Kitabı oku: «Verbergen und Suchen», sayfa 6
Sechstes Kapitel – Die Erzählung – Erster Teil
Es hat in der Wohnung des Rektors dreiviertel auf zwölf geschlagen und der Herbstmorgen ist wunderschön. Vance, Doktor Joyces Bedienter, ein Mann im mittlern Jahren, oder »BischofVance«, wie die kleinen Witzlinge Von Rubbleford ihn nennen, als Anspielungen auf seine stattliche und feierliche Erscheinung, sein ehrwürdiges Benehmen, seine geistliche Krawatte und seine fleckenlosen schwarzen Kleider, stellt den Kuchen und die Schokolade mit so vieler zeremonieller Förmlichkeit und pedantischer Genauigkeit auf den Speisetisch, als wenn sein Herr einen Erzbischof statt die Frau eines Clowns und ein zehnjähriges kleines Mädchen zum Frühstück erwartete. Es ist ein ergötzlicher Anblick, Vance auf und abgehen zu sehen, um die allgemeine Wirkung zu betrachten, welche Messer und Gabel machen, wenn er sie auf den Tisch legt, oder wie er feierlich in dem Zimmer auf und ab spaziert, eine reine Serviette langsam in seiner Hand schwingend, oder wenn er mit der Miene eines Beschützers dem hübschen Hausmädchen an der Tür gegenüber steht und ihm Teller und Schüsseln mit dem Gebaren eines Küchensultans aus der Hand nimmt, der sich einmal herablässt, auch nur einen Augenblick lang, seine Würde in der Gegenwart der weiblichen Sklavinnen zu verlieren. Das Fenster des Speisezimmers gewährte eine Aussicht nach dem Garten, wo man unter den Bäumen auf einem schattigen Sitze Frau Joyce im Freien arbeiten sieht. Eine ihrer Töchter sitzt auf dem Rasen zu ihren Füßen und liest, während die andere die jüngern Kinder wechselnd auf einem großen schwarzen Neufundländerhund reiten lässt, der mit heraushängender Zunge langsam vorwärts schreitet und leise mit seinem großen haarigen Schweife wedelt. Ein hübscheres Bild des häuslichen Glückes als dasjenige, welches die Aussicht durch das Fenster der Rektorwohnung jetzt darbietet, könnte schwerlich in ganz England gefunden werden.
Die häusliche Ruhe ist jedoch nicht gänzlich ungestört. Bei dem Bilde, von dem Vance und der Frühstückstisch den Vordergrund und der Garten mit Frau Joyce das Zentrum und den Hintergrund bilden, gleitet von Zeit zu Zeit eine unruhige Gestalt vorüber, welche niemals müde wird, sich hier, dort und überall rastlos hinzubegeben.
Diese Gestalt ist Valentin, der in der Tat niemanden weder im Hause, noch im Garten vom frühen Morgen an in Ruhe gelassen hat. Der Rektor, der einige Briefe zu schreiben hat, hat sich verzweiflungsvoll in seinem Zimmer eingeschlossen und trotzt seinem aufgeregten Freunde in dieser Festung, bis die Ankunft der Frau Peckover und des taubstummen Kindes des Malers schreckliche Ungeduld nach dem zwölften Glockenschlage und nach dem Besuche aus dem Zirkus gestillt hat. Herr Blyth hat den unglücklichen Vance verdrießlich gemacht, gequält und außer Fassung gebracht, bis er von unterdrücktem Zorne ganz erschöpft aussieht. – Herr Blyth ist in sein Heiligtum gedrungen, um ihn zu fragen, ob die Uhr in der Vorhalle richtig gehe, und hat ihn überrascht, wie er sich im offenen Hemde wusch. Herr Blyth hat eins seiner Gläser zerbrochen und auf ungestüme Weise darauf bestanden, ihm zu zeigen, wie man den Pfropfen aus einer Weinflasche herauszöge. Wenn dies ein oder zwei Tage noch so fort gehen sollte, so würde sich Vance sicherlich gezwungen sehen, obgleich er schon zwanzig Jahr beim Rektor im Dienste stand, ihm denselben aufzukündigen.
Es fehlen noch fünf Minuten an Zwölf. Frau Joyce und ihre Töchter nehmen, von Leo begleitet, ihre Plätze ein und sahen frisch und nett in ihren glänzenden Morgentoiletten aus. Der Doktor tritt mit seinem beendigten Briefen ein und begrüßt Valentin mit einem harmlosen geistlichen Scherze. Vance stellt die frühere vollkommene Ordnung auf dem Frühstückstische wieder oberflächlich her. Die Uhr schlägt zwölf, ein schwaches leises Läuten wird an der Glocke der Rektorwohnung gehört.
