Kitabı oku: «Herz und Wissen», sayfa 20
Capitel XLII
Das Schulzimmer hatte sein gewöhnliches Aussehen verloren. Das Zimmermädchen, welches zeitweilig mit der Autorität hier betraut war, saß schweigend bei ihrer Näharbeit Maria stand in der neuen Rolle eines Faulenzers am Fenster, das Taschentuch in der Hand, während das von ihr unzertrennliche Buch unbeachtet am Boden lag. Zo lag auf der Kamindecke platt aus dem Rücken und hielt den Hund liebkosend im Arm; hin und wieder drehte sie sich von einer Seite zur andern und blickte mit wundernden Augen zur Decke auf. Der Fortgang Miß Minerva’s hatte das Zimmermädchen stumm gemacht und ihre beiden Schülerinnen gleichsam versteinert.
»Wo wohl Carmina sein mag«, brach Maria endlich das Schweigen.
»Wahrscheinlich auf ihrem Zimmer«, meinte das Mädchen.
»Ob ich wohl einmal nach ihr sehen sollte?«
Das vorsichtige Zimmermädchen vermied es, ihr einen Rath zu geben, und Maria’s Gleichgewicht war so vollständig gestört, daß sie mit fragender Neugier ihre Schwester ansah, die noch langsam von einer Seite zur andern rollte, und vielleicht auf diese Weise instinctiv versuchte, das träge Gewicht ihrer Gedanken in Bewegung zu bringen. Eingelullt durch die regelmäßige Bewegung, war der Hund auf ihrer Brust in tiefen Schlaf verfallen, der nicht einmal durch einen Traum von kleinen Feinden gestört wurde.
Während Maria noch überlegte, trat Carmina die, wie das Mädchen sie später beschrieb, aussah »Wie Jemand, der aus »dem Häuschen ist«, in’s Zimmer. Maria gab dem Gefühle des Schulzimmers dadurch Ausdruck, daß sie in feierlichem Schweigen ihr Taschentuch an die Augen führte. Carmina nahm indessen keine Notiz von dieser Kundgebung sondern ging auf das Stubenmädchen zu und fragte: »Haben Sie Miß Minerva gesehen, ehe sie fortging?«
»Ja, sie beauftragte mich mit ihrer Bestellung.«
»Mit welcher Bestellung?«
»Daß sie die gnädige Frau auf einen Augenblick zu sprechen wünschte.«
»Nun?«
»Ich mußte sie in die Bibliothek führen, wohin sie sich vollständig zum Ausgehen angekleidet begab. Nachdem sie kaum fünf Minuten bei der gnädigen Frau gewesen war, kam sie wieder heraus, zog die Flurglocke und sagte dann zu Joseph: »Meine Sachen sind gepackt und adressiert, in einer Stunde werde ich sie abholen lassen. Adieu, Joseph.« Dann ging sie so ruhig aus dem Hause, als ob sie nur eine Besorgung um die Ecke herum machen wollte.«
»Sind die Sachen abgeholt?«
»Ja, Miß.«
Carmina hob den Kopf und fragte sicherer: »Wohin sind dieselben gebracht?«
»Nach dem Blumenladen hier hinter uns, von wo sie später wieder abgeholt werden sollen.«
»Ist keine andere Adresse angegeben?«
»Nein.«
Damit schwand bei Carmina die letzte schwache Hoffnung, Frances’ Aufenthalt ausfindig zu machen, und sie wollte traurig das Zimmer wieder verlassen, als Zo sie von der Kamindecke her mit Namen rief. Mit ihrer gewohnten Freundlichkeit gegen die kleine ging sie zu derselben und fragte: »Nun, Zo, was willst Du?«
Das Kind stand auf und sagte: »Ich habe über diese Gouvernante nachgedacht. Weißt Du noch, daß ich Dir einmal sagte, daß ich fortlaufen wollte – ihretwegen? Still! Nun kommt das, was ich nicht verstehen kann – sie ist von mir fortgelaufen. Ich trage ihr nichts nach, ich freue mich nur so bei mir. Nun ist es vorbei mit den ewigen schmutzigen Nägeln und mit Brod und Wasser statt des Thees – das ist Alles Adieu.« Damit legte sie sich wieder auf die Decke, und auch der Hund nahm seinen Platz, wieder ein, während Carmina nach ihrem Zimmer zurückging – um über das, was sie von dem Stubenmädchen gehört hatte, nachzudenken.
