Kitabı oku: «Der Mann, der gerne Frauen küsste», sayfa 2
Notizbuch Nr. 9
[Im Lauf der Jahre hatte er sich angewöhnt, zu einsamen Restaurantbesuchen ein Notizbuch mitzunehmen, in das er seine Gedanken und Beobachtungen eintrug, weil er sein Alleinsein lieber mit Schreiben als mit Lesen kaschierte.]
Heute keine Crab-Cakes, also bestellte ich verärgert einen Pseudo-Niçoise (ohne Kartoffeln). Dieses Lokal ist berühmt für seine Crab-Cakes, und das ist der Grund, weshalb ich hierherkomme – wie die meisten anderen Gäste. Warum gibt es die Crab-Cakes dann nicht täglich? Habe gerade Slang gesehen, interessanter Thriller, weil sich alles in einer Nacht abspielt. Eine eindeutige Hommage an Raupps Death Valley – man kann es auch Plagiat nennen –, aber ohne die Feinheiten, die liebevolle Figurenzeichnung. Schwächen: abrupte Wechsel von harmlos zu Hardcore; alberne Drehbuchideen (die Lapdance-Szenen, die Sprachschule); unglaubliche Zufälle – immer ein Zeichen versiegender Inspiration. Raupp macht es auch so, aber bei ihm funktioniert es irgendwie. Insgesamt ist der Film einfach nicht stimmig und, wie Pierre-Henri Duprez, glaube ich, mal irgendwo gesagt hat: Vor dem Publikum kannst du nichts verstecken. (Was aber so nicht stimmt: Man schaue sich den Schrott in unseren Kinos an, der gierig, hirnlos und gutgläubig konsumiert wird.)
Tanja würde Slang hassen, glaube ich. Regelrecht hassen.
Ich habe mich über die verpfuschten Loops geärgert, die Schatten des Galgenmikros, einen plump montierten Repeat-Shot. Diese Kritikermacke haben wohl alle Regisseure – einfach nur Cineasten sein, das können wir nicht.
Die Hauptrolle, Michaela Wall, ist umwerfend (eine blondere, langbeinigere Tanja). Letzten Endes ist jeder Genrefilm nur so gut wie seine Besetzung.
Mir gegenüber sitzt eine Frau, die ihre Zigarette in knapp neunzig Sekunden geraucht hat: immer drei kurze Züge hintereinander, dann eine Pause und wieder drei kurze Züge. Ohne zu inhalieren, wie es scheint. Man fragt sich, was sie davon hat.
Hinter ihr eine Mutter mit erwachsener Tochter und zwei schreienden Gören. Dieser Lärm! Dazu ziemlich middle-class, dem Akzent nach. Lassen ihre Kinder einfach quäken und quengeln – die anderen Gäste sind sauer, aber keiner sagt was, typisch englisch.
Tanja ist jetzt dreiundvierzig Minuten zu spät.
Eine atemberaubende Schönheit bedient heute im Verband. Russisch? Jedenfalls osteuropäisch. Der lange Rücken einer Ballerina. Leberflecken auf der Wange, am Hals. Hochgewachsen, schmales Patriziergesicht, Haar straff zum Knoten gebunden. Was macht sie hier? Was ist ihre Story, ihr parcours? Ihr Blick zeigt ein wenig Verachtung, während sie ihren Job macht, Drinks serviert, Geschirr abräumt.
Gerade zurück vom Lunch mit Leo Winteringham im Garrick. Keiner dort schien unter fünfzig, männlich natürlich, übergewichtig, schon ziemlich verlebt. Zigarren und Suff: die etwas anrüchige Fraktion der British Society. Leo W. hat mir angeboten, jeden Film zu finanzieren, bei dem ich Regie führe – und das jetzt schon zum dutzendsten Mal. Seltsame Figur, Leo: unverbesserlicher Amerikaner, trotz all seiner Jahre in England. Mager, echsenartig, schroffer Umgangston – ein merkwürdiger Player in dieser privilegierten englischen Szene (er wurde von allen freundlich begrüßt, zugegeben, nur weil er Geld hat).
Als wir Neuigkeiten austauschten (wer in ist, wer out), erwähnte er, dass Tanja Baiocchi ihren Mann verlassen hat. Nur mit Mühe verbarg ich meinen massiven Schock und sagte, ich hätte gar nicht gewusst, dass sie verheiratet sei. War sie nicht in deinem letzten Film?, fragte er. Ja, sagte ich, aber von einem Ehemann sei nie die Rede gewesen. Na ja, vielleicht kein Ehemann, sagte er, dann eben Freund, dieser französische Regisseur, Duprez. Oh, sagte ich, dann weiß ich Bescheid, na klar – und konnte bestätigen, dass die Trennung, entre nous, echt war, absolut und endgültig.
