Kitabı oku: «Herz und Wissen», sayfa 25
Capitel LII
Während Teresa die Nacht bei Carmina wachte, beschäftigten sich ihre Gedanken mit Mr. Le Frank. Ueber dem Sinnen nach den Motiven, die denselben bewogen haben mochten, sich dort im Hause einzumiethen, verging doch die traurige Zeit.
Die gewöhnliche Wahrscheinlichkeit wies jedenfalls auf die Folgerung hin, daß er aus Gründen, die nur ihn selbst betrafen, umgezogen wäre; und in diesem Falle wäre es einfach dem Zufall zuzuschreiben gewesen, daß er Teresa’s Hausgenosse geworden war. Sie würde auch vielleicht kein Bedenken getragen haben, diese Ansicht anzunehmen, wenn nicht gewisse Erinnerungen gewesen wären, die sie zögern ließen. Sie hatte ihn zuerst im Hause Mrs. Gallilee’s getroffen, und damals hatte seine Persönlichkeit einen so unangenehmen Eindruck auf sie gemacht, daß sie sich nicht hatte enthalten können, gegen Carmina zu äußern, er sähe aus wie ein Schurke. Dies frühere Vorurtheil gegen ihn und die ernstlichen Gründe, die sie gegenwärtig zum Mißtrauen gegen Mrs. Gallilee hatte, ließen sie den Gedanken an einen Zufall verwerfen. Andere Frauen in ihrer Lage und mit gleichem Mißtrauen hätten sich vielleicht gefragt, ob er seinen eigenen Zweck verfolge oder im Interesse Mrs. Gallilee’s handele. Teresa’s heftige und impulsive Natur war aber eines abwägenden Ueberlegens solcher Fragen unfähig und kam dennoch ohne Weiteres zu dem richtigen Schlusse – daß nämlich der Musiklehrer Mrs Gallilee als Spion diene. Während Mr. Le Frank mit schlauer Vorsicht seine Pläne für den folgenden Tag entwarf, war er gerade für diejenige, deren Geheimnisse er zu erforschen strebte, selbst ein Gegenstand des Argwohns geworden.
Diese Nacht war die längste und traurigste, welche die alte treue Amme am Bette ihres Lieblings verbracht hatte. Zum ersten Male war Carmina verdrießlich und schwer zu befriedigen, und es bedurfte geduldigen Zuredens, um sie zu bewegen, ihre Medizin einzunehmen. Selbst wenn sie durstig war, war sie gereizt über die Störung, daß ihr die Limonade angeboten wurde, welche sie sonst so gern getrunken hatte. Einige Male zeigte sie auch Symptome von Geistesverwirrung; sie glaubte, daß es ihr Hochzeitsabend sei, und fragte Teresa angelegentlich, was dieselbe mit ihrem neuen Kleide gemacht habe. Etwas später, nachdem sie vielleicht geträumt hatte, glaubte sie, daß ihre Mutter noch lebe, und wiederholte längst vergessene Kinderplaudereien. »Was habe ich gesagt, das Dich bekümmert?« fragte sie verwundert, als sie Teresa weinen sah.
Bald nach Tag werden kam eine lange Ruhepause. Später, als Benjulia ankam, war die Kranke ruhig und klagte nicht, und die ungünstigen Symptom, welche Teresa bewogen hatten, darauf zu bestehen, daß nach ihm geschickt wurde, waren vollständig verschwunden, so daß Mr. Null auf eine grobe Zurechweisung gefaßt war, weil er den großen Mann durch falschen Alarm gestört habe. Beide, er und Teresa bemühten sich, die Sache auseinanderzusetzen; Benjulia schenkte ihnen indessen nicht die geringste Aufmerksamkeit, machte keine ärgerlichen Bemerkungen, sondern zeigte in seiner unerschütterlichen Weise das gleiche befriedigende Interesse an dem Falle wie immer.
