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Kitabı oku: «Namenlos», sayfa 16

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V
Brief ohne Unterschrift an Mr. Pendril

Mein Herr!

Ein Wort an Den, der gescheidt ist. Die Freunde einer gewissen Dame verschwenden Zeit und Geld ohne Zweck und Ziel. Ihr Vertrauensmann, der Schreiber, und Ihr Policist von der Criminalabtheilung suchen nach einer Nadel in einem Bündel Heu. Heute ist der neunte October, und sie haben sie noch nicht gefunden: sie werden eben so bald die nordwestliche Durchfahrt 8 finden. Rufen Sie Ihre Hunde zurück, und Sie werden von der Hand der jungen Dame selber Nachricht über ihr Wohlbefinden erhalten. Je länger Sie nach ihr suchen, desto länger wird sie, was sie jetzt ist, für Sie bleiben: verloren.

(Vorstehender Brief enthält auf der Rückseite von Mr. Pendrils Hand noch Folgendes:

Keine Möglichkeit am Tage, um die Inlage auf ihre Quelle zurück zu verfolgen. Poststempelt Charingcroß. Fabrikzeichen von der inneren Seite des Couverts abgeschnitten. Handschrift – wahrscheinlich eine verstellte Mannshand. Schreiber, wer er auch sei, nur zu gut unterrichtet. Keine fernere Spur von der jüngeren Miss Vanstone bis jetzt aufgefunden.)

Drittes Buch
In der Gasse Skeldergate zu York

Erstes Capitel

In jenem Theile der Stadt York, welcher auf dem rechten Ufer der Ouse liegt, befindet sich eine enge Gasse, welche Skeldergate heißt. Sie läuft parallel mit dem Flusse fast genau von Norden nach Süden. Die Pforte, durch welche man vormals nach Skeldergate gelangte, ist nicht mehr vorhanden, und die wenigen alten Häuser, die von der Straße noch übrig sind, wurden in die unglückselige moderne Uniform der weißen Tünche und des Kalkbewurfs gesteckt und so verkleidet. Läden der kleinen und ärmlichen Art, hier und da mit verräucherten Lagerhäusern und trübseligen Wohnhäusern von rothen Ziegelsteinen vermischt, stellen das gegenwärtige Bild von Skeldergate dar. An der Flußseite sind die Häuser in Zwischenräumen durch Gäßchen unterbrochen, welche nach dem Wasser hin laufen und kleine einsame freie Durchsichten schaffen nach auf den vorüber segelnden Barken, welche sich im Hintergrunde erheben. Am Südende hört die Straße plötzlich auf, und der breite Strom der Ouse, die Bäume, die Wiesen, der öffentliche Spaziergang auf dem einen Ufer und der Weg der Schiffszieher auf dem andern bieten sich offen dem Auge des Beschauers dar.

Hier wo die Straße endigt, und auf der vom Flusse abgelegensten Seite führt eine enge kleine Gasse zu dem gepflasterten Fußsteg, welcher über die alten Wälle von York steigt Die eine kleine Häuserreihe die einzige, welche die Gasse besitzt, besteht aus wohlfeilen Logirhäusern, welche auf wenig Fuß Entfernung einen Theil der massiven Stadtmauer zum Gegenüber haben. Dies heißt das Rosmaringäßchen (Rosemary-lane). Nur sehr wenig Licht vermag in dasselbe einzudringen, sehr wenig Leute wohnen darin. Die wechselnde Bevölkerung von Skeldergate geht durch dasselbe, und Spaziergänger auf dem Wallgange, welche sich dessen bedienen, entweder bei dem Hinauf- oder Hinuntergehen, machen sich so geschwind aus dem traurigen kleinen Durchgange fort, als sie nur können.

Die Thür eines der Häuser in diesem verlorenen Winkel von York öffnete sich am Abende des dreiundzwanzigsten September achtzehnhundert sechsundvierzig ohne Geräusch, und ein einzelner Mensch männlichen Geschlechts schlenderte in die Gasse Skeldergate aus dem Verstecke des Rosmaringäßchens.

Indem sich die Person nördlich wandte, lenkte sie ihre Schritte nach der Brücke über die Ouse und dem Mittelpuncte des städtischen Geschäftslebens. Sie trug den Schein achtbarer Armuth an und führte in einer Wachstuchhülle einen Ginghamregenschirm bei sich. Ihre Füße setzte sie mit der sorgfältigsten Achtsamkeit auf alle schmutzigen Stellen auf das Pflaster, und dabei beobachtete sie ihre Umgebung mit zwei Augen von je verschiedener Färbung, einem gallenbraunen Auge, das nach Beschäftigung sich umsah, und einem gallengrünen Auge, das einen ähnlichen Ausdruck hatte. In deutlicheren Worten, der Fremde vom Rosmaringäßchen war kein Anderer, als Hauptmann Wragge.