15.30. In der Verbandsbar ist es still, aber die Leute trinken stur weiter, als wollten sie sich vor dem Nachmittag und dem Nachmittagsfrust drücken. Ich müsste Janet anrufen, wie die Einladungen zum Cast- und Crew-Screening laufen und ob sie mir das Hotelzimmer in New York gebucht hat.
Getrunken: Einen Champagner, bevor ich ins Garrick ging, ein Glas Weißwein in der Bar, zwei Glas Weißen zum Lunch und ein Port (Leo trinkt nicht), und bin nun beim zweiten Glas Weißwein im Verband. Unterm Strich eine Flasche. Mehr als eine Flasche: Ich muss aufhören. Wenn ich mit Tanja zusammen bin, trinke ich nicht annähernd so viel.
New York. Carlyle Hotel. Sitze hier bei meinem Vor-Vor-Aperitif (Bloody Mary) – eine neue Angewohnheit, bedingt durch die Tatsache, dass es nur noch ein paar Stunden bis zum Screening von The Sleep Thief sind. Mir ist ungewohnt flau zumute (das ist mein neunter Film, mein Gott!), und ich weiß, warum: Ich erwarte zu viel. Weil ich den Wert und das Potenzial des Films kenne, setze ich darauf, dass er keine Probleme macht – Cannes, ein US-Verleih, der eine oder andere Preis: Schon bin ich zufrieden. Eigentlich brauche ich nur zu warten, auf die langsam wachsende Aufmerksamkeit, die schon zum Erfolg von Escapade führte. Der Film ist fertig, eine gute Arbeit, wir hatten unseren Spaß, was will man mehr? (Und natürlich: die Begegnung mit Tanja.) Lassen wir es also auf uns zukommen. Dieses Screening bringt gar nichts – kann sein, dass wir auf Cannes warten müssen oder sogar die UK-Premiere; kann sein, dass wir noch länger warten müssen, auf Venedig oder Berlin.
Wäre toll, wenn Tanja heute schon käme und beim Screening dabei sein könnte. Warum kommt sie erst morgen?
Vage Zweifel, ob es mit der Qualität der Kopie klappt, dem Projektor, der Lautstärke. Aber was soll man machen?
Sitze im F.O.O.D. auf der Lexington. Tanja hat ihren Besuch verschoben – noch drei Tage warten. Wäre schön gewesen, wenn sie es zum Screening geschafft hätte (schlecht besucht, enttäuschend, aber der Film kam offenbar gut an. Noch keine Angebote. Die Kopie war grässlich).
Zwei sehr gepflegte Frauen sitzen neben mir, unterhalten sich, mit hinreichender Lautstärke und Klarheit. Sie kennen sich kaum, wie es scheint.
»Wo leben Sie?«, fragt die eine.
»Mexiko.«
»Noch weiter weg als ich – Vermont.«
Pause.
»Wo in Mexiko?«
»San Miguel. Eine schöne Stadt.«
»Oh, da gibt es viele Expatriates, oder?«
»Wir sind eine ganze Menge.«
»Ich habe gehört, Facelifts sind dort spottbillig.«
»Billige Facelifts, billiges Hauspersonal. Es hat seine Vorteile.«
Männergespräche sind langweiliger als Frauengespräche, finde ich, und das sage ich als professioneller Lauscher. Tanja war mal zu einem Dreh in Mexiko. Dort hat sie Duprez kennengelernt, glaube ich.
»Du hast vielleicht kein Alkoholproblem, aber ich habe ein Problem mit deinem Alkoholkonsum.« Belauscht im Bemelmans.
Bizarrer Anblick im Going Loco (East Village). Eine junge Mutter (einundzwanzig?, zweiundzwanzig?), die ihr Baby in einer Ecke des Cafés stillt, bekommt einen Anruf. Sie steht auf, geht ans Fenster des Cafés und telefoniert, das Baby noch an ihrer Brust. Diese Ungezwungenheit, die völlige Abwesenheit von pudeur war absolut bewundernswert. Ich fühlte mich sofort alt und griesgrämig, verklemmt aufgrund meiner Erziehung mit ihren überkommenen Werten und Maßstäben – so schwer zu beseitigen wie ein Tattoo. Ich mag die Atmosphäre in dem Lokal, lebhaft und entspannt; an der Bar esse ich eine scharfe Gazpacho mit viel Knoblauch. Sehr rauchig. Morgen Ankunft Tanja.
