Kitabı oku: «Herz und Wissen», sayfa 22
Capitel XLVI
Eben machten sich die ersten Lebenszeichen bemerkbar, als die Gerufene erschien. Noch wenige Minuten und man konnte Mrs. Gallilee auf das Sopha legen. Hiernach nahm Mr. Gallilee Zo an der Hand und trat etwas zurück. Eingeschüchtert durch die furchtbare Szene, deren Zeuge sie von ihrem Versteck aus gewesen, verharrte sie an der Seite ihres Vaters in tiefem Schweigen. Beide hielten ihre Augen unausgesetzt auf Mrs. Gallilee gerichtet.
»Hat jenes Weib mich entstellt?« fragte sie das Mädchen.
Nicht wissend was vorgefallen, blickte sie diese befremdet an.
»Einen Spiegel,« hauchte Mrs Gallilee.
Das Mädchen reichte ihr einen Handspiegel, welchen Jene, nachdem sie sich darin besehen, mit einem Seufzer der Erleichterung aus der Hand legte.
Von dieser Angst um sich selbst befreit, wandte sie sich ihrem Gatten zu.
»Wo ist Carmina?«
»Aus dem Hause – Gott sei Dank.«
Diese Antwort schien sie sehr zu beunruhigen. Sie blickte fragend auf das Mädchen.
»Sagte er: Gott sei Dank?«
»Ja, Madame.«
»Kannst Du mir nichts sagen? Wer weiß, wo Carmina ist?«
»Joseph weiß es, Madame. Er hörte Doktor Benjulia dem Kutscher die Adresse zurufen.«
»Schicke Joseph herauf.«
»Nein« rief Mr. Gallilee.
Seine Frau blickte ihn verwundert an. »Warum nicht?« fragte sie.
»Weil ich es verbiete« sagte er gelassen.
»Geh auf mein Zimmer« herrschte Mrs. Gallilee das Mädchen an. »Hole mir einen anderen Hut und einen Schleier. Halt!« Sie versuchte sich zu erheben, sank aber wieder zurück. »Etwas um mich zu stärken!« hauchte sie. »Hole mir meine Tropfen!«
Das Mädchen verließ das Zimmer. Ihr nachgehend, führte Mr. Gallilee Zo zur Thür.
»Geh ins Schulzimmer zurück, Kind,« sagte er, »zu Deiner Schwester, Dein Vater ist sehr betrübt, Zo; geh, sei artig, und das wird ihn beruhigen. Sage dasselbe zu Maria. Es wird recht langweilig für Euch sein. Aber fasse Dich in Geduld, mein Kind, und füge Dich in das Unvermeidliche.«
»Darf ich Dich etwas fragen?« flüsterte Zo.
»Wird Carmina sterben.«
»Gott behüte, Kind!«
Wird man sie hierher zurückbringen?«
In der Erregung sprach das Kind lauter, als es gewollt hatte. Mrs. Gallilee hörte die Frage und beantwortete sie.
»Sobald ich wieder fort kann, werde ich auch Carmina zurückholen,« sagte sie.
Zo blickte ihren Vater an. »Sagst Du das auch?« fragte sie.
Er verneinte mit ernstem Kopfschütteln und ermahnte sie wiederholt, nach dem Schulzimmer zurückzukehren.
»Ich will artig sein, Papa,« sagte Zo und stieg die Treppe hinan. Im Schulzimmer angekommen, wurde sie mit Fragen bestürmt, beantwortete aber keine derselben. Von dem Hunde gefolgt, setzte sie sich in einer Ecke nieder.
»Woran denkst Du?« fragte ihre Schwester.
Diesmal antwortete sie ohne Zögern: »Ich denke an Carmina.«
Als Zo hinaus war, schloß Mr. Gallilee die Thür und setzte sich, ohne seine Frau anzusehen oder mit ihr zu sprechen.
»Was willst Du hier?« fragte sie.
»Dich bewachen,« war die Antwort.
Jetzt kehrte das Mädchen zurück und reichte Mrs. Gallilee eine starke Dosis des gewünschten Medikaments. Hierdurch gekräftigt, vermochte die Dame sich zu erheben.
»Noch bin ich etwas schwindlig,« sagte sie, des Mädchens Arm ergreifend, »aber ich werde mit Deiner Hilfe wohl die Treppe hinabgelangen.«
Mr. Gallilee ging ihnen schweigend nach. Schon oben an der Treppe begann seine Gattin zu schwanken. Ihr starker Wille war kein Ersatz der durch die erhaltenen Verletzungen gebrochenen körperlichen Kraft. Sie bedurfte wieder ihres Gatten Beistand, um nach dem Schlafzimmer zurück zu gelangen. Im Vorzimmer stand sie still. Sie war noch immer zur Ausführung ihres Vorhabens entschlossen.