Was das Aeußere anlangte, hatte sich der Hauptmann nicht zum Bessern verändert seit dem denkwürdigen Frühlingstage, wo er sich Miss Garth an der Thür von Combe-Raven vorgestellt hatte. Der Eisenbahnschwindel des berüchtigten Jahres hatte sogar den trägen Wragge ergriffen, hatte ihn seinen gewöhnlichen Verrichtungen entrissen und ihn zuletzt wie manchen bessern Mann am Boden liegen lassen. Er hatte sein geistliches Aussehen eingebüßt, er hatte mit den Blättern des Herbstes die Farbe verloren. Sein Hutband von Krepp trauerte in Braun darob, daß es nicht mehr schwarz war. Sein schmutzig weißes Halstuch mit Vatermördern war des Todes von alter Leinwand verblichen und war zu der wie die Ewigkeit langen Heimat in die Papiermühle gewandert, um eines Tags im Laden eines Schreibmaterialienhändlers in einem Buche Papier aufs Neue aufzuleben. Ein graues Jagdcollet im letzten Stadium seiner Auszehrung als Wollenstoff hatte den schwarzen Frack früherer Zeiten ersetzt und bewahrte nun wie ein treuer Diener das dunkle Geheimniß von seines Herrn Wäsche vor den Augen einer neugierigen Welt. Von Kopf zum Fuß hatte sich jeder Quadratzoll der Kleidung des Hauptmanns zum Schlimmern verändert; der Mann selbst aber war unverändert geblieben, erhaben über alle Formen des moralischen Mehlthaues, unzugänglich für die Wirkung des gesellschaftlichen Rostes Er war so höflich, so beredet, so schmeichelglatt, wie je. Er trug jetzt ohne Hemdenkragen seinen Kopf so hoch, wie er ihn trug, als er noch jenen Luxus führte. Das strickähnliche Taschentuch um seinen Hals war trefflich gebunden, seine morschen alten Schuhe waren blank geputzt, und was das Kinn betraf, so hätte er sich in der Glätte desselben mit den höchsten kirchlichen Würdenträgern in York messen können. Die Zeit, veränderte Umstände und Verarmung: Alles hatte an Hauptmann Wragge gerüttelt, und Alles war dennoch nicht im Stande gewesen, ihn niederzubeugen. Er durchmaß die Straßen Yorks als ein Mann, welcher über Kleider und Umstände weit erhaben ist: seine Vagabundentünche erglänzte so hell als je auf ihm.

Bei der Brücke angelangt, hielt Hauptmann Wragge an und sah müßig über das Geländer auf die Kähne in dem Flusse hinunter. Es war deutlich zu sehen, daß er keinen besonderen Bestimmungsort zu erreichen und in keiner Art Etwas zu thun hatte. Wie er sich noch hier herumtrieb, schlug die Uhr des Yorker Münsters halb Sechs. Cabs rasselten an ihm vorbei über die Brücke um den Londoner Zug zwanzig Minuten vor sechs Uhr zu erreichen. Nach einem augenblicklichen Zögern schlenderte der Hauptmann hinter den Cabs drein. Wenn es eine von den regelmäßigen Gewohnheiten eines Mannes ist, von seinen Nebenmenschen zu leben, so ist ein Solcher allezeit mehr oder weniger darauf aus, große Eisenbahnhöfe »abzusuchen«. Hauptmann Wragges Erntefeld waren die Menschen, und an diesem unbesetzten Nachmittag war der Yorker Bahnhof ebenso gut ein günstiges Feld, als ein anderes.