16 Uhr. Bemelmans. Trinke Bier und esse Cashewnüsse. Im Lokal lauter alte Leute: die Generation New Yorker, die nachmittags einen Cocktail brauchen. Der Mann neben mir hat gerade einen zweiten Martini Dry bestellt.
Ich war essen bei Tanja. Besuchte sie in ihrer Suite im Plaza, und zu meiner Überraschung traf ich dort auf einen kleinen Jungen, etwa sechs oder sieben. »Das ist Pascal«, sagte sie, als wäre seine Anwesenheit die natürlichste Sache der Welt. Dann sprach Pascal Französisch und sagte Maman zu ihr. Warum zum Teufel nennt er dich so?, fragte ich. Er ist mein Sohn, sagte sie, deshalb. Und sah mich an, als wäre ich der letzte Trottel. Eine Nanny kam ihn abholen, aber ich hatte den Appetit verloren. Beim Essen raffte ich mich zu der Frage auf, ob Duprez der Vater sei, und zu meiner Beruhigung sagte sie Nein. Während unserer acht Wochen beim Dreh von The Sleep Thief hat sie Pascal mit keinem Wort erwähnt. Ist das normal für eine Mutter? Hat sie ihn mir verschwiegen, um unsere Affäre nicht zu stören? Vielleicht dachte sie, ich wisse Bescheid, und weil ich es nie erwähnte, kam es ihr diskreter vor, ebenfalls zu schweigen? Sie kommt heute Abend ins Hotel, sobald das Kind im Bett ist.
Seltsam: Bier trinke ich anscheinend nur in Frankreich und den Staaten. Nie einen Tropfen in England.
Im Pub, The Duke of Kent, Montagmittag. Nichts Essbares in der Wohnung, deshalb bin ich hier. Ein leerer Kühlschrank in einer leeren Wohnung – absolut deprimierend. Ich wollte Janet anrufen und sie etwas beim Take-away bestellen lassen, als mir einfiel, dass sie zu einem Dreh auf Malta ist. Janet und meine zwei Assistentinnen, weg. Ein Filmregisseur muss sich, wenn der Film endlich abgedreht ist, erst wieder daran gewöhnen, den Alltagskram allein zu bewältigen: zur Bank gehen, Sachen von der Reinigung holen, Essen und Vorräte kaufen. Seltsam, wieder auf sich gestellt zu sein, seltsam, nach New York wieder in London zu sein. Vermisse Tanja fürchterlich, es tut richtig weh – sie musste nach L.A., zu ihrem Agenten. Sie hat versprochen, nach Cannes zu kommen … Ich bin besessen von ihrer nervösen, agilen Schönheit. Sie ist immer in Bewegung – agitée, würde man in Frankreich sagen.
Mir gegenüber drei Dicke: riesige, massige Kerle, bei Schweinswurst mit Püree, Schwarzbrot und Butter. Zwei mit großen Gläsern Lagerbier, außerdem steht eine Flasche Rotwein auf dem Tisch, die sie sich teilen. Ich muss langsam an meinen neuen Film denken, aber The Sleep Thief lässt mich nicht los. Während ich noch die ganze Zeit von Tanja träume, läuft der Film, unser Film, weiter, als würden wir die verlorene letzte Filmrolle abspielen. Sie haben gerade Nachspeise und noch mehr Bier bestellt. Ich versuche, mich in der Rolle von Pascals Stiefvater zu sehen: Mit der Tatsache, dass wir künftig bei allen Treffen zu dritt wären, habe ich mich abgefunden. Vielleicht könnten wir ihm einen Internatsplatz besorgen. Benji und Max sind in seinem Alter von zu Hause weggekommen und haben sich all die Jahre in Farnham Hall absolut wohlgefühlt, wie es scheint – wobei mir einfällt: Wo stecken sie jetzt eigentlich? Was machen sie? Mein Caesar-Salat mit Lachs ist gekommen: von Lachs kaum eine Spur.