»Mir wird gleich wohler sein,« sagte sie. »Laßt mich auf dem Sopha nieder.«
Das Mädchen nahm ihr Hut und Schleier ab und fragte bescheiden, ob sie noch irgendwie zu Diensten sein könne.
Mrs. Gallilee warf ihrem Gatten einen herausfordernden Blick zu und befahl nochmals: »Schicke mir Joseph!« Der geistig bewußte Wille mag bisweilen erschüttert werden, aber die passive Hartnäckigkeit einer schwachen Kreatur – ob Mensch, ob Thier – ist völlig unerschütterlich. Und so entließ denn auch Mr. Gallilee das Mädchen mit den Worten: »Ich werde Joseph unten selber sprechen.« Seine Frau hörte dies mit offenbarer Verwunderung und Verachtung.
»Bist Du von Sinnen?« fragte sie.
Er wandte sich nach ihr um.
»Du warst immer starr und eigensinnig,« sagte er traurig. »Ich habe das gleich erkannt. Ein besserer Kopf, als der meine, wäre damals vielleicht auch schon hinter Deine Bosheit gekommen.«
Sie lag in Nachdenken versunken und nahm gar keine Notiz von dem, was er sagte.
»Schämst Du Dich denn nicht einmal?« fragte er mit dem Ausdrucke stillen Erstaunens. »Thut es Dir gar nicht leid?«
Sie beachtete ihn nicht weiter, und so ging er hinaus.
Zur Halle hinabsteigend, traf er auf Joseph.
Dieser meldete: »Doktor Benjulia ist zurück, Sir; er möchte sie sprechen.«
»Wo ist er?«
»In der Bibliothek.«
»Noch eins, Joseph! Ich habe Dir noch etwas zu sagen. Wenn Deine Herrin Dich fragen sollte, wohin Miß Carmina gebracht worden, wirft Du ihr nicht Rede stehen. Wenn Du schon einem oder dem anderen Dienstboten eine Mittheilung hierüber gemacht haben solltest – und es ist ja nicht unmöglich, daß sie Dich gefragt haben, nicht wahr?« unterbrach er sich, noch einmal in seine alte Gewohnheit verfallend – »wenn dies bereits geschehen, so untersage ich jenen Anderen auch, es ihr zu sagen. Weiter war es nichts, mein Bester, weiter nichts.«
In seinem Staunen betrachtete Joseph seinen Herrn mit einem Gefühle wirklicher Hochachtung.
Mr. Gallilee trat in das Bibliothekzimmer.
»Wie befindet sie sich?« war seine erste hastige Frage, er meinte Carmina.
»Der Transport hat ihren Zustand verschlimmert,« erwiderte Benjulia. »Und Ihre Frau?«
Nachdem er diese Frage beantwortet, erwähnte Mr. Gallilee der von ihm getroffenen Vorsichtsmaßregeln, um Teresa’s Adresse geheim zu halten.
»Darüber können Sie ganz außer Sorge sein,« sagte Benjulia, »Ich habe Auftrag gegeben, daß Mrs. Gallilee nicht zu ihr gelassen wird. Es giebt zwingende Gründe, welche ihr Fernhalten gebieten. In Fällen wie diesen ist es schwer zu sagen, wann eine Veränderung eintreten wird. Kommt sie aber und es findet eine zweite solche Begegnung statt, kann ich für Vernunft und Leben der Nichte nicht einstehen. Schicken Sie nach Ihrem Hausarzt. Das Mädchen ist seine Patientin, und er allein trägt die Verantwortung. Lassen Sie ihm durch Ihren Diener gleich diese Karte zugehen. Wir können dann in jenem Hause zu einer Besprechung zusammentreffen.«
Er warf eine Zeile auf seine Visitenkarte, die sogleich an Mr. Null abgesandt wurde.
»Dann ist da noch etwas zu erledigen, ehe ich gehe,« sagte Benjulia. »Diese Papiere erhielt ich von Ihrem Rechtsanwalt Mr. Moll. Sie betreffen – eine Verleumdung, welche Ihre Gattin leider wiederholte —«
Mr. Gallilee sprang von seinem Stuhle auf.
»Erinnern Sie mich nicht wieder daran ,« bat er ernst und eindringlich, »nein, wirklich, thun Sie es nicht! Es ist mir unleidlich, unerträglich, Doktor Benjulia – ganz unerträglich! Aber entschuldigen Sie meine Schroffheit; sie ist nicht absichtlich – ich weiß selbst nicht recht, was mit mir vorgeht. Ich habe stets ein beschauliches Leben geführt, Sir; ich bin solchen Aufregungen nicht gewachsen. Ich sage das aber nicht aus Egoismus; nein, ich werde thun, was in meinen Kräften steht; wenn Sie mich nur schonen wollen.«
Er hätte ebenso gut an den Tisch appellieren können, an dem sie saßen. Benjulia hatte absolut keinen Begriff von einem Geisteszustand, wie Gallilee’s Worte ihn enthüllten.