»Ziehen Sie das Rouleau auf,« sagte er; »ich möchte sie deutlich sehen.«
Mr. Null wartete respektvoll und legte Teresa strenges Schweigen auf, während die Untersuchung vor sich ging. Dieselbe dauerte so lange, daß er zu fragen wagte: »Sehen Sie etwas Besonderes?«
Benjulia sah seine Zweifel aufgeklärt: Wie er vorausgesehen, hatte die Zeit die Entwickelung gebracht und ihn in den Stand gesetzt, zu einem Schlusse zu kommen. Der Schlag, der Carmina getroffen, hatte eine hysterische Störung zur Folge gehabt, die nun »scheinbare Paralysis« zu werden begann. Benjulia’s forschender geübter Blick entdeckte eine kleine Ungleichheit in der Größe der Pupillen und einen schwachen Unterschied in der Thätigkeit auf beiden Seiten des Gesichts, wie sie sich in den Augenlidern, den Nasenflügeln und Lippen kundgab. Hier lag keine gewöhnliche Affektion des Gehirns vor, das konnte sogar Mr. Null einsehen! Hier ward Benjulia endlich der Lohn für das Opfer der kostbaren Stunden, die er sonst in seinem Laboratorium hätte verwenden können! Von dem Tage an sollte Carmina ungekannter Ehre theilhaftig werden: sie sollte mit den anderen Thieren einen Platz in dem Notizbuche des Doktors finden.
Sich ruhig zu Mr. Null wendend, schloß er die Konsultation mit den drei Worten: »Es ist gut!«
»Würden Sie zu irgend etwas rathen?« fragte Mr. Null.
»Fahren Sie in derselben Weise fort – und lassen Sie das Rouleau herunter, wenn sie sich über das Licht beklagt. Guten Morgen.«
»Sind Sie sicher, daß er ein großer Doktor ist?« fragte Teresa, als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte.
»Der größte, den wir haben!« rief Mr. Null mit Enthusiasmus.
»Ist er ein guter Mensch?«
»Weshalb fragen Sie so?«
»Ich möchte wissen, ob wir uns darauf verlassen können, daß er uns die Wahrheit sagt.«
»Darauf können Sie sich verlassen!« (Wer konnte das wohl bezweifeln, nachdem er der Behandlungsweise Mr. Nulls zugestimmt hattet)
»Eins haben Sie vergessen,« fuhr Teresa fort, »ihn zu fragen, wann Carmina fortgebracht werden kann.«
»Beste Frau, wenn ich eine solche Frage gestellt hätte, würde er einen schönen Begriff von mir bekommen haben! Kein Mensch kann sagen, wann sie soweit sein wird.«
Er nahm seinen Hut, und die Amme begleitete ihn hinaus.
»Gehen Sie zu Mrs. Gallilee, Herr Doktor?«
»Heute nicht.«
»Ist sie wieder besser?«
»Sie ist fast wieder wohl.«
Capitel LIII
Als der Doktor fort war, ging Teresa in das Wohnzimmer, da sie sich fürchtete, sich vor Carmina sehen zu lassen. Mr. Null hatte die einzige Hoffnung zerstört, die sie bis dahin aufrecht erhalten hatte – die Hoffnung, mit Carmina zu entkommen, ehe Mrs. Gallilee dazwischen treten konnte. Angesichts dieser ermuthigenden Aussicht hatte sie es über sich vermocht, die demüthige Abbitte zu unterschreiben, die ihr die Advokaten diktiert hatten. Und wie stand es jetzt? Schwer war die Hand des Unglücks über die brave alte Seele gekommen – und hatte sie zuletzt niedergeschlagen! Während sie da am Fenster stand und mechanisch hinaussah, zitterte und verschwamm die traurige Aussicht auf die Hinterstraße – sie weinte.
Es war ein Glück, daß sie nicht im Stande war, ihre Schwachheit zu beherrschen, denn die Thränen erleichterten ihr das schwere Herz. Besorgend, daß ihre Augen sie verrathen könnten, wartete sie ein wenig, ehe sie zu Carmina zurückkehrte. Da hörte sie das Geräusch des Schließens einer Thür auf dem Flure über sich.
»Der Musiklehrer!« sagte sie bei sich, und war im nächsten Momente an der Thür des Wohnzimmers und sah durch das Schlüsselloch. Dies war die einzige sichere Weise, ihn zu beobachten – und das genügte ihr. Seine Gestalt erschien plötzlich in ihrem beschränkten Gesichtskreise – auf der Matte vor der Thür. War ihr Mißtrauen unbegründet, so würde er hinuntergehen Doch nein! Er blieb auf der Matte stehen, um zu horchen – beugte sich nieder – im nächsten Augenblicke würde sein Auge am Schlüsselloch gewesen sein. Da ergriff sie einen Stuhl und rückte denselben, und das Geräusch trieb ihn sogleich fort und er ging die Treppe hinunter.
Teresa überlegte bei sich, auf welche Weise sie sich am sichersten schützen und ihn womöglich strafen könnte. Wie und wo konnte sie die Falle stellen, die ihn fangen möchte?