Es war nun klar, daß ihrer Tante nicht die Genugthuung geworden war, die Gouvernante plötzlich zu entlassen, sondern letztere war unzweifelhaft von selbst gegangen. Soweit vermochte Carmina klar zu denken – weiter aber nicht. Das wirre Gefühl hilflosen Jammers, das sie nach den wenigen Abschiedszeilen Frances’ überkommen hatte, lastete noch auf ihrem Gemüthe. Für Augenblicke verstand sie die treibenden Beweggründe ihrer unglücklichen Freundin wohl unbestimmt, dann aber folgten wieder Momente, wo sie eine impulsive Bitterkeit über die Handlung empfand, die sie gerade jetzt, da sie der ermuthigenden Sympathie einer festeren Natur am meisten bedurfte, sich selbst überließ. Zweifel begannen sich in ihr zu erheben an der Standfestigkeit ihres Entschlusses, wenn Frances ihr am Morgen ihrer Flucht nicht Lebewohl sagte; und zum ersten Male quälte sie jetzt ein Mißtrauen in Bezug auf die von Ovid zu erwartende Aufnahme, eine Furcht, daß er möglichenfalls ihre Kühnheit mißbilligen und vielleicht gar für seine Mutter Partei nehmen könnte. Wirt und unstät warf sie sich auf’s Sofa, bitter gegen Frances – gleichgültig dagegen, ob sie lebte oder stürbe.
Zum Diner ließ sie sich entschuldigen, und sofort kam Mrs. Gallilee, herber und kälter als je, um sich nach der Kranken zu erkundigen; da dieselbe aber keine directe Nöthigung sah, nach Mr. Null zu schicken, so verließ sie das Zimmer wieder mit der Anweisung, Carmina möge klingeln, wenn sie etwas brauchte.
Nach einiger Zeit stellte sich dann Mr. Gallilee ein, mit einem Rest Wein, den er unter dem Rocke verborgen, und einer Auswahl Torte, die er in die Tasche gesteckt hatte. »Geschmuggelte Waren, liebes Kind«, flüsterte er; »habe sie erwischt, wenn gerade Niemand hersah. Wenn man elend ist, Carmina, so ist es ein Zeichen von der gütigen Vorsehung, daß wir zum Essen und Trinken bestimmt sind. Der Sherry ist alt, und die Torte schmilzt einem förmlich im Munde. Soll ich bei Dir bleiben? Du möchtest es lieber nicht? Das ist auch meine Meinung; wir stimmen merkwürdig überein, nicht wahr? Die arme Miß Minerva thut mir leid. Du thätest wohl am besten, wenn Du zu Bett gingest?«
Carmina war aber nicht in der Stimmung, diesen Rath zu befolgen. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab, als die Zeit kam, wo das Haus geschlossen wurde. Durch den Ton von dem Schließen der Schlösser und Riegel tönte plötzlich ein scharfes Klingeln und bald darauf stattete Mr. Gallilee ihr zum zweiten Male einen Besuch ab. Er war wie umgewandelt, sein rundes Gesicht glühte und er sah wirklich aus, als ob er doch noch einer heftigen Erregung fähig wäre, die nicht mit Champagner und dem Club in Verbindung stände. Er überreichte Carmina ein Telegramm, und als er sprach, klang die Erregung aus seiner pfeifenden Stimme.