»Können Sie Ihrer Frau diese Papiere überbringen?« fragte er. »Als der allein zu Tadelnde, kam ich heute Abend hierher, um die Sache zu ordnen. Unter solchen Verhältnissen aber überlasse ich es ihr, sich herauszufinden. Ich möchte in keiner Weise mehr mit Ihrer Frau in Berührung kommen. Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Nur noch eins. Schadet es nichts, wenn ich einmal im Hause anfrage, wie Carmina sich befindet?«
»Fragen Sie so oft an, als Sie wollen – vorausgesetzt daß Mrs. Gallilee nicht mitkommt. Ist sie widerspenstig, so empfiehlt es sich, ihr eine kleine Warnung zukommen zu lassen. Die alte Amme dürfte sie das nächste Mal kaum mit dem Leben davon kommen lassen. Ich habe ein Wort darüber mit dieser ausländischen Wilden gewechselt. »Sie haben, was man in England einen Mordanfall nennt, begangen«, sagte ich, »Und wenn Mrs. Gallilee den Eklat nicht scheut, können Sie sich über kurz oder lang im Gefängniß befinden.« Und was that sie? Sie knipste verächtlich mit den Fingern, indem sie rief: »Und wenn ich dafür aufgehangen würde, was liegt mir dran, wenn nur Carmina aus den Händen ihrer Tante erlöst ist!« Nach dieser reizenden Antwort warf sie sich am Bette des Mädchens nieder und brach in Thränen aus.«
Mister Gallilee hörte ihn kaum; er dachte immer nur an Carmina.
»Ich meinte es gut,« sagte er dann, als ich Sie bat, sie von hier fort zu bringen. Daß ich irrte, ist wohl zu entschuldigen. Das Merkwürdige ist nur, daß Sie sich geirrt zu haben scheinen, als Sie gestatteten, daß man Sie fortbringe.«
Benjulia verzog sein Gesicht zu einem boshaften Lächeln, er schien amüsiert.
»Ich denke eben daran,« sagte er, »wie viel Ihr Gehirn wohl wiegen dürfte. Sagte ich Ihnen nicht, daß, sie hier fortzubringen, das mindere von zwei Uebeln sei? Und in Bezug auf das größere Uebel glaube ich Ihnen doch meine Meinung auch nicht vorenthalten zu haben. Ich habe rückhaltlos aus die Gefahr hingewiesen, die für Miß Carmina daraus erwachsen kann, wenn sie beim Wiedererwachen aus ihrem bewußtlosen Zustand sich mit Ihrer Gattin Auge in Auge sieht. Und hätten wir sie denn in demselben Hause von einander fern halten können? Wenn ich bei meinem Alter etwas unternehme, Mr. Gallilee, so – halten Sie mich deshalb nicht für eingebildet – so weiß ich sicher, was und warum ich es thue.«
Als Benjulia so von sich sprach, hätte er noch ein Wort mehr sagen können. Er hätte hinzufügen können, daß seine Besorgniß, Carmina könne ihren Verstand verlieren, auch noch eine andere Besorgniß involviere, nämlich, daß ein ungewöhnlich interessanter Fall einen gewöhnlichen Ausgang nehmen könnte. Er hätte auch eingestehen können, daß nicht kollegiale Rücksichten ihn bestimmten, die Patientin dem Hausarzt zu überlassen, sondern die Eingebungen seines eigenen kritischen Geistes. Ein kurzer Einblick in die Sachlage hatte genügt, ihn zu versichern, daß des unwissenden Nulls Behandlung die instruktive Entwickelung des Uebels nicht aufhalten werde. Mr. Null, das wußte er, würde die Symptome in seinem eigenen beschränkten Sinne deuten, nicht ahnend, daß die nervöse Hysterie, welche sich in einer Konstitution wie der Carmina’s allmälig voll zu entwickeln drohte, die verborgene Ursache sei. Diese Beweggründe seines Handelns – entschuldigt, ja veredelt durch ihre wissenschaftliche Zusammengehörigkeit mit den Interessen medizinischer Forschung – hätte er unter günstigeren Umständen sogar offen eingestehen können. Aber noch immer nur auf der Schwelle zu einer großartigen Entdeckung stehend, sah sich Doktor Benjulia verurtheilt, selbst dem einfachen Mr. Gallilee gegenüber eine diplomatische Reserve zu beobachten.
Er nahm jetzt Stock und Hut und ging in die Halle hinaus.