Café Méridien, Cannes. Hier habe ich gegessen, als ich zum ersten Mal in Cannes war, mit Two-and-a-Half Grand. Ich erinnere mich genau an dieses kleine Bistro, an das Gefühl unbändiger Zuversicht damals – mein erster Film, und ausgewählt für »Un Certain Regard« –, nichts konnte mich aufhalten. Ich weiß noch, wie ich einmal am frühen Morgen an dem Lokal vorbeikam und stehen blieb, um dem Patron zuzusehen, der den Bürgersteig spritzte und dann die Tische eindeckte. Heute früh sah ich einen Mann mit finsterem Blick genau bei der gleichen Arbeit, und mir wurde plötzlich auf merkwürdige Weise bewusst, dass ich vor all den Jahren auf demselben Fleck gestanden und das gleiche Ritual verfolgt hatte, dass sich hier zufällig ein Lebenskreis geschlossen hat, und das punktgenau. Rückblende: Ich war neunundzwanzig Jahre alt. Benji war zwei, Max war unterwegs … Zu denken, dass Annie und ich damals glücklich waren …
Tanja hat aus Prag angerufen, wo sie dreht. Es dauert länger, und sie schafft es wahrscheinlich nicht zum Screening. Herrgott noch mal! Es steht in ihrem Scheißvertrag, dass sie für PR beurlaubt werden muss! Ich muss beim Studio anrufen: The Sleep Thief beim Filmfestival von Cannes ohne Tanja Baiocchi – wie sieht das aus? Welche Botschaft ist das denn?
Das kleine Hotel, in dem ich immer absteige, heißt jetzt Hotel Carlone. In einem Videoverleih fand ich ein altes Video von Dix-Mille Balles (Two-and-a-Half Grand). Ich hätte fast geheult.
Welche Farbe hat Tanjas Haar? Karamell. Butterscotch. Fudge. Toffee … Alles essbar, alles Süßigkeiten.
Idee für den nächsten Film, der Blue on Blue heißen soll – ein Ausdruck bei der British Army, wenn man aus Versehen auf die eigenen Leute schießt.
Betrachtungen über den Nabel: eine Narbe, mit der jedes menschliche Wesen herumläuft … Der Schrei eines Babys braucht keine Übersetzung … Ein Schrei hat keinen Akzent … Ein Gähnen wird überall auf der Welt verstanden … Die banalen Tatsachen des Lebens sind einfach nur wahr, trotz ihrer Banalität.
Habe Terry Mulveheys neuen Film gesehen, The Last Rebel (warum hatte er es in die Director’s Fortnight geschafft – und ich nicht?). Ein absolut lachhafter und doch irgendwie schöner Film. Die Story von Wings of a Dove auf den Amerikanischen Bürgerkrieg übertragen. Es wurde nicht einmal versucht, die Frisuren der Männer an das neunzehnte Jahrhundert anzupassen. Für einen schönen Shot verzichtet Mulvehey auf alles: narrative Glaubwürdigkeit, Figurenentwicklung, Tempo, Spannung. Alles wird dem schönen Shot geopfert. Kompositorisch ist der Film ohne Makel, aber als reale Story über reale Menschen – rien. Eitelkeit und Nichtigkeit. Tanja hat die ganze Woche nicht zurückgerufen. Habe ihr eine SMS geschickt, mit der Frage, wer Pascals Vater sei. Ich fürchte, das war ein kapitaler Fehler.
The Duke of Kent wurde in meiner Abwesenheit in The Flaming Terrapin umgetauft. Seltsamer Name für ein Pub, aber was weiß ich? Wir haben jetzt Musik (fast übertönt vom kollektiven Gebrüll der Gäste), wir haben jetzt stumme Fernseher, die ein regengepeitschtes Golfturnier zeigen, mit Golfern, von denen nur die bunten Regenschirme sichtbar sind. Ich schiebe mein Thai-Hühnchen vom Holzkohlengrill auf dem Teller hin und her und bestelle noch ein Glas goldenen, sonnengesättigten australischen Chardonnay (mein drittes).
Es ist Freitag, Lunchtime, und man spürt das wilde Aufkeimen der Wochenend-Fressgelüste. Diese jungen Leute in ihren besten Jahren fressen und saufen und qualmen, als ginge es um ihr Leben. Und natürlich geht es um ihr Leben, wenn sie nicht aufhören, in dieser Weise zu fressen, zu saufen und zu qualmen. Statt Rule Britannia Fool Britannia. Was ist bloß mit uns los? Wenn ich mir die Leute hier ansehe, sind wir eine Nation von maßlosen Gierhälsen geworden. Dralle Girls trinken literweise Stout und extrastarkes Lagerbier, junge Kerle mit Ziegenbart und geschorenen Köpfen beugen sich über vollgeladene Teller, schaufeln sich die Pasteten und Burger, Spareribs und Bratwürste rein, stopfen sich die Backen und Wänste voll. Ich lasse mein Thai-Hühnchen liegen.