Während sie noch darüber nachsann, erschien die Wirthin, höflich besorgt zu hören, was die Doktoren von ihrer Patientin meinten. Und als sie in der Beziehung befriedigt war, hatte die lästige Person noch Entschuldigungen vorzubringen, daß sie Mr. Le Frank noch nicht zur Vorsicht ermahnt habe.
»Ich habe diese Nacht darüber nachgedacht,« sagte sie vertraulich, »und kann mir nicht vorstellen, wie Sie oben haben Gehen hören können, da er ja doch einen solch leisen Tritt hat, daß er mich wirklich überrascht, wenn er in mein Zimmer kommt. Er ist auf eine Stunde ausgegangen, und ich habe ihm eine kleine Gefälligkeit erwiesen, die ich gewöhnlichen Miethern nicht zu erzeigen pflege – ich habe ihm nämlich meinen Regenschirm geliehen, da es nach Regen aussieht. Ich will nun in seiner Abwesenheit auf seinem Zimmer umhergehen, und möchte Sie bitten zuzuhören. Man kann nicht zu eigen sein, wenn Ruhe für Ihr junges Fräulein so wichtig ist – und es ist mir die Möglichkeit eingefallen, daß der Fußboden auf seinem Zimmer vielleicht schadhaft ist, Beste, die Bretter knarren vielleicht! Ich bin immer unruhig, ich weiß; aber wenn der Zimmermann es wieder zurecht machen kann – natürlich ohne abscheuliches Hämmern! – so werde ich mich beruhigt fühlen, je eher er geholt wird.«
Während dieses Wortschwalls hatte Teresa mit einer ihr sonst ganz und gar nicht eigenen Geduld auf eine Gelegenheit gewartet, ein Wort anzubringen. Die Anspielung der Wirthin auf Mr. Le Frank hatte sie in Folge irgend eines verzwickten geistigen Prozesses gerade darauf gebracht, wonach sie in ungestörter Einsamkeit vergebens gesucht hatte, und nie war ihr in Folge dessen die Frau in einem so günstigen Lichte erschienen, wie jetzt.
»Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, Madame,« sagte sie, sobald sie sich Gehör zu verschaffen vermochte; »es war thatsächlich das Knarren der Bretter, welches mir anzeigte, daß sich oben Jemand bewegte.«
»Dann bin ich also kein Störenfried? O wie mich das leichter macht! Eines von den Mädchen soll sogleich zum Zimmermann, einerlei, was sie gerade zu thun haben. Es freut mich so, dem holden jungen Wesen einen Dienst erweisen zu können!«
Ehe Teresa dann wieder in die Kammer ging, sah sie nach der Uhr.
Die Besserung in Carmina’s Befinden hielt an, und dieselbe war im Stande, etwas von der leichten Nahrung, die bereit gehalten war, zu sich zu nehmen. Wie Benjulia vorausgesehen hatte, bat sie, das Rouleau etwas herunterzulassen, und Teresa, die ihre Gründe hatte, Carmina zum Ruhen zu veranlassen, ließ dasselbe vollständig herunter. Eine halbe Stunde darauf schlief die müde Patientin, und die Amme konnte ihre Falle für Mr. Le Frank stellen.
Das Erste, was sie that, war, daß sie das Ende einer Gänsefeder in ihr Salatölfläschchen tauchte und damit Schloß und Schlüssel der von der Treppe nach der Kammer gehenden Thür einölte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Schlüssel jetzt benutzt werden konnte, ohne das leiseste Geräusch zu machen, ging sie zu der Verbindungsthür mit dem Wohnzimmer.
Diese Thür war mit grünem Stoffe überzogen, hatte Handgriffe, aber kein Schloß und ging nach innen, so daß man die Thür des Schrankes (der in die Wand des Wohnzimmers eingelassen war) unbehindert nach der Kammer zu öffnen konnte. Teresa ölte die Angeln, sowie den messingenen Riegel und Haken, welche die Thür auf der Kammerseite schützten, und sah dann wieder nach der Uhr.
Wenn Mr. Le Frank eine Stunde ausblieb, so mußte er in fünf Minuten zurück sein.
Sie verriegelte die Verbindungsthür, warf dann der noch schlafenden Carmina eine Kußhand zu, verließ die Kammer durch die nach der Treppe gehende Thür, verschloß dieselbe und steckte den Schlüssel ein.
Nachdem sie schon die erste Treppenflucht hinuntergegangen war, hielt sie plötzlich an und kehrte wiederum. Die einzige unverschlossene Thür war die, welche von der Treppe in das Wohnzimmer führte. Diese öffnete sie und ließ dieselbe einladend angelehnt stehen. »So,« sagte sie für sich »jetzt habe ich ihn!«
Als gerade die Uhr auf dem Flur die Stunde schlug, trat sie in das Zimmer der Wirthin.