Vance schreitet leise nach der Thür, als – o Himmel und Erde! Werden keine Hausgesetze von diesen Malern für heilig gehalten? – Herr Blyth mit einem Ausrufe »hier sind sie!« bei ihm vorbeistürzt und nach der Vorhalle eilt, um das Tor selbst zu öffnen. Vance dreht sich feierlich nach seinem Herrn um, zitternd und purpurrot im Gesichte, mit einem anklagenden Ausdrucke, welcher deutlich genug sagt:
»Wenn Sie eine solche Kränkung ertragen wollen, mein Herr, so erlaube ich mir, Sie ergebenst zu benachrichtigen, dass ich nicht gesonnen bin, ein Gleiches zu tun.« Der Rektor bricht in ein lautes Lachen aus; die jungen Damen folgen seinem Beispiel; der Neufundländerhund springt auf und bellt laut dazwischen. Frau Joyce sitzt still, betrachtet Vance und bedauert ihn.
Die Stimme des Herrn Blyth ist bald wiederum sehr vernehmlich hörbar, ohne dass seiner Rede irgendeine Antwort gegeben wird. Die Tür des Speisezimmers, welche zugefallen ist, wird plötzlich aufgestoßen, und Valentin erscheint mit der Miene des höchsten Triumphes und der höchsten Glückseligkeit, Frau Peckover und das taubstumme Kind hereinführend, so dass er für den Augenblick unbedingt schön aussieht. Der Rektor, welcher im besten und edelsten Sinne des Wortes ein Gentleman ist, empfängt Frau Peckover so höflich und herzlich, wie er die vornehmste Dame von Rubbleford empfangen haben würde. Frau Joyce nähert sich mit ihm ebenfalls freundlich, aber trotzdem ein wenig zurückhaltend in ihrem Benehmen. Die jungen Damen fallen in reizenden Stellungen zu jeder Seite des Kindes nieder und sind geradezu vor Entzücken über die Schönheit desselben außer sich. Der Hund tritt hinzu und steckt seine Schnauze gesellig zwischen sie. Vance steht verdrießlich an der Wand und missbilligt den ganzen Vorgang aufs strengste.
Die arme Frau Peckover! Sie ist niemals in einem solchen Hause wie der Rektorwohnung gewesen, sie hat niemals vorher in ihrem Leben mit einem Doktor der Theologie gesprochen. Sie war sehr erhitzt, rot und zitternd, machte fürchterliche grammatikalische Fehler und schmiegte sich so furchtsam an Herrn Blyth, wie wenn sie ein kleines Mädchen gewesen wäre. Es gelang dem Rektor jedoch bald, ihr einen bequemen Platz am Tische anzuweisen. Sie machte Vance eine ehrerbietige Verbeugung, als sie bei ihm vorbeiging, da er ohne Zweifel den Eindruck auf sie gemacht hatte, als wäre er ein zweiter Doktor der Theologie, der noch größer und gelehrter als der erste war.
Frau Joyce musste ihre Töchter dreimal rufen, ehe sie dieselben bewegen konnte, zum Frühstückstische zu kommen. Wenn sie Valentins Auge für das Romantische und Schöne besessen hätte, würde sie gewiss nicht im Stande gewesen sein, die Gruppe, welche ihr dritter Ruf unterbrach, zu zerstören.
In der Mitte stand die taubstumme Marie in einem weißen Kleide, darüber eine kleine seidene Mantille, welche aus einem abgelegten Gewande, das einer von den Damen des Zirkus gehört hatte, gemacht war. Sie trug einen einfachen Strohhut, verziert mit einem schmalen, weißen Bande, der mit einem ähnlichen unter dem Kinn befestigt war. Ihre helle, zarte Gesichtsfarbe war von einem rötlichen Schimmer angehaucht, ihre wunderbaren blauen Augen, die so traurig in dem grellen Gaslichte aussahen, schienen jene Trauer in der milden Atmosphäre des Speisezimmers verloren zu haben. Die zarte und rührende Stille, welche ihr Trübsal über ihr Gesicht verbreitet hatte, schien ein wenig in Widerspruch mit der kindlichen Unreife der Gesichtszüge, aber harmonierte ausgezeichnet mit dem ruhigen Lächeln, welches ihr eigentümlich schien, wenn sie glücklich war – dankbar und ungeniert glücklich, wie sie sich jetzt unter ihren neuen Freunden fühlte, die sie nicht wie eine Fremde und Geringere aufnahmen, sondern wie eine jüngere Schwester, welche lange von ihnen getrennt gewesen war.