»Liebes Kind – etwas sehr Unangenehmes. Ich traf Joseph, wie er dies zu meiner Frau bringen wollte. Höchst unpassend meiner Ansicht nach – was sagst Du dazu? – ein Telegramm, das an Dich adressiert ist, zu Deiner Tante zu bringen. Es war kein Irrthum; er hatte die Unverschämtheit, zu erklären, daß es ihm befohlen sei. Ich habe ihm den Kopf zurechtgesetzt.« Als er dies aussprach, schien er über sich selbst zu staunen – dann verfiel er wieder in seine gewohnte süße Laune. »Doch keine schlechte Nachricht?« fragte er besorgt.
»Nein, gute! Die beste Nachricht von der Welt!« antwortete sie Ungestüm, worauf Mr. Gallilee ein so glückliches Gesicht machte, als ob er selbst das willkommene Telegramm bekommen hätte. Als er aber dann fortging, wandten sich seine Gedanken wieder dem Vertrauensbruch des Bedienten zu und er sagte —« ja, sagte wirklich, ohne an Jemanden zu appellieren – »infamer Bursche!«
Das Telegramm war von Teresa und in Paris aufgegeben; es lautete: »Zu müde, um den Nachtzug nach England zu benutzen. Werde morgen mit dem Frühzuge fahren und um sechs Uhr bei Dir sein.«
Carmina war gerade in der Gemüthsverfassung um bei der Aussicht, die liebe alte Freundin ihrer glücklichsten Tage wiederzusehen, eine unvermischte Freude zu empfinden. Sie dachte mit keinem Gedanken an den, durch die dem Bedienten ertheilte Anweisung an den Tag gekommenen Versuch ihrer Tante, irgend etwas von einem vermutheten Verkehr zwischen Miß Minerva und ihr aufzufangen. Für diese Nacht war es genug, zu wissen, daß sie nicht ganz freundlos war. Keine Befürchtung in Bezug auf das, was auf Teresa’s Rückkehr folgen mochte, beunruhigte sie, als sie den Kopf auf’s Kissen legte. Ihr Muth war wieder aufgelebt; sie fühlte sieh wieder im Stande, (mit Hilfe ihrer alten Amme) das Wagniß der Flucht zu unternehmen. Jetzt, in ruhigerer Gemüthsverfassung, konnte sie auch sehen, daß das Opfer Frances’ der Sympathie und Bewunderung würdig war und liebende Ergebung und Nachsicht von ihr beanspruchte. Wie tapfer hatte die arme Gouvernante die Eifersucht, die sie gequält, beherrscht; wie hochherzig Carmina’s wegen Carmina’s Freundschaft entsagt!
Der nächste Tag – der wichtige Dienstag des Vortrages über die Materie; der freudevolle Tag der Ankunft Teresa’s – brachte specielle Anforderungen an Carmina’s Feder mit sich.
Ihr erster Brief war an Frances gerichtet; derselbe war freimüthig und ernst geschrieben, beschwor Miß Minerva, einen Ort zu bestimmen, wo sie sich treffen könnten, und versicherte derselben in den zärtlichsten Ausdrücken, daß eine treue Freundin sie noch liebte, bewunderte und ihr vertraute. Diesen Brief brachte das Stubenmädchen sofort nach dem Blumenladen und steckte ihn unter den Riemen eines der Koffer, die noch nicht abgeholt waren.
Der zweite Brief war viele Seiten lang und nahm den Rest des Morgens in Anspruch. In demselben setzte Carmina ihrem Verlobten die ernsten Gründe auseinander, die sie gezwungen hätten, sich der Obhut seiner Mutter zu entziehen. Gezwungen, endlich zu ihrer Selbstvertheidigung zu sprechen, fühlte sie, daß Verheimlichungen und Vertuschungen sowohl Ovids, als ihrer selbst gleich unwerth sein würden. Sie wiederholte, was sie bereits an Teresa geschrieben hatte, mit der Modification, daß sie sich nachsichtig über seine Mutter aussprach. Die Schlußworte waren ihres edlen, gerechten und hochherzigen Charakters würdig.