Die wortreiche Frau war entzückt und unzufrieden zugleich. Ersteres weil sie hörte, daß die liebe Patientin schlief, und sie von der Amme einen Besuch empfing; letzteres, weil der Zimmermann für den ganzen Tag anderswo auf Arbeit war. »Wenn mein seliger Mann noch lebte, brauchten wir keinen Zimmermann; denn der verstand sich auf Alles. Jetzt setzen Sie sich – Sie müssen einmal meinen selbstgemachten Kirsch kosten.«
Als Teresa einen Stuhl nahm, kehrte Mr. Le Frank zurück, und die beiden geheimen Gegner standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
»Ich sollte diese Dame kennen,« sagte er.
Teresa machte ihren besten Knix und erinnerte ihn an die Umstände, unter denen sie sich früher getroffen hatten. Die gastfreie Wirthin holte ihren Kirsch hervor und sagte: »Wir wollen ein kleines Plauderstündchen halten; nehmen Sie Platz, Herr, und leisten Sie uns Gesellschaft.« Aber Mr. Le Frank entschuldigte sich. Der ihm freundlichst geliehene Regenschirm hätte seine Stiefel nicht geschützt; seine Füße waren naß und er holte sich so ungeheuer leicht eine Erkältung, daß er um die Erlaubniß bitten müßte, sich sofort trockene Sachen anzuziehen. Unter Verbeugungen ging er aus der Thür, hielt aber draußen auf dem Flur an und lugte, auf den Zehen stehend, durch ein Fenster in der Mauer, durch welches das kleine Zimmer der Wirthin Licht empfing. Die beiden Frauen saßen behaglich am Tische mit dem Kirsch und einem Teller Kuchen vor sich. »Die halten einen langen Klatsch,« dachte Mr. Le Frank. »Jetzt ist es Zeit für mich!«
Ehe fünf Minuten vergangen waren, entschuldigte sich Teresa, daß sie noch einmal nach oben müßte, da sie ganz vergessen hätte, den Glockenzug so zu befestigen, daß Carmina denselben erreichen könnte, falls sie erwachen sollte. »Thun Sie es gute Seele,« stimmte die brave Wirthin bei; »und kommen Sie sofort zurück!« Als sie allein war, füllte sie ihr Glas wieder und lächelte es an.
Als Teresa sich ihrem Zimmer näherte, wartete sie und horchte. Durch die angelehnte Thür des Wohnzimmers ließ sich kein Geräusch vernehmen. Sie trat leise in die Kammer, und auch von hier war nichts zu hören. Hatte er sie gesehen?
Da hörte sie über sich die Dielen knarren. Mr. Le Frank war also auf seinem Zimmer.
War ihr so gut angelegter Plan fehlgeschlagen, oder zog er sich wirklich andere Schuhe und Strümpfe an?
Letzteres war in der That der Fall. Mr. Le Frank vergaß auch über ernsten Interessen seine kostbare Gesundheit nicht. Er hatte unten nicht bloße Entschuldigungen gemacht. Seine Brust war schwach, leicht konnte sich eine Erkältung in seiner Lunge festsetzen; und so sehr ihn die halbgeöffnete Thür auch in Versuchung führte, sie konnte ihn nicht vergessen lassen, daß seine Füße naß waren.
Wieder knarrten die Dielen; die Thür seines Zimmers wurde leise geschlossen dann war wieder alles ruhig, und Teresa erkannte erst, daß er das Wohnzimmer betreten hatte als sie hörte, wie er die verriegelte grüne Thür zu öffnen versuchte. Dann mußte er wieder hinausgegangen sein, denn sie hörte ihn an der nach der Treppe führenden Kammerthür.
Wiederum entstand eine Pause. Teresa zog geräuschlos den Riegel zurück und öffnete die Thür nur auf Haaresbreite Sie hörte ihn den Schlüssel in einem Arbeitstische umdrehen, der nur Cirkuläre, Quittungen und ein paar Bücher enthielt.
Selbst angesichts des Schrankes war sein erster Gedanke, in den Papieren Carmina’s den Beweis ihrer Intrigen zu finden.
Nach dem Tone zu schließen, in welchem er etwas vor sich hin brummte, mußte ihn der Inhalt des Arbeitstisches enttäuscht haben. Bei dem nächsten Geräusch fuhr Teresa zusammen; es war ein leichter Schlag gegen die Fassung der Thür, hinter welcher sie stand. Er hatte die Schrankthür aufgeworfen.