Sie stand neben dem Fenster, die mittlere Figur der Gruppe, und reichte der ältesten Tochter des Rektors, welche an ihrer rechten Seite auf einem Schemel saß, eine kleine Schiefertafel, an der ein Stift hing. Die zweite von den jungen Damen kniete auf der anderen Seite, hielt ihre beiden Arme um des Hundes Nacken geschlungen und verhinderte so, dass er Mariens Gesicht beleckte, wozu er bereits von dem ersten Augenblicke an, wo sie in das Zimmer getreten war, mehrere kühne Versuche gemacht hatte. Sie sprachen so eifrig mit ihr, als wenn Marie hören und ihnen antworten könnte, – während sie stillstand und abwechselnd von einer nach der andern blickte und der ältesten Tochter die Schiefertafel hinhielt, damit sie darauf schriebe.
Dieses reizende Bild brachte Frau Joyce ohne Erbarmen in Unordnung. Die jungen Damen wurden zu ihrer Mutter gerufen, das Kind zwischen Valentin und Frau Peckover gestellt und das wichtige Geschäft des Frühstücks nahm seinen Anfang.
Es war wunderbar zu hören, was Herr Blyth alles faselte, wie er abwechselnd die Frau des Clowns belobte, weil sie ihr Versprechen so pünktlich gehalten hatte, und dann den Rektor triumphierend frug, ob er nicht zu wenig von der Schönheit der kleinen Marie gesagt, statt dieselbe übertrieben zu haben. Es war ebenfalls wunderbar, Frau Peckovers verschämtem Blick das Erstaunen anzusehen, als sie bemerkte, dass der strenge Doktor der Theologie, der ihre Verbeugung kaum zu beachten schien, sich plötzlich so weit herabließ, sie sanftmütig mit allem dem zu versehen, was sie zu essen oder zu trinken wünschte.
Der Rektor, welcher ein scharfer Beobachter in seiner eigenen, ruhigen, unablässlichen Weise war, wurde durch zwei Eigentümlichkeiten, welche er während des Frühstücks an dem Benehmen der kleinen Marie bemerkte, angezogen. Zuerst gewahrte er mit einiger Teilnahme und Erstaunen, dass, während die Frau des Clowns sich sehr scheu und verlegen unter Fremden, welche in ihrer sozialen Stellung .ihr überlegen waren, benahm, die kleine Marie hingegen vom ersten Augenblicke an, wo sie in das Speisezimmer trat, ihre Fassung behielt und sich unbewusst ihrer neuen Umgebung anpasste; zweitens, dass sie sich beständig an Valentin hing, ihn öfters als irgendjemanden anders betrachtete und immer und zuweilen nicht ohne Erfolg zu versuchen schien, dass sie seinen Ausdruck, seine Manier, die Bewegungen seiner Lippen beobachtete, um zu verraten, was er zu den andern sagte. Der Charakter dieses Kindes ist kein gewöhnlicher, ihr Herz ist ausgebildeter, als ihr Aussehen verspricht, und sie liebt Blyth fast schon ebenso sehr, als er sie liebt. »Der gute alte Valentin! Es ist angenehm zu sehen, dass seine ganze Begeisterung nicht bloß an einen kleinen Narren und an ein hübsches Gesicht vergeudet worden ist.«
Als das Frühstück vorüber war, flüsterte das älteste Fräulein Joyce ihrer Mutter bittend zu: »Mama, dürfen Karoline und ich dem lieben kleinen Mädchen unsere Gärtchen zeigen?«
»Gewiss, meine Liebe, wenn sie mit Euch gehen will. Du solltest sie lieber fragen, – ach mein Gott! ich vergaß – ich meine auf ihre Tafel schreiben. Der Gedanke, dass sie taubstumm ist, betrübt mich so sehr, wenn ich sie dort so hübsch und glücklich sitzen sehe. Sie scheint gern Kuchen zu essen, erinnere mich Emilie, dass ich welchen für sie einpacke.«
Emilie und Karoline gingen sogleich zum Kinde und gaben ihr durch Zeichen zu verstehen, dass sie etwas auf die Tafel schreiben wollten. Sie schrieben abwechselnd mit unglaublichem Enthusiasmus darauf, bis sie eine Seite ganz voll geschrieben hatten, und setzten am Ende einer jeden Zeile in der geschäftsmäßigsten Weise ihre Anfangsbuchstaben darunter.