»Du wirst nun vielleicht sagen: »Warum erfahre ich denn jetzt erst von Allem, was Du gelitten hast?« Geliebter, es hat mich gedrängt, es Dir zu sagen; ich habe sogar die Feder zur Hand genommen, um anzufangen, aber ich dachte an Dich, und legte sie wieder fort. Wie selbstisch, wie grausam wäre es gewesen, wenn ich Deine Genesung dadurch gehindert hätte, daß ich Dir Kummer und Unruhe bereitet, wenn ich Dich vielleicht veranlaßt hätte, nach England zurückzukehren, ehe Du wiederhergestellt warst! Ich bedaure keineswegs die Anstrengung, die es mich gekostet hat, zu schweigen. Indem ich an Dich schreibe, ist mein einziger Kummer, daß ich von Deiner Mutter in Ausdrücken sprechen muß, die sie vielleicht in der Achtung ihres Sohnes herabsetzen.«
Das Mädchen brachte Carmina das Luncheon auf ihr Zimmer, da die Hausherrin noch bei ihren Studien und der Herr in den Club gegangen war. Die beiden Mädchen hatten gegenwärtig keinen andern Unterricht, als den des Musiklehrers. Wenn aber erst der Vortrag und die Discussion hinter ihr lag, wollte Mrs. Gallilee selbst so lange Miß Minerva’s Stelle einnehmen, bis eine neue Gouvernante gefunden war. Nun bewiesen Maria und Zo einmal eine schwesterliche Aehnlichkeit in ihren Gefühlen, so daß es schwer zu sagen war, welche von ihnen dem Unterrichte ihrer gelehrten Mutter mit dem größten Entsetzen entgegensah.
Carmina hörte sie, während sie aß, am Piano. Als sie dann in ihr Schlafzimmer ging, um sich zu ihrer täglichen Ausfahrt fertig zu machen, hörte die Profanisierung der Musik auf. Sie nahm den Brief, der gehörig verschlossen und mit der Marke versehen war, mit, damit derselbe mit den etwa unten in dem Korbe im Flur befindlichen nach der Post geschickt würde. Das Schreiben an Ovid hatte sie bei dem schwachen Zustande ihrer Nerven aber doch sehr angegriffen, so daß ihr das Herz unruhig schlug und ihr die Kniee zitterten, als sie die Treppe hinabging.
In der Halle sah sie einen Mann langsam auf- und abgehen, der sich, als sie vorkam, umwandte, und ihr das abscheuliche Gesicht Mr. Le Franks zeigte.
Dem Musiklehrer war bei dem vergeblichen Warten auf eine Gelegenheit, um noch einmal in ihrem Zimmer Nachsuchung zu halten, endlich die Geduld ausgegangen. Sein hungriger Argwohn hatte in dieser Zwischenzeit von sich selbst zehren müssen; die Motive jenes unverständlichen Versuches, ihn gut Freund zu machen, der so sonderbar von einer unglücklichen Einladung zum Händedruck begleitet gewesen, waren für ihn tief wie je in Dunkel gehüllt. Ein Opfer widriger Umstände, hatte sich Mr. Le Frank (mit dem größten Widerstreben) entschlossen, auf geradem Wege auf sein Ziel loszugehen und anstatt sich heimlich aus Carmina’s Tagebuche und Briefen Auskunft zu holen, Carmina selbst offen um Aufklärung anzugehen.
In den Schuhen eines Ehrenhaften präsentierte er sich indeß in sehr nachtheiligem Lichte. Er war seiner herrlichen Stimme nicht Meister und es fehlte ihm die Ruhe, die zu der vollendeten Ausführung seiner prächtigen Verbeugung unerläßlich war.
»Ich habe gewartet, um vor Ihrer Ausfahrt ein Wort mit Ihnen zu sprechen«, begann er ohne Weiteres.
Carmina, die bereits erschüttert gewesen war, ehe sie ihn überhaupt gesehen, und nun das peinliche Bewußtsein hatte, bei ihrer letzten Begegnung dadurch einen ernsten Fehler begangen zu haben, daß sie überhaupt mit ihm gesprochen, antwortete weder, noch sah sie ihn an, sondern ging, verwirrt den Kopf senkend, der Hausthür zu.