Das Klappern des Deckels zeigte ihr an, daß er mit der Untersuchung der Büchse begann, die sie jetzt als einen harmlosen Gegenstand in den Schrank zurückgestellt hatte, nachdem das Gift und die Etikette durch Feuer vernichtet worden waren. Daß er von Dutzenden anderer Dinge, die auf dem Börde standen, gerade die Büchse auswählte, erfüllte sie plötzlich mit mißtrauischer Ueberraschung. Sie wollte nicht nur hören, sondern jetzt auch sehen, was er machte, und um ihn auf der That zu ertappen, stieß sie die Thür auf – gerade in dem Momente, wo er entdeckt haben mußte, daß die Büchse leer war, denn ein schwacher Fall verrieth, daß er dieselbe auf den Boden geworfen hatte.
Sie hatte die Schrankthür vergessen, die, jetzt weit offen stehend, den Eingang zur Kammer versperrte und beide vor einander vollständig verbarg. Für den Augenblick stutzte sie und zögerte, ob sie sich zeigen sollte oder nicht. Da hörte sie seine Stimme.
»Vielleicht ist noch eine da,« sagte er für sich, »welche diese alte Schmutzvettel versteckt hat.« – Weiter hörte sie nichts. »Diese alte Schmutzvettel« war mehr, als sie ertragen konnte! Sie vergaß ihre Absicht, ihn unbemerkt zu beschleichen, vergaß den Vorsatz, nichts zu thun, was Carmina aufwecken könnte: in wilder Wuth stieß sie mit beiden Händen gegen die Schrankthür, so daß dieselbe wie ein Blitz zuflog.
Ein Aufschrei des Schmerzes tönte durch das Haus. Die Thür hatte die rechte Hand Le Franks ergriffen, mit der er gerade in dem Augenblicke wieder in den Schrank hatte langen wollen, und ihm die Finger zerquetscht.
Ohne sich nach ihm umzusehen, rannte sie nach Carmina zurück, die grüne Thür fiel ins Schloß und kein weiterer Schrei wurde gehört. Nichts geschah, was ihre verzweifelte Versicherung, daß der Schrei nur die Täuschung eines lebhaften Traumes gewesen wäre, Lügen strafte. Sie nahm Carmina in ihre Arme und streichelte und liebkoste dieselbe wie ein Kind. »Sieh, mein Herz, ich bin bei Dir wie gewöhnlich und habe nichts gehört. O zittere doch nicht so! Komm – ich will Dich in mein Tuch wickeln und Dir etwas vorlesen. Nein! laß uns lieber von Ovid sprechen.«
Ihre Bemühungen, Carmina zu beruhigen, wurden durch den gedämpften Schall von Männertritten und Frauenstimmen im Zimmer nebenan unterbrochen. Sie öffnete schnell die Thür und bat die Leute, leise zu sein. Ihr Auge überflog die Scene. Le Frank lag ohnmächtig auf dem Fußboden, neben ihm kniete die Wirthin, um nach seiner verletzten Hand zu sehen, und sie hörte, wie die Miether sagten: »Er muß ins Hospital.« Dann schloß sie die Thür sofort wieder.
Capitel LIV
Am Montag Morgen war Mrs. Gallilee, deren Geduld das Aeußerste geleistet hatte, im Stande, sich mit Hilfe Mr. Nulls nach unten in die Bibliothek zu begeben, und als sie sich hier ein wenig ausgeruht hatte, konnte sie aufstehen und allein auf und ab gehen. Sie öffnete ein Buch, und die Zeilen liefen nicht mehr durcheinander. Am Dienstag würde gegen eine Ausfahrt nichts mehr einzuwenden sein. Mr. Null verließ sie in ihrem früheren Temperamente; er hatte sie gefragt, ob sie wünschte, daß ihr Jemand Gesellschaft leiste, sie aber hatte lebhaft geantwortet: »Auf keinen Fall! Ich bin lieber allein.«
Jetzt konnte sie Mr. Le Franks Bericht, den sie am Sonnabend Morgen bekommen, aber nicht zu Ende zu lesen vermocht hatte, ganz zu Ende lesen.