Das Kind nickte stets mit dem Kopfe, lächelte bei jeder neuen Einladung, drehte dann die Tafel um und fing erfreut, dass sie ihre Schreibkunst zeigen konnte, langsam einige große außerordentlich schief stehende Druckbuchstaben, aufzuzeichnen an. Sie brauchte eine lange Zeit dazu, besonders da Herr Blyth unterdessen atemlos über ihre Schulter sah.
Einige Minuten später gingen die beiden jungen Mädchen und die kleine Marie über den glänzenden freien Platz, Leo, der einen Stock in seiner Schnauze trug, dicht hinter ihnen.
Valentin und Doktor Joyce sahen einander bedeutungsvoll an. Vor dem Frühstücke hatten sie sich an jenem Morgen laut getroffener Übereinkunft zu einer geheimen Unterredung eingeschlossen, während welcher Herr Blyth ungewöhnlich ruhig und sehr ernst gestimmt gewesen war. Der Doktor war anfangs in seiner gutmütigen Weise ungläubig und sarkastisch geblieben, sprach aber endlich sehr ernst und hatte unter gewissen Bedingungen ein Versprechen von sich gegeben. Die Zeit zur Erfüllung dieses Versprechens war jetzt herangekommen.
»Sie brauchen nicht zu warten, Vance«, sagte der Rektor. Lassen Sie nur alles hier auf dem Tische stehen. Ich will klingeln, wenn ich Ihrer bedarf.«
Vance ging verdrießlich hinaus.
»Da uns die Mädchen jetzt verlassen haben, Frau Peckover«, sagte Doktor Joyce, »so bietet sich für mich eine gute Gelegenheit dar, Ihnen im Namen meines alten Freundes, des Herrn Blyth hier, einen Vorschlag zu machen, welcher, wie sie schon bemerkt haben müssen, großes Mitleid und Liebe für ihre kleine Marie hegt. Bevor ich aber diesen Vorschlag erwähne, möchte ich, möchten wir alle wissen, ob Sie uns nicht etwas Näheres über dieses arme Kind mitteilen könnten; oder fühlen Sie irgendein Widerstreben, uns im Vertrauen zu sagen, was Sie wohl von ihr wissen?«
»O nicht doch, mein lieber Herr«, rief Frau Peckover erstaunt aus, »ich würde mich schämen, irgendeinen Einwand zu machen gegen alles, was Sie über die kleine Marie zu wissen wünschen; aber ich befürchte nur – ich weiß, es ist sehr töricht – aber es ist mir sonderbar, hier an einem so schönen Platze zu sein und mit vornehmen Leuten Wein zu trinken – und ich hatte fast Furcht —«
»Ich hoffe, Sie ängstigen sich nicht darüber«, sagte der Rektor freundlich. »Glauben Sie mir, Frau Peckover, dass ich es aufrichtig meine, wenn ich Ihnen sage, dass wir uns hier auf demselben Wege begegnen. Herr Blyth hat mir von Ihrer mütterlichen Güte erzählt, welche Sie für das arme hilflose Kind gehabt haben, und ich bin wirklich stolz darauf, ihre Hand zu schütteln, und glücklich, Sie hier zu sehen als eine Person, welche immer ein ehrenwerter Gast in dem Hause eines Geistlichen sein sollte – als die Vollbringerin einer guten und christlichen Tat.«
Frau Peckovers Augen fingen an, sich mit Tränen zu füllen. Sie hätte in diesem Augenblicke anbetend vor Doktor Joyce niederfallen können.
Sie fasste sich aber bald wieder und begann ihre Erzählung, zuweilen ihre Worte an den Doktor, zuweilen an Frau Joyce, zuweilen an Valentin richtend. Von Anfang bis zu Ende, wurde sie nur selten durch ein Wort der Ermutigung, des Mitgefühls oder des Erstaunens von ihren Zuhörern unterbrochen. Sogar Herr Blyth saß ganz gegen seine Gewohnheit still und schweigsam da: sein Antlitz allein zeigte den abwesenden Einfluss, welchen die Geschichte von ihrem sonderbaren Anfange bis zu ihrem traurigen Ende auf ihn ausübte.
»Es ist länger als zehn Jahre her«, mein Herr, fing die Frau des Clowns an, zuerst zu Doktor Joyce sprechend, »seitdem mein kleiner Thomas geboren wurde. Nachdem ich mich kurze Zeit von meiner Entbindung erholt hatte, ging ich an einem Nachmittage mit dem Säugling und Jemmy, meinem Manne, spazieren. Wir waren damals in Bangbury und wollten gerade den Zirkus aufbauen: es war eine schöne, große Landschaft und wir hofften dort ein gutes Geschäft zu machen. Jemmy und ich mit dem Säugling schritten in das Feld und amüsierten uns prächtig. Wir gingen darauf auf der Chaussee nach Bangbury zurück und gerade, als wir zur Stadt gelangten, sahen wir eine junge Frau auf einer Bank sitzen, einen Säugling in ihren Armen haltend, gerade wie ich den meinigen hielt.