Sofort machte er eine Bewegung, ihr den Weg zu vertreten. »Ich muß Sie ersuchen, sich in’s Gedächtniß zurückzurufen, was bei der zufälligen Begegnung vor einiger Zeit vorfiel«, fuhr er fort.
Während er aber darauf gerechnet hatte, sie in Furcht zu setzen, gab ihr seine Unverschämtheit ihr volles Selbstgefühl wieder. »Lassen Sie mich gefälligst vorbei«, sagte sie, »der Wagen wartet auf mich.«
»Der kamt dreist noch etwas länger warten«, antwortete er roh. »Bei der fraglichen Gelegenheit waren Sie so gütig, mir ein Entgegenkommen zu beweisen, von dem ich nicht wüßte, daß ich einen Anspruch darauf hätte. Vielleicht werden Sie mir die Gunst erweisen, mir Ihre Beweggründe zu erklären?«
»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr.«
»O ja – das thun Sie doch!«
Sie trat zurück und legte die Hand an den nach der Küche unten gehenden Glockenzug. »Muß ich klingeln?« fragte sie.
Es war klar, daß sie es thun würde, wenn er ihr noch einen Schritt näher käme, und so trat er mit einem Blicke, welcher sie zittern machte, zur Seite. Als sie an dem Flurtische vorbeikam, legte sie den Brief in den Briefkorb. Seine Augen folgten demselben und er wurde plötzlich reumüthig und höflich. »Es thut mir leid, wenn ich Sie beunruhigt habe«, sagte er und öffnete ihr die Hausthür, ohne sich dem Kutscher und dem Mädchen draußen zu zeigen.
Als der Wagen abgefahren war, schloß der Musiklehrer wieder leise die Hausthür, ging dann an den Flurtisch und sah in den Korb.
War eine Entdeckung durch irgend Jemanden von der Dienerschaft zu besorgen? Der Bediente begleitete seine Herrin zu der Vorlesung, und von den Mädchen war keins oben. So nahm er Carmina’s Brief heraus und las die Adresse: »Herrn Doctor Ovid Vere.«
Er blinzelte verstohlen mit den Augen, sein ausgezeichnetes Gedächtniß für Beleidigungen erinnerte ihn daran, wie Doctor Ovid Vere versucht hatte, Mrs. Gallilee davon zurückzuhalten, daß sie ihn als Musiklehrer engagiere. Seine rachsüchtige Natur schmiedete sofort ein zartes Bindeglied zwischen seinem Hasse gegen die Person, für die der Brief bestimmt war, und dem Interesse, das er daran hatte, denselben zur Entdeckung der Geheimnisse Carmina’s zu stehlen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß hinreichend Zeit war, das Couvert zu öffnen und (falls sich der Inhalt als unwichtig für ihn herausstellen sollte) es wieder zu schließen und selbst zur Post zu bringen. Nachdem er sich noch einmal umgesehen, steckte er den Brief in die Tasche und ging unbemerkt aus dem Hause.
Auf dem Nachhausewege kam dem Wagen Carmina’s eine Droschke in so rasendem Tempo entgegen, daß es um ein Haar zu einem Zusammenstoße gekommen wäre. Das Mädchen schrie vor Schrecken laut auf, Carmina wurde bleich, und der Kutscher gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, warum der Insasse der Droschke es wohl so eilig hätte. Dieser Insasse war der erste Schreiber Mr. Mool’s und auf dem Wege zu Doctor Benjulia.
Capitel XLIII
Als Carmina am Sonntag das Haus des Rechtsanwalts verlassen hatte, waren demselben ernste Besorgnisse gekommen. Ihr aufgeregtes Wesen, ihre sonderbaren Fragen und dann der plötzliche Abschied riefen in ihm die Vermuthung hervor, daß sie sich mit irgend einem ungewöhnlichen Plane trüge, vielleicht sogar mit dem Gedanken an Flucht. Für jeden Anderen wäre es nun wohl das Nächste gewesen, Mrs. Gallilee diese Vermuthungen mitzutheilen; dem Rechtsanwalt stand aber jene Szene in seinem Büreau noch zu lebhaft vor Augen; das Vergnügen, mit welchem Mrs. Gallilee das Andenken der Mutter Carmina’s zu beschmutzen versucht, hatte ihn so angeekelt und entsetzt, daß er vor dem Gedanken, noch fernerhin irgendwie mit derselben zu verkehren, zurückschrak, mochte es sich auch um eine noch so dringende Sache handeln. Da es übrigens möglich war, daß Carmina sich nach dem Vorgefallenen zu einer schriftlichen Erklärung verpflichtet fühlen mochte, so entschloß er sich, bis zum nächsten Morgen zu warten.