Andere Frauen wären vielleicht durch die Abscheulichkeit des von dem Musiklehrer entworfenen Planes aufgebracht worden; Mrs. Gallilee war nur verletzt, daß er ihr – in ihrer gesellschaftlichen Stellung – zutraute, ein solches Komplott zu begünstigen; das war eine Beleidigung, die sie weder vergeben noch vergessen durfte. Mit Bitterkeit erkannte sie ihre unselige Schwäche, ihm getraut zu haben. Jetzt, da sie wieder frei handeln konnte, hatte sie hinreichenden Grund, seine ferneren Dienste abzulehnen. Ein Glück, daß sie nicht den Fehler begangen hatte, ihm zu schreiben; so konnte er wenigstens keinen Beweis der zwischen ihnen bestandenen Beziehungen aufweisen. Es war abgemacht worden, daß er den Musikunterricht der Mädchen wieder fortsetzen sollte, sobald er überzeugt wäre, daß seine Anwesenheit dort im Hause keinen Argwohn erweckt hätte. Dann war es Zeit, ihm seine Unkosten zu erstatten und ihn zu entlassen.
Da die Unverschämtheit dieses Menschen sie aufgeregt hatte, fühlte sie das Bedürfnis; nach irgend einer angenehmen Beschäftigung für ihre Gedanken.
Auf dem Tische lag die moderne Wissenschaft in jeder Form öffentlicher Bekundung. Hier blies der wissenschaftliche Fortschritt ins Horn, gegen jedes bescheidene Gefühl sterblicher Fehlbarkeit gefeit, sein Anrecht auf die Dankbarkeit der Menschheit proklamierend. Dort stürzte sich die wissenschaftliche Forschung in den Druck, um ihre Wichtigkeit auszuposaunen und jeden Sterblichen, der es wagte zu zweifeln oder abweichender Ansicht zu sein, für einen Fanatiker oder Narren zu erklären – ohne Zeit zu haben, ihre Resultate die Probe der Erfahrung durchmachen zu lassen. Dort schrieben die Leiter der öffentlichen Meinung in Ausdrücken, die auf Newton oder Baron angewandt, übertrieben sein würden; Artikel über Professoren, welche Entdeckungen gemacht haben, die ebenso wenig durch die Zeit erprobt, als von den Kollegen allgemein angenommen worden. Hier wieder Vorlesungen und Abhandlungen zu Dutzenden, die – wenn nichts Anderes – doch wenigstens so viel bewiesen, daß das, was vor einigen Jahren wissenschaftlich anerkannt wurde, wissenschaftliche Verirrung sei – und daß das, was heute wissenschaftlich anerkannt wird, nach einigen Jahren wissenschaftliche Verirrung sein kann. In Monatsheften und Umschauen boten sich die Streitfragen und Diskussionen an, in welchen Immerrecht und Nimmerunrecht die natürliche Neigung des Menschen bekunden, an sich selbst zu glauben, und zwar in dem üppigsten Stadium, das die Welt je gesehen hat. Und dort, last not least, Alles, was die edle Weisheit Faraday’s sah und beklagte, als er die Worte sprach, die nie vergessen werden sollten: »Das Erste und Letzte bei der Bildung des wissenschaftlichen Urtheils ist – die Demuth.«
Der Tisch stand neben der gelehrten Dame; sie suchte auf demselben nach einer interessanten Beschäftigung und erreichte auch ihren Zweck in gewisser Beschränkung.
Unglücklicherweise hatte auch sie die Flügel wissenschaftlicher Forschung entfaltet und daran gedacht, ihre eigene Trompete (mit eulogistischen Echos) zu blasen. Es gelang den Professoren, deren Selbstreklamen sie las, ihre Aufmerksamkeit vollständig in Besitz zu nehmen; ab und zu schweiften ihre Gedanken traurig ab zu den vernachlässigten Fröschen und Kaulquappen in ihrem eigenen Laboratorium. Seit wie vielen Tagen waren diese Lieblinge der mütterlichen Sorge beraubt – vielleicht gerade im kritischen Momente der Bildung! Kein Mensch im Hause verstand die physisch-chemischen Bedingungen, die Regulierung der Temperatur und des Lichts, die verschiedene Nahrung, die die künstliche Umwandlung einer Kaulquappe in einen Frosch beförderte oder nicht. Vielleicht mochten die unbeaufsichtigten Frösche jetzt im Hause umherirren, die zarten Kaulquappen todt, ihre sorgsam präparierte Nahrung von Frischwasserpflanzen und geronnenem Eiweiß in Fäulniß übergegangen sein. Und wer war in erster Linie an den unheilvollen Ereignissen Schuld, welche es hierzu hatten kommen lassen? Ihre verabscheute Nichte!
Mrs. Gallilee erhob sich, um wieder eine Tour durchs Zimmer zu machen.