»Wie schrecklich krank und schwach sie aussieht, nicht wahr?« sagt Jemmy. Ehe ich ja sagen konnte, tritt sie hastig an uns heran und fragt mit aufgeregter, doch nicht allzu lauter Stimme, ob wir ihr nicht den Weg nach dem Bangbury-Arbeitshause zeigen könnten. Da wir beide ziemlich scharfe Augen hatten, begriffen wir leicht, dass ein Arbeitshaus kein passender Platz für sie wäre. Ihr Kleid war bestäubt, einer ihrer Schuhe zerrissen, ihr Haar hing in Unordnung über ihr Gesicht und ihre Augen waren in ihrem Kopfe eingesunken; aber wir sahen, dass sie einigermaßen eine Dame wäre, – oder wenn nicht gerade eine Dame, dass auf keinen Fall ein Arbeitshaus ein passender Ort für sie wäre. Ich beugte mich nieder, um mit ihr zu sprechen, aber ihr Kind weinte so fürchterlich, dass sie mich kaum verstehen konnte. »Ist das arme Kind krank?« fragte ich. »Es verhungert«, sagte sie in einem so verzweifelten, fürchterlichen Tone, dass es mir einen Stich ins Herz gab. »Ist es Ihr Kind?« sage ich, ein wenig ängstlich über die Antwort, welche ich von ihr erhalten würde. »Ja«, sagt sie in einem ganz veränderten Tone, sehr sanft und betrübt und beugte sich von mir weg mit ihrem Gesicht über das Kind. »Warum säugen Sie es denn nicht?« frage ich. Sie sieht mich, dann Jemmy an, schüttelt mit dem Kopfe und sagt nichts. Ich gebe mein Kind Jemmy zu halten und setze mich dicht zu ihr. Jemmy ging ein wenig bei Seite und ich flüstere ihr wieder zu, »warum säugen Sie es nicht?« und sie sagt ganz leise zu mir, »die Milch ist mir vergangen.« Sobald ich dies hörte, zögerte ich nicht länger und legte den Säugling sogleich an meine eigene Brust.
Das war das erste Mal, wo ich die kleine Marie säugte. Sie war noch keinen Monat alt und ach! so schwach und klein! so ein Wurm von Säugling!
Sie können sich wohl leicht denken, mein Herr, dass ich viele Fragen an die junge Frau richtete, während ich neben ihr saß. Sie starrte mich mit einem trüben Blick in ihrem Gesichte an, anscheinend ganz betäubt von Müdigkeit und Kummer oder von Weinen. Zuweilen gab sie mir eine Antwort, zuweilen nicht. Sie war sehr verschwiegen. Sie wollte nicht sagen, woher sie käme, wer ihre Freunde wären oder wie sie hieße. Sie sagte, sie würde niemals wieder Namen, Heimat noch Freunde haben. Ich blickte gerade einmal verstohlen nach ihrer linken Hand, sah, dass sie keinen Trauring um ihren Finger hatte, und erriet, was sie sagen wollte. »Weiß der Vater des Kindes, dass Sie auf diese Weise umherirren?« frage ich. Sie wird sogleich purpurrot und sagt: »Nein! Er weiß nicht, wo ich bin. Er hatte niemals Liebe zu mir und hat auch jetzt kein Mitleid mit mir. Gottes Fluch folge ihm auf allen seinen Wegen! —« »O still! Still!« sage ich, »sprechen Sie nicht so!« »Warum richten Sie Fragen an mich?« fragt sie aufgeregt. »Was für ein Recht haben Sie, mir Fragen vorzulegen, die mich wahnsinnig machen?« »Ich habe Sie nur noch mit einer einzigen zu quälen«, sage ich, »und die ist, haben Sie gar kein Geld bei sich?« Sie sehen, Frau Joyce, jetzt, da ich ihr Kind an meinem eigenen Busen hatte, kümmerte ich mich nicht um das, was sie sagte, noch fürchtete ich mich vor dem, was sie mir tun könnte. Der arme Wurm von Säugling würde sicher früher oder später ein Friedensstifter zwischen uns sein.