Er erreichte das Perron wenige Minuten, nachdem der Zug angekommen war. Von der gänzlichen Unfähigkeit zum Anordnen geeigneter Maßregeln, um große Menschenmassen zu zertheilen, welche eine von den nationalen Eigentümlichkeiten englischer Beamten in Funktion ist, gibt es nirgends ein treffenderes Beispiel, als zu York. Drei verschiedene Eisenbahnlinien führen von früh bis in die Nacht dreierlei Ströme von Reisenden unter einem und demselben Dache zusammen und lassen ihnen freie Hand, mit Beihilfe der verwirrten Eisenbahnbeamtem welche nur dazu beitragen, den Wirrwarr noch zu vergrößern, einen Auflauf von Passagieren zu veranstalten. Die gewöhnliche Verwirrung war aufs Höchste gestiegen, als Hauptmann Wragge aufs Perron kam. Dutzende von Leuten suchten zwölferlei verschiedene Sachen in zwölferlei verschiedenen Richtungen, alle von demselben gemeinschaftlichen Sammelpuncte aus zu erlangen: Alle sahen sich Einer wie der Andere ohne jede Zurechtweisung. Ein plötzliches Auseinandergehen des Haufens in der Richtung nach den Wagen zweiter Classe zu erregte die Neugier des Hauptmanns. Er machte sich bis dorthin Platz und fand einen anständig gekleideten Mann, der unter Beistand eines Packträgers und eines Polizeidieners bemüht war, einige gedruckte Zettel auszulesen, welche aus einem Papierumschlage herausgefallen waren, den ihm seine Reisegefährten in ihrer wahnsinnigen Verwirrung aus der Hand geschlagen hatten.

Indem Hauptmann Wragge mit der allezeit bereiten Höflichkeit, die ihn kennzeichnen, bei dieser Handlung seinen Beistand anbot, bemerkte er die drei auffallenden Worte:

Fünfzig Pfund Belohnung!

gedruckt in fetter Schrift auf den Zetteln, welche er mit auflesen half. Sofort brachte er ein Exemplar davon auf die Seite, um es bei der ersten geeigneten Gelegenheit genauer anzusehen. Als er den Zettel in seiner hohlen und zusammenrollte, heftete er seine verschiedenfarbigen Augen mit hungrigem Interesse auf den Eigenthümer des unglücklichen Umschlags. Wenn ein Mann zufällig nicht fünfzig Pence in seiner Tasche besitzt, so schlägt sein Herz, wenn’s auf dem rechten Flecke sitzt, – — wenn derselbe bei gesundem Appetit ist, so wässert ihm sein Mund beim Anblicke eines andern Mannes, der ein gedrucktes Anerbieten von fünfzig Pfund Sterling, an seine Nebenmenschen gerichtet, bei sich trägt.

Der unglückliche Reisende schlug sein Papier, so gut er konnte, wieder zusammen und ging von dem Perron weg, nachdem er sich beim ersten Bahnbeamten, Mitopfer der Passagiernoth des Tages, welcher so viel Besinnung übrig hatte, um ihn anzuhören, zurecht gefragt hatte. Indem er den Bahnhof nach der Flußseite zu verließ, welche ganz nahe zur Hand war, stieg der Fremde bei der Pforte der Northstreet in die Fähre. Der Hauptmann, welcher seine Schritte ebenfalls verstohlener Weise hierher gelenkt hatte, trat mit in das Boot und benutzte die Zeit des Uebergangs zum entgegengesetzten Ufer, um das Handplacat durchzulesen, welches er zu seiner Aufklärung zurückzubehalten gewußt hatte. Indem er wohlbedacht dem Reisenden den Rücken kehrte, prägte er sich nun folgende Zeilen ein:

Fünfzig Pfund Belohnung!

Entflohen aus ihrer Wohnung am frühen Morgen

des 23. September 1846 = Eine junge Dame.

Alter: Achtzehn

Kleidung: Tiefe Trauer.

Persönliche Erscheinung:

Haare – sehr hellbraun.

Augenbrauen und Wimpern – dunkler.

Augen – hellgrau.

Gesichtsfarbe – auffallend blaß.

Unterer Gesichtstheil – groß und voll.

Gestalt – groß und schlank.

Gang – außerordentlich anmuthig und leicht.

Sprache – offen und sicher.

Benehmen und Haltung – die einer gebildeten fein-

erzogenen Dame.

Persönliche Kennzeichen: Zwei kleine Male

dicht neben einander auf der linken Seite des Nackens

Wäschezeichen: Magdalene Vanstone.

Ist vermuthlich unter angenommenem Namen in

eine Schauspielergesellschaft zu York getreten oder

hat wenigstens den Versuch dazu gemacht.

Hatte, als sie London verließ, einen schwarzen Koffer,

sonst kein weiteres Gepackt.

Jedweder, der über sie solche Mittheilungen machen

kann, daß sie wieder ihren Freunden zugeführt wird, wird

die oben namhaft gemachte Belohnung empfangen.

Man wende sich an die Expedition des Rechtsan-

walts Mr. Harkneß, Coneystreet, in York, oder an

die Herren Wyatt, Pendril und Gwilt, Searlestreet,

Lincolns Inn zu London.