Nach zwei Regentagen hatte sich der Himmel wieder aufgeklärt, und ein goldener Sonnenstrahl zog sie ans Fenster. Wie sie noch hinaussah, erschien ihr Gatte, der zu Fuß ausging und ein in braunes Papier geschlagenes Packet unter dem Arme trug.
Warum trug er selbst das Packet, da ihm doch die Dienerschaft zur Verfügung stand?
Früher würde Mut. Gallilee ans Fenster geklopft und darauf bestanden haben, daß er sofort umgekehrt wäre und diese Frage beantwortet hätte; aber seit der Katastrophe in Carmina’s Zimmer hatte sein Benehmen Beide einander vollständig entfremdet. Alle seine Erkundigungen nach dem Befinden seiner Frau waren durch Abgesandte eingezogen. Wenn er nicht im Schulzimmer bei den Kindern war, war er jetzt im Klub; und ehe er nicht wieder zur Vernunft kam und demüthig Abbitte that, konnte keine irdische Rücksicht Mrs. Gallilee bewegen, die geringste Notiz von ihm zu nehmen.
Sie setzte sich wieder an den Tisch, um weiter zu lesen. Da brachte der Lakai zwei Briefe, von denen der eine mit der Post angekommen, der andere durch einen Boten in den Kasten geworfen war. Da in letzterer Weise besorgte Briefe sehr oft von Gläubigern kamen, so öffnete Mrs. Gallilee zuerst den abgestempelten.
Derselbe enthielt nichts Wichtigeres als einige Zeilen von einer Gouvernante, die sie für so lange engagiert hatte, bis sie eine Nachfolgerin für Miß Minerva gefunden hätte. Dieselbe wollte, dem Wunsche Mrs. Gallilee gemäß, am nächsten Morgen um zehn Uhr die tägliche Beaufsichtigung antreten.
Der zweite Brief kam von Mr. Null und berichtete das Unglück, welches Mr. Le Frank zugestoßen war. Als Miß Carmina’s ärztlicher Beistand, so schrieb er, sei es seine Pflicht, der Vormünderin derselben mitzutheilen, daß ihr Befinden durch einen Lärm im Hause ungünstig beeinflußt worden sei. Nachdem er dann die Natur dieses Lärms geschildert hatte, fuhr er folgendermaßen fort: »Sie werden, fürchte ich, die Dienste Ihres jetzigen Musiklehrers verlieren; denn mir mitgetheilte, heute Morgen im Hospital gethane Nachfragen scheinen auf ernstliche Folgen schließen zu lassen. Die Konstitution des Verwundeten ist keine gesunde, und die Aerzte sind nicht sicher, ob sie zwei von den Fingern zu retten vermögen. Ich werde mir die Ehre geben, selbst morgen bei Ihnen vorzusprechen, ehe Sie Ihre Ausfahrt antreten.«
Der Eindruck, den diese Mittheilung auf sie machte, kann nur in ihren eigenen Worten wiedergegeben werden. Sie, die aus der bestmöglichen Quelle wußte, daß die Welt von selbst entstanden war, verlor vollständig den Kopf und sagte thatsächlich: »Gott sei Dank!«
Auf Wochen – ja, wenn sich die Befürchtungen des Arztes erfüllten, vielleicht auf Monate hinaus – war sie Mr. Le Frank los. Wenn ihr Gatte in diesem Augenblicke unendlicher Erleichterung erschienen wäre, es wäre möglich gewesen, daß sie ihm vergeben hätte.
Derselbe kehrte aber erst spät am Nachmittage zurück, ging ins Rauchzimmer und verließ das Haus schon wieder nach fünf Minuten. Joseph öffnete ihm dienstfertig die Thür und war, gleich seiner Herrin heute Morgen, überrascht, Mr. Gallilee ein großes Packet in braunem Papier unter dem Arme tragen zu sehen – das zweite, welches derselbe eigenhändig mit aus dem Hause nahm! Außerdem sah Mr. Gallilee außerordentlich verlegen aus, als der Bediente ihn bemerkte. An diesem Abend kam er spät aus dem Klub heim, und Joseph, der aufpaßte, fand seinen Gang unsicher und zog seine eigenen Schlüsse.
Pünktlich um die angesetzte Zeit kam die neue Gouvernante am andern Morgen an. Mrs. Gallilee empfing sie und schickte nach den Kindern.
Das mit der Beaufsichtigung derselben beauftragte Mädchen erschien allein. Die jungen Fräulein würden jedenfalls sofort zurück sein, da der Herr sie zu einem kleinen Spaziergange mitgenommen habe. Sie habe ihm mitgetheilt, daß das Fräulein, welches sie unterrichten solle, um zehn Uhr kommen würde.