Es stellte sich heraus, dass sie nur einen halben Schilling und einige Pfennige bei sich hatte und dass sie zu stolz war, irgendeinen ihrer Freunde um Hilfe anzusprechen. Es gelang mir, so viel aus ihr herauszubringen, dass sie vor ihrer Entbindung ihrer Heimat entlaufen und nach einem fremden Platze gegangen war, um dort entbunden zu werden, wo man sie gemisshandelt und beraubt hatte. Es war noch nicht lange her, dass sie die Elenden, welche ihr dies angetan, verlassen hatte. In der Zeit, wo ich dies alles herausbrachte, war ihr Säugling ganz ruhig geworden und dem Einschlafen nahe. Ich gab ihr ihn zurück, sie sagte nichts, aber sie nahm und küsste meine Hand und ihre Lippen brannten wie glühende Kohlen darauf. »Sie sind hier gern gesehen«, sage ich, ein wenig verwirrt über eine solche sonderbare Art des Dankes. »Warten Sie ein wenig, ich will nur mit meinem Manne sprechen. Obgleich sie unrecht gehandelt hatte, konnte ich doch nicht umhin, sie zu bemitleiden, wie sonderbar sie sich auch benahm. Sie war so jung, so verlassen und krank und hatte ein so reizend schönes Gesicht, die kleine Marie ist ganz ihr Ebenbild, besonders was die Augen anbetrifft, und sie schien einer Dame so ähnlich zu sehen, dass schon der Gedanke fast eine Sünde war, sie nach einem solchen Orte wie ein Arbeitshaus zu schicken.
Wohl an, ich ging und teilte Jemmy alles mit, was ich von ihr erfahren hatte. »Es wäre schrecklich«, sage ich, »eine solche Person nach einem Arbeitshause gehen zu lassen. Was könnten wir aber Besseres tun?« Jemmy sagt: »wir wollen sie mit nach dem Zirkus nehmen – und Peggy Burke fragen.
Sie müssen wissen, mein Herr, Peggy Burke war die schönste Reiterin, die jemals auf einem Pferde ritt. Wir haben keine ähnliche in unserm Zirkus gehabt, seitdem sie zu Astleys ging. Sie ging durch Feuer und Wasser, wie man sagt, um den Leuten zu dienen, welche sie liebte; aber bei denen, welche sie verabscheute, gebrauchte sie ihre Reitpeitsche eben so frei als ihre Zunge. Jener feige, viehische Jubber würde es niemals gewagt haben, meine kleine Marie zu schlagen, wenn Peggy noch bei uns gewesen wäre. Er hatte eine solche Angst vor ihr, dass sie ihn um den Finger wickeln konnte, und sie tat es auch, denn er durfte mit der besten Reiterin in England nicht zanken, weil er befürchtete, sie würde sich in einem andern Zirkus engagieren lassen. Peggy war außerdem ein sehr kluges Mädchen, hatte mich immer sehr gern und nahm meine Partie. Als nun Jemmy sagte, er hielt es für das Beste, sie zu fragen, was wir mit der Person anfangen sollten, so können sie leicht überzeugt sein, dass ich dies auch für das Beste hielt. Wir nahmen also das junge Weib und den Säugling sogleich mit uns nach dem Zirkus. Sie quälte uns durchaus nicht mit Fragen, sie schien sich nicht darum zu kümmern, wohin sie ginge und was sie tat; sie war niedergeschlagen und verzweifelt – ein Anblick, Frau Joyce, der Ihrem Herzen auch sehr wehe getan haben würde.
Man trank gerade Tee im Zirkus und war beinah fertig damit. Gewöhnlich tranken wir Tee und aßen Mittagbrot zusammen dort, da wir fanden, dass dies uns billiger zu stehen kam. Peggy Burke, ich erinnere mich dessen noch, ging draußen auf dem Grase spazieren, und pfiff (das war eine ihrer sonderbaren Gewohnheiten) die Melodie von »Das Mädchen, welches ich verließ«.