Obschon Hauptmann Wragge gewohnt war, sich vollkommen selbst zu beherrschen bei allen Vorkommnissen des Lebens, so verrieth sich doch sein ungeheures Erstaunen, als er beim Durchfliegen des Placats auf das Wäschezeichen der verlorenen Dame kam, durch einen Ausruf der Ueberraschung, der sogar den Fährmann aufmerksam machte. Der Reisende gab weniger darauf acht. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das gegenüber liegende Flußufer gerichtet, und er verließ das Boot in dem Augenblicke, wo es an den Landungsplatz anlegte, mit großer Eile. Hauptmann Wragge erholte sich von seinem Staunen, steckte das Placat ein und folgte seinem Vormanne zum zweiten Male.

Der Fremde richtete seine Schritte nach der nächsten Straße, die zum Flusse herunter lief, verglich eine Angabe in seinem Taschenbuche mit den Häusernummern auf der linken Seite, hielt bei einer derselben an und zog die Klingel. Der Hauptmann ging zum nächsten Hause weiter, that, als ob auch er dort klingelte, und kehrte dabei dem Reisenden den Rücken zu, anscheinend, als ob er warte, eingelassen zu werden, in Wahrheit aber, indem er mit allen Kräften auf einige Brocken von dem Zwiegespräch lauerte, die beim Oeffnen der Thür hinter ihm sein Ohr erreichen könnten.

Jene Thür wurde denn auch mit aller geziemenden Schnelligkeit bedient, und ein hinreichend belehrender Austausch von Frage und Antwort auf der Schwelle belohnte die Geschicklichkeit des Hauptmann Wragge.

– Wohnt Mr. Huxtable hier? frug der Reisende.

– Ja, mein Herr, war die Antwort, die von einer Frauenstimme kam.

– Ist er zu Hause?

– Jetzt nicht, mein Herr, aber er wird um acht Uhr Abends wieder hier sein.

– Eine junge Dame, glaube ich, war bereits vorhin hier, nicht wahr?

– Ja, eine junge Dame kam diesen Nachmittag.

– Richtig, ich komme in derselben Angelegenheit. Hat sie Mr. Huxtable gesprochen?

– Nein, mein Herr; er ist den ganzen Tag fort. Die junge Dame sagte mir, sie würde um acht Uhr wiederkommen.

– Ganz recht. Ich will wieder vorkommen und Mr. Huxtable zur selbigen Zeit aufsuchen.

– Soll ich einen Namen sagen, mein Herr?

– Nein. Sagen sie, ein Herr habe in Theaterangelegenheiten mit ihm sprechen wollen. Das wird genügen. Warten Sie einen Augenblick, wenn es Ihnen gefällig ist. Ich bin fremd in York, wollen Sie so gütig sein, mir zu sagen, wie ich nach der Coneystreet komme?

Die Frau gab die gewünschte Zurechtweisung, die Thür schloß sich, und der Fremde eilte hinweg in der Richtung der Coneystreet.

Diesmal versuchte Hauptmann Wragge nicht, ihm zu folgen. Das Placat machte es ja handgreiflich klar, daß es die nächste Sorge des Mannes war, mit dem Rechtsanwalt des Ortes in Betreff der verheißenen Belohnung die nöthige Rücksprache zu nehmen.

Der Hauptmann lenkte nun, nachdem er für seinen nächsten Zweck genug gesehen und gehört hatte, seine Schritte die Straße abwärts, wandte sich rechts und bog in die Promenade ein, welche in jenem Theile der Stadt die Flußseite zwischen den Flußbädern und dem Lendal Tower begrenzt.

– Dies ist ja eine Familienangelegenheit! sagte Hauptmann Wragge zu sich selbst, indem er aus alter eingewurzelter Gewohnheit bei der Anmaßung einer Verwandtschaft mit Magdalenens Mutter beharrte. Ich muß sie nach ihrer ganzen Tragweite ins Auge fassen.

Er drückte den Regenschirm unter seinen Arm, faltete die Hände auf dem Rücken zusammen und ließ sich so in den Abgrund seiner eigenen Betrachtungen sanft hinuntergleiten. Die gewisse Ordnung und Sauberkeit, die man an des Hauptmanns Kleidung wahrnehmen konnte, hatte ihr genaues Ebenbild in der Ordnung und Sauberkeit, welche den Gedankengang des Hauptmanns auszeichneten. Es war seine Gewohnheit, seinen Weg vor sich immer durch eine hübsche Aufeinanderfolge von Entweder-Oder zu sehen, und so sah er ihn auch jetzt.

Drei Wege standen ihm offen bezüglich der bedeutenden Entdeckung, welche er so eben gemacht hatte.