»Kann ich noch irgendwie dienen?« fragte er nachlässig. »Mittheilungen über die Patientin werden Sie von Mr. Null erhalten.«
»Sie werden die unglückliche Carmina nicht verlassen?« drängte Mr. Gallilee. »Sie werden sie hin und wieder sehen, nicht wahr?«
»Unbesorgt, ich werde nach ihr sehen.« Er meinte das im Ernst. Carmina’s Fall hatte ihm bereits neue Ideen und Fingerzeige gegeben.
Mr. Gallilee öffnete Jenem die Thür.
»Apropos!" sagte der Doktor hinzutretend, »und wo ist Zo?«
»Oben im Schulzimmer.«
»Sagen Sie ihr doch, daß sie mich ja wissen lassen soll, wenn sie wieder einmal – gekitzelt sein möchte. Guten Abend.«
Mr. Gallilee, noch die von Benjulia gegebenen Papiere in der Hand haltend, ging wieder nach der oberen Etage hinauf. Vor der Thüre des Ankleidezimmers stand er zögernd still. Die Papiere lagen in einem versiegelten Umschlag. Dieser trug die Adresse seiner Gemahlin. So gegen jeden Einblick Unberufener geschützt, war es nicht nothwendig, sie persönlich zu übergeben.
Mr. Gallilee ging nun bis zum Schulzimmer und bedeutete dem darin beschäftigten Stubenmädchen, daß sie zu ihm heraustreten möge.
Nachdem er ihr die Papiere übergeben und ihr aufgetragen, ihrer Herrin zu sagen, daß Doktor Benjulia sie überbracht habe, entließ er das Mädchen mit den Worten: »Sie brauchen nicht zurückzukehren. Ich werde selbst nach den Kindern sehen.«
Maria las in ihrem Buche und selbst die träge Zo war beschäftigt!
Sie saß schreibend am Pult und bemerkte das Eintreten ihres Vaters mit vieler Verlegenheit.
Der arglose Gallilee setzte voraus, daß seine Lieblingstochter, endlich einmal dem Beispiel der fleißigen Maria folgend, mit einer Schreiblektion beschäftigt sei.
»Meine guten Kinder» sagte er, indem er zärtlich von der Einen zur Anderen blickte. Und indem er sich setzte, fügte er hinzu: »Ich will Euch nicht stören. Fahrt fort!« Es war ihm schon eine große Wohlthat, mit den Beiden nur in demselben Zimmer zu sein.
Wenn er näher zum Pult herangetreten wäre, würde er vielleicht bemerkt haben, daß Zo nicht ohne praktisches Resultat an Carmina gedacht hatte.
Von den beiden adressierten Briefumschlägen, die Ovid dem Kinde bei seiner Abreise hinterlassen hatte, war noch einer vorhanden. Hin und wieder hatte sie daran gedacht, ihm nochmals zu schreiben; aber die Furcht vor der Anstrengung des Buchstabierens war zu groß gewesen. In dieser Beziehung hatte man nämlich Zo schon längst als »hoffnungslos« aufgegeben. Einsilbige Wörter machten ihr allerdings keine Schwierigkeiten – aber da hatte auch ihre Schreibkunst ein Ende. Sie kam nie über die erste Silbe längerer Wörter hinaus; da brach sie ab. Nach dieser neuesten Schreibmethode wurde aus »Ovid« – »Ov«; »Miß Minerva", eines Zischlautes entkleidet, wurde »Mis Min.« Zeichen und große Anfangsbuchstaben verblieben der korrigierenden den Hand der Gouvernante zum ausschließlichen Eigenthum. Zur Anerkennung dieses orthographischen Mankos gezwungen, gestand sie zwar ein, daß solche Dinge nicht ganz unmöglich seien, dachte aber mit keinem Gedanken mehr daran, sobald das Schreibheft zugeklappt worden.
Teresa’s Ankunft und die nachfolgenden Ereignisse hatten auf des Kindes Gemüth fast denselben Eindruck gemacht, wie auf das ihres Vaters.
Aus dem Chaos der Wirr- und Schrecknisse löste sich licht gleich – das Mitleid, welches sie in nie gekanntem Maße für Carmina empfand. Auf Grund der natürlichen Ideenassoziation wurde zunächst der Wunsch in ihr rege, Carmina zu helfen. Sie bedurfte dazu eines Verbündeten eines höheren Wesens, eines eigenthümlich begabten und liebenswürdigen Menschen, der nicht sagen würde: »Mein Lieb, diese Sache ist doch zu ernst für ein Kind wie Du.« Allmälig kam denn auch ihrem langsam arbeitenden Geiste die Erinnerung an Ovid und sie erkannte in diesem guten Freund und Bruder den Alliierten, dessen sie zu ihrem menschenfreundlichen Werke bedurfte. Mit des Kindes seiner Empfindsamkeit gegen das Lächerliche gedachte sie des Umstandes, daß die Anderen gelacht hatten, als sie zuerst davon gesprochen, an Ovid zu schreiben. Sie würde sich vielleicht ihrem Vater anvertraut haben, wenn sie ihn eine dominierende Stellung im Hause hätte einnehmen sehen. Aber so war auch sie. gewahr geworden, was Jedermann hier wußte, daß er sich »vor Mama fürchtete« Der Zweifel darüber; ob er es nicht »Mama sagen« würde, bestimmte sie, ihr Geheimniß allein zu bewahren. Wie Figura zeigt, war die kleine Schwester die einzige Person, welche Ovid von der furchtbaren Nothwendigkeit seiner sofortigen Rückkehr informierte, dieselbe kleine Person, deren Tröstung sein letzter Gedanke gewesen, als er England verließ.