Am Montag Morgen kam indeß kein Brief von Carmina, und als Mr. Mool zu seinem Büreau ging, fand er eine solche Geschäftskorrespondenz vor, daß jede Minute Zeit davon in Anspruch genommen wurde und sein Vorhaben, an Carmina zu schreiben, nicht zur Ausführung kam. Erst nach Beendigung seines Tagewerks hatte er Muße, an eine Sache von größerer Wichtigkeit zu denken, nämlich an die Notwendigkeit, Benjulia’s früheren Freund, den italienischen Lehrer Baccani zu entdecken. Deshalb gab er einem seiner Schreiber den Auftrag, am folgenden Morgen in den ausländischen Buchhandlungen nachzufragen; das war die einzige Möglichkeit, zu erfahren, ob Baccani überhaupt noch lebte und sich in London aufhielte.
Die Nachforschungen erwiesen sich als erfolgreich, und am Dienstag Nachmittag hatte Mr. Mool die Adresse Baccani’s in Händen. Obgleich noch Geschäfte auf ihn warteten, setzte er dieselben doch der heiligen Pflicht nach, den guten Namen der Todten zu vertheidigen, und der dringenden Notwendigkeit, Mrs. Gallilees böse und lästerliche Zunge zum Schweigen zu bringen. Sofort begab er sich in Person nach der Wohnung des Sprachlehrers, wo ihm mitgetheilt wurde, daß derselbe nach einem benachbarten Restaurant zum Essen gegangen sei. Er schickte demselben einige Zeilen und wartete in der Wohnung. Nach zehn Minuten erschien ein ältlicher Mann von asketischem Aeußern, dessen Blick und Ton darauf schließen ließen, daß er sehr empfindlich war und in dem Advokaten vielleicht einen Spion argwöhnte.
Aber Mr. Mool hatte Erfahrungen hinter sich und war seiner Aufgabe gewachsen; er erklärte klar und voll, was ihn hierher geführt, und schloß mit einem Appell an die Sympathie eines Ehrenmannes.
Baccani, welcher sich, während er schweigend zuhörte, ein Urtheil über den Rechtsanwalt gebildet hatte, antwortete:
»Ich habe bis jetzt herzlich bittere Erfahrungen mit der Menschheit gemacht; seit ich Sie aber gesehen, habe ich wieder eine bessere Meinung von der menschlichen Natur bekommen, und das will in meinem Alter und meinen Verhältnissen etwas sagen.«
Dann verbeugte er sich ernst, ging zu seinem Bette, zog unter demselben einen plumpen eisernen Kasten hervor, öffnete das verrostete Schloß desselben nicht ohne Schwierigkeit, nahm aus demselben ein altes Taschenbuch und aus diesem ein Papier, das wie ein alter Brief aussah.