Es schlug halb – es schlug elf – und weder der Vater noch die Kinder kamen nach Hause. Zehn Minuten später wurde die Hausthürglocke gezogen, aber Niemand trat ein, als geöffnet wurde; und als Joseph in den Briefkasten sah, fand er einen Brief mit der Adresse seiner Herrin in der Handschrift des Herrn, den er sofort abgab. Bis dahin war Mrs. Gallilee nur ängstlich gewesen. Plötzlich aber hörte Joseph, der außerhalb der Thür diskret auf Ereignisse wartete, mit Heftigkeit die Klingel reißen, und fand seine Herrin in leidenschaftlicher Aufregung. Und sie hatte wohl Ursache dazu – um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Methode, wie Mr. Gallilee die Angst seiner Frau beschwichtigte, war durch ihre Kürze bemerkenswerth. In dem ersten Satze versicherte er ihr, daß sie nicht beunruhigt zu sein brauche, und in dem zweiten erwähnte er, daß er die Mädchen der Luftveränderung halber mit sich fortgenommen habe. Das war unterzeichnet mit seinen Initialen J. G.
Sowie Mrs. Gallilee sich einigermaßen erholt hatte, wurde die ganze Dienerschaft nach der Bibliothek gerufen, wo sie einzeln nach einander streng ausgefragt wurden, ohne daß eins von ihnen Auskunft zu geben wußte – ausgenommen das Mädchen, welches zugegen gewesen war, als der Herr die jungen Fräulein mitgenommen hatte. Und das Wenige, was diese zu sagen hatte, ließ darauf schließen, daß er vor dem Fortgehen die Mädchen nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Maria hatte sich gefügt, ohne über einen so frühen Spaziergang besonders erfreut gewesen zu sein, während Zo (die nie gern ihren Verstand oder ihre Beine anstrengte) offen erklärt hatte, daß sie lieber zu Hause bleiben möchte. Der Herr hatte aber befohlen, daß sie sich sofort anziehen sollten, und zwar so heftig, daß Zo ihn erstaunt angesehen. Mitgenommen hatten sie nichts, außer Mr. Gallilee’s Regenschirm. Joseph hatte den Herrn zuletzt gesehen. Nun haben in England die niederen Klassen in einem einzigen Falle wirkliche Sympathie mit den höheren: Der über ihnen Stehende besitzt ihr Herz und kann auf treue Dienste rechnen, wenn er unsicher auf den Beinen ist. So beschränkte auch Joseph nobler Weise seine Aussagen auf das, was er einige Stunden vorher gesehen hatte, und erwähnte des Packets. Jetzt kam Mrs. Gallilee vermöge ihrer scharfen Fassungsgabe auf die Wahrheit. Die beiden Packete mußten Kleider enthalten haben, die bis zur Abreise einem Komplicen in Obhut gegeben worden waren. Es war aber unmöglich, daß Mr. Gallilee zu den Kleidern und der Wäsche der Kinder gekommen und die nöthige Auswahl getroffen hatte, ohne daß ihm eine Frau behilflich gewesen. Die weiblichen Dienstboten wurden also noch einmal verhört, und Mrs. Gallilee drohte sogar nach der Polizei zu schicken. Die entrüsteten Mädchen riefen im Chorus: »Untersuchen Sie unsere Koffer!« Aber Mrs. Gallilee schlug einen weiseren Weg ein; sie schickte zu den ihr von Mr. Null empfohlenen Rechtsanwälten. Kaum war der Bote abgefertigt, so sprach Mr. Null selbst seinem Versprechen gemäß im Hause vor.
Auch er war aufgeregt. Unmöglich aber konnte er schon von dem Geschehenen gehört haben; brachte er vielleicht schlechte Nachrichten von Carmina – oder von Mr. Le Frank?
»Machen Sie sich auf eine Ueberraschung – eine angenehme Ueberraschung gefaßt,« begann er. »Ich habe ein Telegramm von Ihrem Sohne erhalten.« Und gleichzeitig überreichte er ihr dasselbe.
Dasselbe lautete: »D. 6. September. In Quebec angekommen. Nachricht erhalten von Carmina’s Krankheit. Segle morgen nach Liverpool ab. Um Gotteswillen die Nachricht C. vorsichtig mittheilen, und bitte, Telegramm für mich nach Queenstown.«
Heute war der 7. September; wenn also Alles gut ging, würde Ovid in zehn Tagen in London sein.