Als Mr. Gallilee eintrat, hatte Zo soeben ihren Brief beendet. Dieser seltsame Briefschluß lautete:
»theur ov komm zur car ist krank sie verl nach dir eil eil sag nicht ich schriebe dies mis min ist fort, ich haß büch ich lieb dich zo.«
Die Feder noch in der Hand, blickte sich die Schreibensmüde nach ihrem Vater um. Sie hatte den adressierten Briefumschlag (schauderhaft zerknittert) in der Tasche; aber sie getraute sich nicht, denselben hervor zunehmen. Maria würde schon wissen, was sie an meiner Stelle thun würde, dachte sie. Gräßliche Maria!
Das Glück winkte ihr diesmal in Gestalt einer unerledigten Wirthschaftsangelegenheit. Im nächsten Augenblick schon fand Zo die erwünschte Gelegenheit. Das Stubenmädchen kehrte unerwartet zurück. Sie wandte sich an Mr. Gallilee mit der ganzen Heimlichkeit, deren sich englische, mit einem Auftrag betraute Diener und Dienerinnen so gern befleißigen.
»Sie verzeihen, Sir, Joseph möchte Sie sprechen.«
»Wo ist er?«
»Draußen, Sir.«
»Er soll hereinkommen.«
Dank der Etikette der Dienerhalle durfte Joseph sich in den über den Salon gelegenen Regionen ohne vorherige Anmeldung durch eine Gesandtin nicht einführen; hierdurch wurde die Aufmerksamkeit momentan von den Kindern abgelenkt. Zo konnte ihren Brief umbrechen, in den Umschlag stecken und dann in ihre Tasche versenken.
Joseph trat ein.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir,« sagte er, »ich war mir nicht sicher, ob ich meine Herrin stören dürfe. Mr. Le Frank ist da und fragt, ob er sie sprechen kann.«
Mr. Gallilee befragte das Stubenmädchen.
»Schlief Deine Herrin, als ich Dich zu ihr sandte ?«
»Nein, Sir. Sie gebot mir, die Lese-Lampe anzuzünden und ihr eine Tasse Thee zu bringen.«
In den früheren seltenen Fällen einer Erkrankung Mrs. Gallilee’s hatte es der aufmerksame Gatte nie den Dienern überlassen, ihre Wünsche zu erfragen. Jene Zeit war nun längst dahin.
»Joseph, Sie könnten Ihrer Herrin melden, daß Mr. Le Frank da ist.«
Capitel XLVII
Die Verleumdung, von welcher Mrs. Gallilee die Trennung Ovids und Carmina’s erhofft hatte, war jetzt eine wirkliche Verleumdung auf Grund unwiderlegbarer Beweise. Und der Mann, dessen Bemühungen diesen Ausgang erzielt hatten, war ihr eigener Rechtskonsulent, derselbe, den sie für die Geltendmachung jener Vormundschaftsrechte zu gewinnen gedacht hatte, welchem Teresa so kühn zu trotzen gewagt. Die Beziehungen zwischen ihr und Mr. Mool waren gelöst.
Da lag sie nun, hilflos und ihr Ansehen vernichtet, sie selbst das Opfer eines brutalen Ueberfalls, nur von dem einen Gedanken Beherrscht, zu handeln, sich zu rächen, und doch nicht im Stande, sich zu erheben, ihre Macht geltend zu machen; und Niemand ihr zur Seite, der für sie einträte, keinen Verbündeten, der ihren Zwecken diente.
Mit einer Entschlossenheit, wie nur die Verzweiflung sie giebt, sprang sie auf ihre Füße, um gleich darauf wieder halb ohnmächtig auf das Sopha zurückzusinken. Ihr Muth versagte, Alles drehte sich mit ihr, und erst als sie wieder ihre ruhende Stellung eingenommen, ließ der Schwindel nach. Sie vermochte jetzt, die Tischglocke neben sich in Bewegung zu setzen.