»Hier,« sagte er, Mr. Mool das Papier überreichend, »haben Sie ein Dokument, welches den Ruf jener Dame gegen diese Verunglimpfung schützt. Ehe Sie indessen dasselbe öffnen, muß ich Ihnen sagen, wie ich dazu gekommen bin.«
Da es ihm große Verlegenheit zu bereiten schien, den Gegenstand zu berühren, so bemerkte der Rechtsanwalt:
»Ich bin bereits mit einigen von den Umständen, auf die Sie Bezug nehmen wollen, bekannt; kenne z. B. die Wette, welche die Verleumdung veranlaßte, und die Weise, in welcher dieselbe entschieden wurde. Um was ich Sie bemühen muß, ist nur, mir das, was folgte, zu beschreiben.«
Baccani machte aus der Erleichterung, die er nach diesen Worten fühlte, kein Geheimniß »Ich empfinde« sagte er, »Ihre Freundlichkeit ebenso wie das Schimpfliche der Handlung, daß ich den Ruf einer Frau zum Gegenstande einer Wette machen ließ. Von wem haben Sie Ihre Auskunft?«
»Aus derselben Quelle, aus welcher ich Ihren werthen Namen erfuhr – von Doktor Benjulia.«
Mit einer Gebärde entrüsteter Abwehr erhob Baccani die Hand. »Erwähnen Sie dessen vor mir nicht wieder, Mr. Mool!« rief er. »Dieser Mensch hat mich beleidigt. Als ich hier in England vor politischer Verfolgung Schutz suchte, schickte ich ihm meinen Prospekt. Von meiner bescheidenen Stellung als Sprachlehrer sah ich ohne Neid zu dem Range empor, den er unter den Aerzten einnahm, und dachte, er würde sich vielleicht nicht ungünstig unserer früheren Freundschaft erinnern – jener Zeit, wo ich ihm hunderte von Gefälligkeiten gethan. Er aber hat auch nie die geringste Notiz von mir genommen, nicht einmal etwas über den Empfang meines Prospektes verlauten lassen. Erwähnen Sie dieses Verächtlichen nicht wieder.«
»Bitte, verzeihen Sie, wenn ich noch einmal – zum letzten Mal – auf ihn zurückkomme,« entgegnete Mr. Mool höflich. »Hatten Sie nach Entscheidung der Wette noch länger Umgang mit ihm?«
»Nein, mein Herd« antwortete Baccani. »Als ich einige Tage darauf Muße hatte, wieder den Klub aufzusuchen, in welchem wir uns gewöhnlich trafen, hatte er Rom verlassen, seit der Zeit habe ich ihn – wie ich zu meiner Freude sage – nie wieder gesehen.«
Damit war also erklärt, weshalb Benjulia nichts von der Widerlegung der Verleumdung erfahren hatte. Das Nächste war also nur noch, zu erfahren, wie Baccani zu der Widerlegung gekommen war. »Wollen wir nun zu dem Manuskripte zurückkehren, das Sie mir zu lesen erlauben?« fragte er.
»Sehr gern. Meine Stellung in der Sache ist leicht erklärt. Ich hatte mir vorgenommen, erst das Gesicht der Frau zu sehen, ehe ich glauben wollte, daß eine achtenswerthe verheirathete Dame sich mit einem Elenden kompromittiert hätte, der damit geprahlt hatte, daß sie seine Geliebte wäre. Deshalb wartete ich in der Straße, bis die Frau herauskam, folgte ihr und sah sie einen Mann treffen, mit dem sie in ein Theater ging. Ich nahm einen Platz in ihrer Nähe, und als sie den Schleier in die Höhe zog, ward mein Argwohn, daß hier eine Täuschung vorläge, bestätigt. Nach der Vorstellung folgte ich ihr wieder bis zum Hause Mr. Graywells, der mit seiner Frau in Gesellschaft abwesend war. Meine Entrüstung ließ mich die Rückkehr derselben nicht erwarten, und unter der Drohung, die Person anzuzeigen, weil sie die Kleider ihrer Herrin gestohlen, nöthigte ich sie zu dem schriftlichen Geständnisse, welches Sie da in Händen haben. Wegen frechen Betragens gegen ihre Herrin war ihr der Dienst gekündigt worden, und das falsche Spiel, das mich hatte täuschen sollen, war ein zwischen ihr und dem Schurken, der sie benutzt hatte, um seiner Lüge den Schein der Wahrheit zu geben, abgekarteter Racheakt. Eins muß ich noch hinzufügen, ehe Sie das Geständniß lesen. Mrs. Graywell sandte ihm unklugerweise etwas Geld, weil er es verstanden hatte, in einem Bittschreiben ihr Mitleid zu erregen. Als er dann zum zweiten Male mit derselben Bitte kam, wies ihn ihr Mann ab – und was darauf folgte, wissen Sie bereits.«
Als Mr. Mool das Geständniß gelesen hatte, erlaubte ihm Baccani, eine Abschrift davon zu nehmen und jeden gewünschten Gebrauch von derselben zu machen. Der Rechtsanwalt wünschte dann nur noch zu wissen, was aus dem Menschen geworden wäre, der den Betrug angestiftet hatte.