»Ach, Frau Peckover«, sagte sie, »was haben Sie jetzt vorgehabt?« Wer ist die Dame, welche Sie mit zum Tee gebracht haben? – Ich teilte ihr, mein Herr, alles mit, was ich Ihnen soeben gesagt habe; während Jemmy das junge Weib auf einem unserer Koffer niedersetzen ließ, besorgte ich ihr eine Tasse Tee. »Es scheint mir fürchterlich«, sprach ich, als ich meinen Tee getrunken hatte, eine solche Person nach dem Arbeitshause zu schicken, nicht wahr?« »Arbeitshaus«, ruft Peggy sogleich auffahrend, »ich wünschte nur, wir könnten des Mannes habhaft werden, der sie in diese unglückliche Lage versetzt hat, um ihn dort für den Rest seines Lebens bei Wasser und Brot unterzubringen. Aber Sie sind ein liebes altes Mädchen, Peck!« fährt sie zu mir gewandt fort, »und Ihre Freunde sind auch die meinigen. Bleiben Sie, wo Sie sind, und lassen Sie mich ein Wort mit der jungen Frau auf dem Koffer sprechen.«
Bald darauf kommt sie zurück und sagt: »Ich bin fertig damit, Peck! Sie ist sehr verschwiegen und so stolz wie Luzifer, aber trotzdem ist sie nur eine Nähmamsell.« »Eine Nähmamsell!«, sage ich, »wie haben Sie dies herausgefunden?« »Nun, ich betrachtete ihren Zeigefinger«, erwiderte Peggy, »und bemerkte Stiche von der Nähnadel daran; es gelang mir auch bald darauf, sie ein wenig zum Sprechen zu bewegen. Sie versteht sich auf Theateranzüge und auf das Zuschneiden« Würden Sie dies jemals geglaubt haben? »Ich will ihr morgen zeigen, wie man dem Arbeitshaus den Abschied gibt, wenn sie nur aushält und vernünftig bleibt. Bleiben Sie, wo Sie sind, Peck! Ich will Jubber veranlassen, seine schmutzige Hand in seine Tasche zu stecken und etwas Geld zu spendieren.« Sie rief Jubber herbei und presste ihm mit der Drohung, seinen Zirkus zu verlassen, zehn Schillinge Vorschuss für ihre Garderobe ab, welche sie mir für das angekommene junge Weib einhändigte. »Ich will schon sehen«, sagte sie hierbei zu mir, »dass die Frau das Geld wieder abverdient, aber heute fällt sie fast vor Müdigkeit um und sie muss ihre Ruhe und ein wenig Abendbrot haben, ehe sie morgen anfangen kann. Nehmen Sie sie mit fort und bringen Sie sie in Ihrem Logis unter; ich will morgen mit einigen Sachen hinkommen, die sie mir machen soll.« Aber mein lieber Herr, sie konnte niemals sechs Pence von diesen zehn Schillingen abverdienen. Sie wurde in der Nacht krank und des Morgens hatte sich ihr Zustand so sehr verschlimmert, dass wir zum Doktor schicken mussten.
Sobald er sie gesehen hatte, ging er mit mir in den Durchgang und frug mich: »Wissen Sie, wer ihre Verwandten sind?« »Nein, mein Herr«, sage ich, »das kann ich nicht aus ihr herausbekommen. Ich traf sie gestern nur zufällig.« »So versuchen Sie es noch einmal, denn ich befürchte, sie wird die Nacht nicht überleben. Ich will des Abends wiederkommen und sehen, ob irgendeine Veränderung eingetreten ist.«
Peggy und ich gingen zusammen in ihr Zimmer, aber wir konnten sie trotz aller Mühe nicht dazu bringen, dass sie mit uns sprach. Auf einmal schreit sie auf: »Ich kann nichts mehr erkennen! Wo ist die Frau, welche mein Kind gesäugt hat, als ich allein auf der Landstraße war?« »Hier!« sage ich, »hier! Hier, ich halte Sie bei der Hand. Bitte, sagen Sie uns, an wen wir Ihrethalben schreiben können?« »Wollen Sie mir versprechen, für mein Kind zu sorgen und es nicht in das Arbeitshaus zu schicken?« fragt sie. »Ja, ich verspreche es«, sage ich, »ich verspreche es Ihnen von ganzem Herzen.« »Wir wollen alle für Ihr Kind sorgen«, sagt Peggy, »versuchen Sie sich nur zu beruhigen und Sie werden sich soweit erholen, um mich auf Garryowens Rücken zu sehen, ehe wir Bangbury verlassen.« »Ich gebe mein Kind«, sagte sie, meine Hand krampfhaft fest haltend, »an die Frau, welche es auf der Landstraße säugte, und ich bete zu Gott, sie zu segnen und mir zu vergeben, um Jesum Christum halber.« Hierauf lag sie ein oder zwei Minuten lang ganz ruhig, dann sagte sie schwach: »sein Name soll Marie sein. Legen Sie es noch einmal zu mir ins Bett, ich möchte seine Wangen noch einmal berühren und noch einmal fühlen, wie weich und warm sie sind.