Der erste war, in der Sache gar Nichts zu thun.

Unzulässig aus Familiengründen, gleichfalls unzulässig wegen des Geldpunctes: also zu verwerfen.

Der zweite Weg war, sieh den Dank der Freunde der jungen Dame im Werthe von fünfzig Pfund zu verdienen.

Der dritte Weg war, durch eine zeitige Warnung den Dank der jungen Dame selbst zu verdienen, ersterer im Werthe – einer unbekannten Größe.

Zwischen diesen beiden letzten Scheidewegen schwankte der Hauptmann unentschlossen hin und her. Nicht als ob er in Magdalenens Geldmittel einen Zweifel gesetzt hätte; denn er war vollständig unbekannt mit den Umständen, welche die Schwestern ihres Erbtheils beraubt hatten: allein in Folge des Zweifels, ob nicht mit ihrem Verschwinden von zu Hause irgend ein Hinderniß in Gestalt eines sich im Hintergrunde verhaltenden Herrn in Zusammenhange stehe. Nach reiflicher Ueberlegung entschloß er sich, vorläufig noch zu warten und nach den Umständen zu handeln. Mittlerweile war es sein erstes Augenmerk, dem Londoner Bevollmächtigten zuvor zu kommen und selber die junge Dame sicher mit Beschlag zu belegen.

– Ich habe für dieses irregeleitete Mädchen ein Mitgefühl, dachte der Hauptmann bei sich, indem er dabei feierlich die einsame Flußseite auf- und abschritt. Ich habe sie immer angesehen, – werde sie immer ansehen – als eine Nichte.

Wo aber war die dergestalt von ihm adoptierte Verwandte in diesem Augenblicke? Mit anderen Worten, wie konnte eine junge Dame in der kritischen Lage Magdalenens aller Wahrscheinlichkeit nach bis zur Rückkehr von Mr. Huxtable die Stunden hinbringen? Wenn ein Hinderniß in Gestalt eines jungen Herrn im Hintergrunde verborgen war, so war es ein müßiges Beginnen, diese Frage weiter zu verfolgen. Aber wenn die Andeutung, welche das Placat gab, richtig, wenn sie diesen Augenblick in York wirklich allein war, wo konnte sie da wohl sein?

Nicht in den überfüllten Passagen, um damit anzufangen.

Auch nicht bei der Besichtigung der merkwürdigen Gegenstände im Münster, denn die Stunde war schon vorüber, in der man den Dom sehen konnte.

War sie im Wartezimmer der Eisenbahn? Sie würde wohl kaum Dies wagen.

War sie in einem der Hotels? Zweifelhaft, wenn man erwägt, daß sie ganz allein war.

In einem Pastetenbäckerladen? Viel wahrscheinlicher.

Ließ sie sich in einem Cab umherfahren? – Möglich gewiß, aber auch weiter Nichts.

Brachte sie an irgend einem ruhigen Orte im Freien die Zeit hin? Wahrscheinlich genug an jenem schönen Herbstabende.

Der Hauptmann hielt inne, wog die Möglichkeiten des Aufenthaltes an einem stillen Orte und des Besuches in einem Pastetenladen bei sich ab und entschied sich für die erstere von den Beiden. Es war Zeit genug, sie in den Pastetenläden aufzusuchen, in den ersten Hotels nach ihr zu fragen, oder endlich in der unmittelbaren Nähe von Mr. Huxtables Wohnung von Sieben bis Acht sie abzufangen. so lange es hell war, war das Gescheidteste, das Tageslicht zu benutzen, um sich im Freien nach ihr umzuschauen.

Wo? – Die Promenade war ein ruhiger Ort, aber sie war nicht darauf, nicht in der einsamen Straße drüben, welche an dem Abteiwall vorüber zurücklief.

Wo dann?

Der Hauptmann blieb stehen und sah über den Fluß. Da leuchtete sein Gesicht auf, als ob ihm ein neuer Gedanke gekommen wäre, und plötzlich eilte er zur Fähre zurück.

– Der Spaziergang auf den Wällen, dachte dieser pfiffige Mann und zwinkerte dabei schlau mit seinen verschiedenfarbenen Augen. – Der ruhigste Ort in York und der Ort, den jeder Fremde aufsucht.

Nach Verlauf von zehn Minuten befand sich Hauptmann Wragge in voller Thätigkeit aus seinem neuen Forschungsfelde. Er stieg zu den Wällen hinauf, welche die ganze westliche Hälfte der Stadt einschließen, durch die Northstreet-Pforte, von welcher an der Spaziergang rund umläuft, bis er wieder am Südende in dem engen Durchgange des Rosmaringäßchens aufhört.