»Der Schurke ist doch jedenfalls seiner Strafe nicht entgangen,« meinte er.
Baccani antwortete in seiner bitteren Weise: »Bester Herr, wie können Sie eine so simple Frage stellen? Diese Art Menschen entgehen immer der Bestrafung, und in der äußersten Armuth führt Ihnen das Glück noch immer Jemanden zu, den sie betrügen können. Gewöhnliche Achtung gegen Mrs. Graywell schloß mir die Lippen, und ich war der Einzige, der’ die Umstände kannte. In einem Schreiben an den Klub erklärte ich den Menschen für einen Betrüger – die Auslegung zulassend, daß er beim Kartenspiel betrüge. Er hütete sich, eine Erklärung meinerseits zu fordern, trat aus und verschwand. Wahrscheinlich lebt er noch; was schön und gut ist, stirbt frühzeitig dahin, solches Gelichter aber wuchert fort.«
Mr. Mool hatte weder Zeit noch Neigung, für den hoffnungsvolleren Glauben an die angenehme Fiktion der »poetischen Gerechtigkeit« einzutreten. Er versuchte beim Scheiben seiner Verbindlichkeit Ausdruck zu geben, Baccani aber wollte nichts davon hören.
»Die Verpflichtung ist ganz auf meiner Seite,« sagte er. »Ihr Besuch ist mir wie ein Sonnenstrahl gewesen. Möglich, daß wir uns auf unserer Pilgerfahrt durch diese Welt voll Schurken und Narren nie wieder begegnen; dann lassen Sie uns dankbar daran erinnern, daß wir uns einmal getroffen haben. Leben Sie wohl.«
So schieden sie. In sein Büreau zurückgekehrt, legte Mr. Mool der Abschrift des Geständnisses eine kurze Darlegung der Umstände bei, unter welchen der Italiener in den Besitz desselben gekommen war, und sandte dies mit folgenden Zeilen an Benjulia: »Durch Sie ist das falsche Gerücht in Umlauf gekommen. Ich überlasse es Ihrem Pflichtgefühl, ob Sie zu Mrs. Gallilee gehen wollen, um derselben zu sagen, daß die von Ihnen wiederholte Nachrede sich als Lüge herausgestellt hat. Sollten Sie nicht diese Absicht haben, so muß ich selbst zu ihr gehen und bitte Sie in diesem Falle, mir die beiliegenden Papiere durch den Ueberbringer wieder zurückzuschicken.«
Der Schreiber wurde angewiesen, den Auftrag so schnell als möglich zu besorgen, und Mr. Mool erwartete die Rückkehr desselben in seinem Büreau.
Des Doktors liebenswürdige Laune war noch im Steigen, denn zu seinem Erfolge im Quälen der unglücklichen Köchin war noch ein Telegramm von seinem Freunde in Montreal gekommen mit der befriedigenden Antwort: »Keine Gehirnkrankheit.« Und jetzt, da sein Gemüth beruhigt war, hatte auch der Gentleman in ihm wieder freie Bewegung und er schrieb an Mr. Mool zurück: »Ich bin vollständig Ihrer Meinung; die Droschke Ihres Schreibers wird mich vor Mrs. Gallilee’s Thür absetzen.«
Als der Rechtsanwalt diese Antwort gelesen hatte, fragte er den Schreiber: »Warteten Sie, um zu hören, ob Mrs. Gallilee zu Hause war?«
»Dieselbe war zu einer Vorlesung gegangen.«
»Und was that Doktor Benjulia?«
»Er ging ins Haus, um ihre Rückkehr abzuwarten.«