« Und ich nahm den Säugling aus seiner Wiege und legte ihn, schlafend wie er war, neben ihr ins Bett und führte ihre Hand nach seiner Wange. Ich sah, wie sich ihre Lippen ein wenig bewegten, und beugte mich über sie. »Geben Sie mir einen Kuss«, flüsterte sie, »bevor ich sterbe.« Ich küsste sie und versuchte mein Weinen zu unterdrücken, dann sagte ich zu Peggy: »Sie warten hier, während ich zum Doktor laufe und ihn zurückhole, denn ich befürchte, es wird bald mit ihr vorüber sein.« Er war nicht zu Hause, als ich in seiner Wohnung anlangte. Ich wusste nicht, was ich zunächst tun sollte, als ich einen Herrn auf der Straße bemerkte, der wie ein Geistlicher aussah. Dreist frug ich ihn, ob er einer wäre. Er sagte Ja und ging auf meine Bitten mit mir. Ich hörte ein lautes Wimmern und Weinen im Zimmer und sah Peggy auf dem Bündel von Anzügen sitzen, welches sie heute morgen mitgebracht hatte, sich rückwärts und vorwärts wiegend, wie die Irländer es immer beim Weinen tun. Ich trat an das Bett und sah durch die Vorhänge. Das Kind schlief noch, so hübsch wie immer und seiner Mutter Hand berührte einen seiner Arme. Ich war gerade im Begriff wieder mit ihr zu sprechen, als der Geistliche »still« sagte, ein Stückchen Spiegelglas nahm, welches auf dem Kamine stand, und es über ihre Lippen hielt. Sie war verschieden. Ihre arme, weiße, abgemagerte Hand lag tot auf dem Arm des lebenden Säuglings.
Ich beantwortete alle Fragen des Geistlichen offen und ehrlich, indem ich ihm alles sagte, was ich vom Anfang bis zum Ende wusste. Als ich fertig war, springt Peggy von ihrem Bündel auf und sagt: »Was Sie auch immer tun mögen, mein Herr, das Kind darf nicht von dieser Person hier genommen und nach dem Arbeitshause geschickt werden. Die Mutter gab es ihr auf diesem nämlichen Bette, und ich war Zeuge davon, wie sie versprach, dem Kinde eine Mutter zu sein, mein Herr.« Der Geistliche wendete sich zu mir, belobte mich für meine Tat und sagte, niemand solle es von mir nehmen, außer diejenigen, welche Rechte aufzeigen können, um es zu beanspruchen. »Aber jetzt«, sagte er, »müssen wir an andere Dinge denken und besonders versuchen, etwas über die Verhältnisse dieser armen Frau aufzufinden, welche unter so traurigen Umständen gestorben ist.«
Das war leichter gesagt als getan. Das arme Ding hatte nichts weiter bei sich als zwei Hemden für sich und zwei für das Kind, und diese führten zu keiner Entdeckung. Dann durchsuchten wir ihre Tasche, darin war ein weißes Taschentuch, mit M.G. gezeichnet, einige Stückchen Zwieback zum Lutschbeutel für das Kind und der halbe Schilling und die Pfennige, welche sie besaß, als ich ihr begegnete, und unter allen diesen Dingen in einer Ecke, wie wenn es dort vergessen worden wäre, ein kleines Haararmband. Es war aus verschiedenen Haaren gemacht – sehr wenig von einer und sehr viel von einer andern Art. Und auf einem flachen Schlösschen des Armbands war in kleinen Buchstaben eingegraben, »zum Andenken von S.G.« Ich erinnere mich alles dessen sehr wohl, mein Herr, denn ich habe dieses Armband seitdem oft betrachtet.
Wir fanden weiter nichts, keine Briefe, Visitenkarten oder sonst etwas. Der Geistliche meinte, dass das M.G. auf dem Taschentuche die Anfangsbuchstaben ihres Namens sein müssten, und dass das S.G. auf dem Armbande sich wohl auf das Haar eines Verwandten bezöge, welches sie zum Andenken getragen hätte. »Ich will eine Anzeige schreiben«, sagte der Geistliche, »in der ich bekanntmache, wie Ihr mit der jungen Frau zusammentraft, wie sie aussah und wie sie gekleidet war.« »Denken Sie etwas über das Kind zu sagen?« fragte ich. »Sicherlich«, antwortete er, »es ist nur recht, dass wir, wenn wir durch diese Anzeige ihre Verwandten entdecken können, ihnen Gelegenheit geben, etwas für das Kind zu tun. Und wenn sie irgendwo in dieser Grafschaft leben, so glaube ich, werden wir sie auffinden. Denn die Bangburyer Chronik, in welche ich diese Anzeige einrücken lassen will, wird überall in unserm Teile Englands gelesen.«