»Schicke sogleich nach Mr. Nul1,« sagte sie zu dem eintretenden Mädchen. »Wenn er nicht zu Hause ist, soll der Bote ihn aufsuchen, wo immer er auch sei.«
Der Bote kehrte mit einem Briefe zurück.
Mister Null, hieß es darin, würde sobald als möglich bei Mrs. Gallilee vorsprechen, momentan sei er noch von Miß Carmina in Anspruch genommen.
Damit war Mrs. Gallilee’s letzter Rest von Willenskraft gebrochen. Die Dienste ihres eigenen ärztlichen Rathgebers gehörten erst dann ihr, wenn Carmina deren nicht mehr bedurfte! Und noch besser, aus demselben Briefe starrte ihr die Adresse entgegen, nach der sie so lange vergebens geforscht hatte. Kaum fünf Minuten hatte sie bis nach dem Hause; und sie nicht im Stande, nur das Zimmer zu durchkreuzen! Zum ersten Mal in ihrem Leben drängte sich ihr die garstige Frage auf: »Wo finde ich Jemand, der mir hilft?«
Man klopfte an die Thür.
»Wer ist da?« rief sie.
Joseph antwortete von draußen:
»Mr. Le Frank ist da, Madame, und fragt, ob er zu Ihnen kann.«
Sie gönnte sich keine Ueberlegung. Sie schickte nicht einmal nach ihrem Mädchen, um nach ihrer Toilette zu sehen. Die Furcht vor ihrer eigenen Hilflosigkeit jagte sie vorwärts. Da war der Mann, dessen rechtzeitiger Verrath Carmina’s, sie, die schon halb fort war, auf ihrem Weg zu Ovid abgefaßt und zurückgebracht hatte; da war das stumme Werkzeug ihres Willens!
»Ich werde Mr. Le Frank empfangen,« rief sie. »Führe ihn herauf!«
Der Musiklehrer blickte sich zuerst in dem matt erhellten Zimmer um und verneigte sich dann gegen die auf dem Sopha kauernde Gestalt.
»Ich fürchte, ich störe Sie zu einer sehr unangemessenen Stunde, Madame.«
»Ich leide, bin krank, Mr. Le Frank, aber doch im Stande, Sie zu empfangen – wie Sie sehen.«
Damit schwieg sie.
Jetzt, wo er ihr gegenüberstand, wo sie ihn sah und hörte, regte sich etwas wie Zweifel an ihm in ihrem Herzen; und jetzt, wo es zum Widerstand zu spät war, machte sie einen letzten schwachen Versuch, gegen ihn auf ihrer Hut zu sein. Welch ein Abfall von Energie (das fühlte sie jetzt selbst) in diesem Weib, welches sonst, kampfbereit und entschlossen, vor keiner Möglichkeit zurückbebte!
»Welchem Umstande verdanke ich die Ehre Ihres werthen Besuches?« nahm sie wieder das Wort.
Selbst ihre Stimme versagte ihr; sie zitterte, trotz ihrer Bemühungen, sie kalt und ruhig erscheinen zu lassen.
Mr. Le Frank hatte sich bereits gefaßt. Seine Eitelkeit schmeichelte ihm mit der ermuthigenden Einbildung, daß Mrs. Gallilee sich vor ihm fürchte.
»Ich möchte gern wissen, wie Sie von mir denken,« sagte er in Beantwortung ihrer Frage. »Wenige Stunden früher habe ich mir erlaubt, ein paar Zeilen von meiner Hand mit beigeschlossenem Brief und – dem Ausdruck meiner Hochachtung hier abzugeben. Haben Sie den Brief empfangen?«
»Ja.«
»Gelesen?«
Mrs. Gallilee zögerte mit der Antwort. Mr. Le Frank lächelte still.
»Ich werde Sie um keine mehr direkte Antwort bemühen, Madame,« sagte er. »Ich will offen sein. Haben Sie die Güte, mir ohne Rückhalt zu sagen, wer ich in Ihren Augen bin – ein Mann, der mit der Unterschlagung eines Briefes sich entehrt hat oder ein Mann, der sich durch einen Ihnen geleisteten Dienst Anspruch auf Ihre Anerkennung erworben hat?«
Eine unangenehme Fragestellung, sehr fein definiert! Mrs. Gallilee’s Aufgabe war es nun, Mr. Le Frank zu verleugnen oder ihn – zu gebrauchen. Sie konnte sich zu keinem Urtheil aufraffen; der bloße Versuch einer Entscheidung irritierte und ermüdete sie. Sie konnte die Situation wohl überblicken und sie vermochte auch zu erkennen, daß Unterwerfung das Leichteste sei, um sich daraus zu befreien. Ein gemeiner Schurke war mit ihrem eigenen freien Willen zu einer geheimen Besprechung mit ihr zugelassen worden. Warum ihn sich hiernach noch zum Feinde machen? Warum sich seiner nicht bedienen? Noch einmal bestimmte sie das unerträgliche Gefühl ihrer Hilflosigkeit.
