingeschüchtert, aber doch gekränkt und überrascht. »Hat sich mein Vater darin geirrt?« fragte sie einfach, aber dabei mit so viel Würde, dass Lady Janet nicht umhin konnte, ihre stumme Rolle aufzugeben.

»Wer war Ihr Vater?« fragte sie kalt.

Grace war durch diese Frage höchlichst überrascht.

»Hat Ihnen denn der Diener nicht meine Karte übergeben?« fragte sie. »Kennen Sie meinen Namen nicht?«

»Welchen?« versetzte Lady Janet.

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich werde mich Ihnen gleich verständlich machen. Wenn Sie mich fragen, ob ich Ihren Namen kenne, so muss ich vorerst wissen, welches wirklich der Ihrige ist: der auf der Karte – Miss Roseberry – oder jener, womit ihre Kleider im Hospital gezeichnet waren – Mercy Merrick?«

Die Selbstbeherrschung schien Grace in diesem Augenblicke zum erstenmale verlassen zu wollen. Sie wendete sich hilfesuchend nach Julian um, welcher abseits stehend aufmerksam alles mitangehört hatte.

»Gewiss hat Ihnen Ihr Freund davon geschrieben?« sagte sie.

Bei diesen Worten klang die kindische Unsicherheit und Schüchternheit wieder, welche schon damals bei der Unterredung mit Mercy an ihrem Benehmen aufgefallen war. Die überstandenen Leiden hatten arg in ihr gewühlt und sie zu ihrem Nachteil verändert, allein für den Augenblick trat alles dies zurück gegenüber der stehenden Gebärde, mit der ihr ursprünglich einfaches gutes Wesen sich an Julian wendete. Bis dahin war sie ihm abstoßend erschienen; jetzt zwang sie ihm ein teilnehmendes Interesse ab.

»Der Konsul hat mir allerdings das mitgeteilt, was er von Ihnen gehört hat«, antwortete er freundlich; »allein wenn Sie meinem Rate folgen wollen, so erzählen Sie Lady Janet Ihre Geschichte selbst.«

Wiederum wendete sich Grace mit ängstlicher Unterwürfigkeit zu ihr.

»Die Kleider, von denen Sie sprachen, Lady Janet, gehörten einer anderen. Ich ward bei strömendem Regen von den Soldaten an der Grenze aufgehalten, nachdem ich demselben mehrere Stunden lang ausgesetzt gewesen. – Ich war ganz durchnässt; da lieh mir denn die Eigentümerin jener mit »Mercy Merrick« gezeichneten Kleider die ihrigen, bis die meinigen getrocknet waren. Die Granate traf mich in den Kleidern der Fremden, und so wurde ich auch nach der an mir vorgenommenen Operation fortgebracht.«

Lady Janet spielte ihre Rolle als Hörende mit Vollendung, aber mehr tat sie nicht. Sie wendete sich in ihrer graziös ironischen Weise zu Horace und sagte: »Sie hat ihre Berichte gut vorbereitet.«

Horace stimmte ihr mit einem: »Schon fast zu gut« bei.

Graces Blick wanderte zwischen beiden hin und her; zum erstenmale flog ein schwaches Rot über ihr bleiches Gesicht.

»Wollen Sie mir dadurch Ihr Misstrauen in meine Worte zu erkennen geben?« fragte sie mit stolzer Ruhe.

Lady Janet verharrte in Schweigen und deutete nur mit einer Handbewegung auf Julian, an welchen sie ihre Fragen richten sollte, da dieser sich zu ihrem Beschützer aufgeworfen. Er bemerkte auf beiden Seiten die Symptome wachsender Erregung und trat sogleich als Vermittler dazwischen.

»Sie haben auf die von Lady Janet eben an Sie gestellte Frage, wer Ihr Vater war, noch nicht geantwortet«, sagte er.

»Mein Vater war der verstorbene Oberst Roseberry.«

Lady Janet sah entrüstet nach Horace hin. »Ihre Zuversicht setzt mich wirklich in Erstaunen!« rief sie aus.

Julian schnitt ihr jede weitere Rede ab. »Lassen Sie sie ausreden«, sagte er in bittendem und doch beinahe befehlendem Tone. Er fuhr zu Grace gewendet milder fort: »Können Sie es irgendwie beweisen, dass Sie die Tochter des Obersten Roseberry sind?«

Grace war empört. »Beweisen!« wiederholte sie. »Ist denn mein Wort nicht genug?«

Julian hatte sie vollkommen in seiner Gewalt. »Entschuldigen Sie«, versetzte er, »Sie müssen berücksichtigen, dass Lady Janet Sie heute zum erstenmale überhaupt sieht. Denken Sie sich nur in ihre Lage; wie soll sie wissen, dass Sie auch wirklich die Tochter des verstorbenen Oberst Roseberry sind?«

Grace verlor ihre sichere Haltung und sank auf den nächsten Stuhl. Ihr Gesicht drückte jetzt statt, wie vorhin, Unwille gänzliche Entmutigung aus. »O«, rief sie schmerzlich aus, »wären mir meine Briefe nicht gestohlen worden!«

»Briefe«, fragte Julian, »welche Sie Lady Janet empfehlen sollten?«

»Ja.« Sie wendete sich plötzlich zu ihr und rief zum erstenmale in beschwörendem Tone: »Hören Sie nur, auf welche Art ich darum gekommen bin.«

Lady Janet wurde schwankend; ihr gutes, edles Herz konnte sich gegen diese dringende Bitte nicht verschließen. Horace dagegen war nicht so leicht zu rühren. Er blickte mit komischer Unterwerfung auf sie und rief höhnisch aus: »Da bekommen wir noch einen Bericht zu hören!«

Julian fing diese Worte auf und strafte ihn dafür mit einem verächtlichen Blick aus seinen großen, glänzenden Augen.

»Wenigstens sollten Sie es vermeiden, sie zu reizen«, sagte er streng. Dann wendete er sich wieder an Grace und sagte, sichtlich bemüht, sie aus der unangenehmen Lage zu befreien: »Lassen Sie sich dadurch nicht irre machen; haben Sie übrigens, in Ermangelung der Briefe, niemand hier in London, der Ihre Identität bestätigen könnte?«

Grace schüttelte traurig den Kopf und sagte: »Nicht einen Menschen.«

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