Es war jetzt zwanzig Minuten über sechs Uhr.

Die Sonne war seit länger, als einer halben Stunde untergegangen, das rothe Licht lag breit und tief unten aus dem wolkenlosen westlichen Himmel; alle sichtbaren Gegenstände schwebten in duftigem Zwielichte, waren aber noch nicht im Dunkel. Die ersten wenigen Lampen blickten in der Straße unten herauf, gleich schwachen kleinen Fünkchen gelben Lichts, als der Hauptmann seinen Gang an einer der ergreifendsten Aussichten Englands vorüber antrat.

Zu seiner rechten Hand breitete sich, je weiter er kam, unter den Wällen das flache Land aus, die reichen grünen Wiesen, dazwischen die Bäume als Grenzlinien der Fluren, in der Ferne die weiten Windungen des Flusses, in der Nähe die einzeln hingestreuten Häuser: Alles entzückend in der Abendstille, Alles verklärt durch die friedliche Ruhe des Abends. Zu seiner Linken hob sich der majestätische westliche Giebel des Yorker Münster hehr über die Stadt empor und fing das letzte und hellste Licht des Himmels auf den Spitzen seiner hochragenden Thürme auf.

Hatte dieser erhabene Anblick das verlorene Mädchen angelockt, um hier zu weilen und zu schauen?

Nein, bis jetzt war nirgends Etwas von ihm zu sehen. Der Hauptmann sah sich aufmerksam um und ging weiter.

Er erreichte die Stelle, wo die Schienen der Eisenbahn sich auf mächtigen Pfeilern ihren Weg durch den alten Wall bahnen. Er hielt an dieser Stelle an, wo das Alles in seinen Mittelpunct ziehende Leben eines großen Eisenbahnunternehmens mit all den Pulsen seines laut rauschenden Treibens lärmend circulirt an der Seite der todten Majestät der Vergangenheit, tief unter den alten historischen Steinen, die da erzählen von dem festen York und den Berennungen desselben vor zwei Jahrhunderten. Er stand aus dieser Stelle und suchte nach ihr abermals, suchte aber vergebens. Andere waren da und schauten hernieder auf die trostlose Geschäftigkeit auf dem Gewirre der Schienen, sie aber war nicht unter ihnen. Der Hauptmann schaute unsicher nach dem immer dunkler werdenden Himmel und schritt weiter.

Er hielt wieder an, wo die Pforte von Micklegate noch steht und jetzt wie vor Alters den Stadtwall schützt. Hier steigt der Pflasterweg einige Stufen hinunter, geht durch das dunkle massive Wachlocal des alten Thores, steigt wieder und setzt seinen Lauf südwärts fort, bis die Wälle wieder an den Fluß treten.

Er machte Halt und spähte ängstlich in die düsteren inneren Winkel des alten Wachlocals.

Wartete sie hier die Dunkelheit ab, um sich vor den Augen der Neugierigen zu bergen?

Nein, ein einsamer Arbeitsmann schlenderte durch das Steingemach, aber sonst regte sich nichts Lebendiges an diesem Orte.

Der Hauptmann stieg die Stufen hinan, welche aus der Pforte führen, und schritt weiter.

Er ging einige fünfzig bis sechzig Schritte auf dem gepflasterten Fußwege fort, auf der einen Seite neben sich die äußeren Vorstädte Yorks, auf der andern eine Seilerbahn und einige Stückchen Küchengarten, die ein leeres Streifchen Boden einnahmen.

Er ging mit eifrig suchenden Augen und beschleunigten Schritten vorwärts, denn dort vorn sah er eine einsame Frauengestalt, welche an der Brustwehr des Walles stand, mit dem Gesichte nach Westen gewendet. Vorsichtig näherte er sich ihr, um seiner Sache gewiß zu sein, ehe sie sich umwendete und ihn sah.

Ja, da stand sie in ihrem langen schwarzen Mantel und Kleide, und das letzte düstere Licht des Abends fiel, mild auf ihr blasses entschlossenes jugendliches Angesicht.

Da stand sie, vor noch nicht drei Monden der verwöhnte Liebling ihrer Aeltern, der köstliche Schatz des Hauses, der nimmer ohne Schutz, nimmer allein gelassen war, da stand sie im lieblichen Aufgange ihrer Jungfräulichkeit, verlassen, hineingeschneit in eine fremde Stadt, hinaus getrieben wie ein Wrack in die weite See des Lebens!