»Ich kann nicht leugnen, daß Sie mir einen Dienst erwiesen haben,« sagte sie mit einer Art ruhiger Ergebenheit.
Er erhob sich, um das ihm bewiesene Vertrauen in der generösesten Weise zu erwidern, das heißt, um seine wohl studierte Verbeugung von vorhin zu wiederholen.
»Wir verstehen einander,« sagte er und – setzte sich nieder. »Wenn ich Ihnen noch ferner dienen kann, Madame; etwa indem ich Ihre Nichte weiter bewache – verfügen Sie über mich.«
»Sprechen Sie so aus Anhänglichkeit gegen mich, Mr. Le Frank?«
»Meine Anhänglichkeit an Sie könnte eines Tages versagen,« erwiderte er dreist. »Dagegen können Sie sich versichert halten, daß meine Gefühle gegen Ihre Nichte immer dieselben bleiben werden. Ich vergesse niemals eine Beleidigung. Darf man so indiskret sein, zu fragen, wie Sie beabsichtigen, Miß Carmina davon zurückzuhalten, daß sie ihrem Geliebten nach Quebec folgt? Hat auch ein Vormund das Recht, ein junges Mädchen in ihrem Zimmer gefangen zu setzen?«
Mrs. Gallilee empfand die versteckte Familiarität dieser Fragen, sehr sorgfältig versteckt in den Falten tiefster Ehrfurcht, die er dabei in seine Miene legte.
»Meine Nichte weilt nicht länger in meinem Hause,« war die in kaltem Tone gegebene Antwort. »Fortgegangen?« schrie Mr. Le Frank auf.
»Verzogen,« verbesserte sie und ließ den Gegenstand da fallen.
Mr. Le Frank nahm den Gegenstand da wieder auf. »Verzogen,« wiederholte er, »doch wohl unter der Fürsorge und Begleitung ihrer Amme vermuthlich?«
Die Amme? Was wußte er von der Amme —?
»Darf ich fragen —« begann Mrs. Gallilee.
Ein nachsichtiges Lächeln umkräuselte seine Lippen.
»Sie sind nicht mehr dieselbe, die Sie waren,« unterbrach er sie. »Gestatten Sie mir die bescheidene Erinnerung, daß Ihrer Nichte Brief an Mr. Ovid Vere ausführlich ist; ich habe mir die Freiheit genommen, ihn zu lesen, ehe ich ihn hier für Sie abgab.«
Mrs. Gallilee hörte ihm schweigend zu; sie fühlte, daß sie einen zweiten Fehler begangen habe. Sie hatte es sorgfältig vermieden, einen Mann ins Vertrauen zu ziehen, der jetzt schon um alle ihre Geheimnisse wußte! Mr. Le Franks höfliche Theilnahme hielt ihn ab, die bevorzugte Stellung, die er jetzt inne hatte, im eigenen Interesse auszudeuten.
»Ich werde mir zu gelegenerer Stunde die Ehre geben,« sagte er, »wenn Sie meine bescheidenen Dienstanerbietungen besser zu würdigen in der Lage sein werden. Ich möchte Ihnen durchaus nicht lästig fallen, Mrs. Gallilee, nicht um die Welt! Gestatten Sie mir gütigst nur noch eine Frage, die eben keinen Aufschub leidet. Hat Miß Carmina, als sie ihr Haus verließ, Schreibmappe und Schlüssel mitgenommen?«
»Nein.«
»Gestatten Sie mir zu bemerken, daß sie jeden Augenblick danach schicken kann.«
Ehe sie noch nach einer Erklärung fragen konnte, erschien Joseph wieder. Mr. Null wartete unten.
Mrs. Gallilee bestimmte, daß er auf ein Klingelzeichen zu ihr gelassen werden sollte.
Kaum waren sie allein, so näherte sich Mr. Le Frank noch einmal rasch dem Sopha und sagte:
»Mrs. Gallilee, jene Papiere Ihrer Nichte könnten Mittheilungen enthalten, die für Sie von der allerhöchsten Wichtigkeit sind. Wer weiß, was für Korrespondenzen da geführt werden, in welche die Amme und die Gouvernante verwickelt sind. Nachdem wir schon einen Brief aufgefangen haben, wäre es Thorheit, noch länger zögern zu wollen. Sie selbst sind einer solchen Aufgabe nicht gewachsen. Ich kenne das Zimmer. Fürchten Sie keine Entdeckung. Mein Tritt ist von Natur leicht und – wenn noch Jemand einen solchen leichten Tritt hat, so weiß ich mich schon zu entschuldigen. Ueberlassen Sie Alles mir.«
Während er sprach, hatte er ein Licht angezündet. Wäre es nicht um seine Erinnerung an die Amme gewesen, sie würde ihm befohlen haben, es wieder auszulöschen.