So sehr auch Hauptmann Wragge zum Vagabunden herabgesunken war, ihr erster Anblick brachte sogar die schwer zu erschütternde Sicherheit unseres Mannes außer Fassung. Als sie langsam das Gesicht wandte und ihn ansah, nahm er denn auch seinen Hut ab so aufrichtig achtungsvoll, als er eben in seiner unverschämten Dreistigkeit, die ihn durchs ganze Leben begleitet hatte, noch fähig war.

– Ich habe, glaube ich, die jüngere Miss Vanstone vor mir? begann er. Freut mich außerordentlich in der That aus mehr denn einem Grunde.

Sie sah ihn mit kalter Verwunderung an. Die Erinnerung an den Tag, wo er ihrer Schwester und ihr selbst auf ihrem Heimwege mit Miss Garth gefolgt war, war ihr entschwunden, als er jetzt vor ihr stand, allerdings in Haltung, Benehmen und Kleidung ein ganz Anderer.

– Ich denke, Sie irren sich, sagte sie ruhig. Sie sind mir ganz fremd.

– Verzeihen Sie, versetzte der Hauptmann, ich bin gewissermaßen ein Verwandter. Ich hatte die Ehre, Sie im Frühlinge dieses Jahres zu sehen. Ich stellte mich bei jener mir unvergeßlichen Gelegenheit einer ehrenwerthen Lehrerin in Ihres seligen Vaters Hause vor. Gestatten Sie mir unter ebenfalls sehr erfreulichen Umständen, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Wragge.

Er hatte nunmehr seine ganze Unverschämtheit wiedergewonnen. Fröhlich zwinkerten seine doppelfarbenen Augen, und dabei begleitete er die bescheidene Vorstellung seiner selbst mit einer Tanzmeisterverbeugung.

Magdalene runzelte die Stirn und zog sich einen Schritt zurück. Aber der Hauptmann war nicht der Mann, der sich durch einen kalten Empfang abschrecken ließ. Er klemmte den Regenschirm unter den Arm und buchstabierte lustig seinen Namen zu ihrer bessern Aufklärung.

– W, r, a, doppeltes g, e, Wragge, sagte der Hauptmann, indem er überdies die Buchstaben eindringlich an den Fingern herzählte.

– Ich erinnere mich Ihres Namens, sagte Magdalene. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie sofort verlassen muß. Ich habe zu thun.

Sie versuchte an ihm vorüber zu gehen, um sich nordwärts nach der Eisenbahn hin zu wenden. Er legte sogleich gegen diesen Versuch Verwahrung ein, indem er beide Hände und ein Paar abgetragene schwarze Handschuhe zu höflichem Widerspruche erhob.

– Nicht jenen Weg, sagte er, nicht jenen Weg, Miss Vanstone, muß ich bitten.

– Und warum nicht? fragte sie stolz.

– Weil, antwortete der Hauptmann, dies der Weg ist, der zu Mr. Huxtables Wohnung führt.

In dem unverhohlenen Erstaunen über diese Antwort, beugte sie sich plötzlich vor und sah ihm zum ersten Male näher ins Gesicht. Er hielt ihren argwöhnischem forschenden Blick aus und schien äußerlich sogar sehr angenehm davon berührt.

– H, u, x, – Hux, sagte der Hauptmann, indem er fröhlich seinen alten Scherz wiederholte, t, a, – ta, Huxta; b, l, e, – ble; Huxtable.

– Was wissen Sie von Mr. Huxtable? fragte sie. Was wollen Sie damit sagen, das; Sie ihn mir nennen?

Des Hauptmanns süß geschwungene Lippen kräuselten sich aufs Neue aufwärts. Er gab sofort durch Vorziehen des Placats aus seiner Tasche die beste praktische Antwort.

– Es ist gerade Licht genug übrig, sagte er, für junge (und liebenswürdige) Augen, um noch dabei lesen zu können. Bevor ich in das Persönliche entgehe, welches Ihre schmeichelhafte Frage von mir beantwortet wissen will, bitte ich, schenken Sie dieser Urkunde auf einen Blick Ihre Aufmerksamkeit.

Sie nahm das Placat von ihm. Beim letzten Scheine des Zwielichts las sie die Zeilen, welche eine Belohnung auf ihre Entdeckung setzten, welche eine Beschreibung von ihr wie von einem entlaufenen Hunde in unbarmherzigem Druck zu schnöder Oeffentlichkeit brachten. Keine zarte Erwägung hatte sie auf den Schlag vorbereitet, keine freundlichen Worte milderten ihn, als er kam. Der Vagabund, dessen verschmitzte Augen sie eifrig beobachteten, als sie las, wußte ebenso wenig, als sie, daß das Placat, das er entwendet hatte, ja nur für den schlimmsten Ausgang in Bereitschaft gehalten war und nur für den Fall, wenn alle gemäßigteren Mittel, ihre Spur zu verfolgen, vergeblich versucht worden wären, zur Ausgabe gelangen sollte. Das Placat entsank ihrer Hand, ihr Gesicht überzog sich mit tiefer Röthe Sie wandte sich von dem Hauptmann Wragge weg, als ob sie gar nicht mehr wüßte, daß er noch da wäre.

– O Nora, Nora! sagte sie vor sich hin mit bitterem Schmerz. Nach dem Briefe, den ich Dir schrieb, nach dem harten Kampfe, den es mich kostete, wegzugehen. O Nora, Nora!

– Was ists mit Nora? fragte der Hauptmann mit der äußersten Höflichkeit.

Sie wandte sich zu ihm mit dem Ausdrucke auflodernden Unwillens in ihren großen grauen Augen.

– Ist dies Papier öffentlich geworden? fragte sie, indem sie es mit Füßen trat. Ist das Mal auf meinem Nacken für ganz York beschrieben worden?

– Ich bitte, beruhigen Sie sich, redete ihr der salbungsreiche Wragge ein. Im Augenblicke glaube ich allen Grund zu haben, annehmen zu dürfen, daß Sie eben das einzige in Umlauf gekommene Exemplar gelesen haben. Erlauben Sie mir, es aufzuheben.

Bevor er das Papier erfassen konnte, hatte sie es vom Pflaster aufgerafft, in kleine Stücke zerrissen und über den Wall geworfen.

– Bravo! rief der Hauptmann. Sie erinneren mich an Ihre, arme selige Mutter. Familienzug, Miss Vanstone. Wir Alle erbten unser heißes Blut von meinem Großvater mütterlicherseits.

– Wie kamen Sie dazu? fragte sie plötzlich.

– Mein theures Wesen, ich habe Ihnen schon gesagt, entgegnete ihr der Hauptmann, wir Alle kommen dazu von meinem Großvater mütterlicherseits.

– Wie kamen Sie zu dem Placate?! fragte sie heftig.

– Ich bitte tausend Mal um Verzeihung. Meine Gedanken waren bei dem Familienzug. – Wie ich dazu kam? Ganz kürzlich folgendermaßen.

Hier begann Hauptmann Wragge seine persönliche Angabe, indem er wie gewöhnlich die längsten Worte der englischen Sprache zu schönster rednerischer Verbrämung mit wenig Witz und viel Behagen zusammensuchte. Da er bei dieser seltenen Gelegenheit durch Verheimlichung Nichts zu gewinnen hatte, so ging er von seiner gewöhnlichen Weise ab und erlaubte sich mit dem Ausdrücke seines eigenen außerordentlichen Erstaunens über seine Lage die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.

Die Wirkung der Erzählung auf Magdalenen erfüllte indessen keineswegs die darüber vorausgefaßten Erwartungen desselben. Sie war nicht betroffen, sie war nicht beunruhigt, sie zeigte keine Neigung, sich seinem Mitleid anzuvertrauen und seinen Rath zu suchen. Sie sah ihm fest ins Angesicht. Alles, was sie sagte, als er seinen letzten Satz mit schöner Rundung herausgedrechselt hatte, war:

– Fahren Sie fort!

– Fortfahren? wiederholte der Hauptmann. Bedaure sehr, Sie darüber enttäuschen zu müssen, aber in der That, ich bin fertig.

– Nein, Sie sind es noch nicht, begann sie wieder; Sie haben das Ende Ihrer Geschichte ausgelassen. Das Ende davon ist: Sie kamen hierher, um mich auszuspähen, und Sie wollen die fünfzig Pfund Belohnung gewinnen.

Diese sehr deutlichen Worte verblüfften den Hauptmann so vollständig, daß er für den Augenblick sprachlos dastand. Aber er hatte allerhand schlimme Wahrheiten viel zu oft anhören müssen, als daß er auf die Länge nicht hart gesotten geworden sein sollte. Ehe Magdalene ihren Vortheil wahrnehmen konnte, hatte der Vagabund sein Gleichgewicht wieder erlangt: Wragge war wieder er selber.

– Schlau, sagte der Hauptmann, indem er gutmüthig lachte und mit seinem Regenschirm auf dem Pflaster trommelte. Einige Menschen hätten das wohl ernst genommen. Ich bin so leicht nicht zu beleidigen.

8.Durch das Polarmeen W.

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04 aralık 2019
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