»Ich werde morgen wiederkommen,« sagte er, ohne ihre Antwort abzuwarten, und dann stahl er sich leise hinaus.
Als Mr. Null gemeldet wurde, entfernte Mrs. Gallilee den verdunkelnden Schirm von der Lampe. Sie hatte ihre ganz besonderen Gründe für die Erzielung einer größeren Helligkeit im Zimmer.
Mr. Null erschien.
Sein schüchterner Blick, seine offenbare Zerstreutheit beim Vortragen der konventionellen Entschuldigungen, verriethen Mrs. Gallilee sogleich, daß Teresa gesprochen habe, und daß er wisse, was vorgefallen. Er selbst war nie so aufmerksam und sanft gewesen. Er fühlte den Puls, nahm Kenntniß von der Temperatur und schrieb sein Rezept, ohne auch nur nach dem Grunde oder der Veranlassung der bedauerlichen Veränderung zu fragen. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, oder schwieg er aus Furcht?
Mrs Gallilee folgte allen seinen Bewegungen mit tiefstem Schweigen.
»Kann ich noch in etwas dienen?« fragte er.
»Sie können mir wohl sagen,« erwiderte sie, »wann ich wieder hergestellt sein werde.«
Mr. Null war höflich; Mr. Null war theilnehmend. Mrs. Gallilee könnte wohl in ein, zwei Tagen wieder gesund sein; es könnte aber auch sein, daß Mrs. Gallilee unglücklicher Weise noch etwas länger an ihr Zimmer gefesselt bleiben würde. Er erhoffe das Beste von seiner Medizin und erhoffe das Beste von gänzlicher Ruhe und Zurückgezogenheit. Es würde sich sehr empfehlen, sich gleich niederzulegen; er würde nicht versäumen, am nächsten Morgen mit dem Frühesten wieder da zu sein.
»Nehmen Sie noch auf einen Augenblick Platz,« nöthigte Mrs. Gallilee.
Mr. Null wechselte die Farbe und gehorchte. Er wußte schon, was kommen würde.
»Sie haben Miß Carmina behandelt. Welcher Art ist ihre Krankheit?«
Mr. Null begann sehr weitschichtig: »Der Fall erregt unsere allergrößte Befugniß. Schwierige Verwickelungen. Selbst Doktor Benjulia —«
»Gerade heraus, Mr. Null, kann sie fortgebracht werden?«
Das trieb zu einer entscheidenden Antwort.
»Ganz unmöglich.«
Sie wagte ihre nächste Frage erst nach einer Pause, in der sie ihre ganze Selbstbeherrschung zu gewinnen strebte.
»ist jene Ausländerin, die Amme – die einzige Amme bei ihr?«
»O, erwähnen Sie ihrer nicht, Mrs. Gallilee! Ein schreckliches Weib; roh, jähzornig, eine ganze Wilde. Als ich eine zweite Amme in Vorschlag brachte —«
»Ich verstehe. Sie fragten mich eben, ob Sie mir noch in etwas dienen können. Sie können mir sogar einen großen Dienst erweisen. Nennen Sie mir einen vertrauenswürdigen Advokaten.
Dies frappierte Mr. Null. Als alter Familienarzt war er mit dem Rechtskonsulenten bekannt. Er nannte deshalb Mr. Mool.
»Mr. Mool hat mein Vertrauen verwirkt,« bemerkte Mrs. Gallilee entschieden. »Können Sie mir einen Advokaten empfehlen oder nicht?«
»O, sicherlich; meinen eigenen.«
»Sie finden Alles auf dem Tisch da hinter mir. Ich werde Sie kaum fünf Minuten in Anspruch nehmen. Ich bitte, freundlichst nach meinem Diktat schreiben zu wollen.«
»Aber theure Lady, in Ihrem Zustande —«
»Erfüllen Sie meinen Wunsch! Ich bin ruhig genug und mein Kopf ist klar. Selbst eine Frau in meinem Zustande kann ihrem Willen Ausdruck geben. Ich werde heute Nacht kein Auge zuthun, wenn ich mir nicht sagen kann, daß jenes elende Weib durch mich in ihre Schranken verwiesen ist. Wer sind Ihre gesetzlichen Rathgeber?«
Mr. Null nannte die Namen und ergriff die Feder.
»Beginnen Sie in der gewöhnlichen Form,« fuhr Mrs. Gallilee fort, »und» verweisen Sie dann die Advokaten auf meines Bruders Testament. ist das fertig?«
Es war fertig.
»Sagen Sie ihnen dann, wie meine Nichte von mir fort und wohin sie genommen wurde.«