Eben habe ich mich zur Theke durchgekämpft und mir noch ein randvolles Glas Wein geholt. Jetzt merke ich mit Schrecken, dass es »große« Gläser sind, die ich getrunken habe, das heißt, jedes Glas entspricht zwei normalen Gläsern Wein. Kein Wunder, dass ich mich ein bisschen aufgeputscht und taumelig fühle.
Wie werde ich ein erfolgreicher Regisseur, Seite eins, erster Absatz, Regel Nummer eins: Verliebe dich niemals in die Hauptdarstellerin.
Vier biedere japanische Geschäftsleute am Nebentisch haben mich eben gebeten, ein Foto von ihnen zu machen, und ich tat ihnen den Gefallen. Haben wohl kaum geahnt, wer es war, der auf den Auslöser drückte. Ist irgendwas seltsam an diesem Bildmotiv? Vielleicht sollte ich es für die Schlussszene von Blue on Blue verwenden. Einfach die vier Japaner in die Cafészene stecken, bevor sich der Hauptheld erschießt – wie sie sich im Hintergrund fotografieren –, und unkommentiert lassen. Cool.
Zwei ausländische Mädchen – Au-Pairs? Touristinnen? –, eine deutsch, die andere aus Belgien(?), sprechen neben mir am Nachbartisch Englisch, unbeeindruckt von meinem Alkoholkonsum und meiner Nähe. Ich erfahre, dass eine von ihnen, die Deutsche, endlich eine Beziehung mit einem Mann hat, die schon einen vollen Monat hält. Die Freundin zeigt echte, unverfälschte Freude. (Nebenbei: Die Glückseligkeit von Frauen, wenn die Freundin einen Mann findet – kein Gefühl, das beim anderen Geschlecht eine Entsprechung hätte.) Diese Mädchen haben beide einen Salatteller bestellt, dazu Wasser die eine, Orangensaft die andere. Das ist ihr Lunch – erstaunlich. Was lockt sie in ein hektisches, lärmiges Fresslokal wie dieses? Diese Mädchen gehören zu einer neuen, internationalen Spezies, sind auf der ganzen Welt zu Hause, sprechen ein gutes, wenn auch nicht akzentfreies Englisch, eine Art fließendes Euro-Englisch: »I am very bad with separation«, sagt die Deutsche, als sie schon im Gehen begriffen ist. Kein Engländer würde das so sagen, aber man versteht es sofort.
Leo Winteringham hat Blue on Blue abgelehnt.
Sind nicht die einzigen Wahrheiten, für die man sich wirklich verbürgen kann, diejenigen, die man selbst tief empfindet? »Ich bin glücklich« ist etwas, was man nur für sich selbst feststellen kann. Absolut. Alle anderen Interpretationen der Welt, die über einen selbst hinausgehen, sind daher suspekt, bloße Vermutungen und Folgerungen. »Tanja Baiocchi ist eine unfassbar schöne Frau«, »The Sleep Thief ist ein außergewöhnlich schlechter Film« – ich verliere den Faden, der schwere australische Wein macht sich bemerkbar, fordert seinen Tribut. Wie ging diese Zeile bei Tennyson? Der Mensch bestellt das Feld und legt sich in die Grube kann man zu intelligent sein für den Erfolg Leo war meine letzte Hoffnung und nach vielen Sommern stirbt der Schwan aber ich weiß nichts nichts keine Gewissheiten zu haben kann sehr anregend sein kreativ diskutieren was genau ich wirklich weiß Tanja Baiocchi ist zu Pierre-Henri Duprez zurückgezogen ich bin nicht glücklich auch ich bin schlecht in Trennung das Problem mit mir ist dass ich nie [Notizbuch endet hier.]
Eine Heimsuchung
I Los Angeles
Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief – und ich glaube, ich werde verrückt.«
Ich saß in der Business Class eines Jumbojets auf dem Flug nach L.A., als ich diese Sätze in mein Notizheft schrieb – wohl weil ich glaubte, dass mir die einfache Wiederholung meines Namens eine Art Halt bieten würde, während sich mein Verstand verabschiedete. Ich hatte meine Skizzen für das Demarco-Projekt in Pacific Palisades durchgesehen und fühlte mich relativ gut, ich hatte gegessen und keinen Alkohol getrunken, weil ich einen schwachen Kopfschmerz verspürte. Er fing etwa eine Stunde nach dem Start in London an, was nichts Ungewöhnliches war – außer dass Kopfschmerzen bei mir selten sind –, aber an diesen Schmerz erinnere ich mich, weil er sich fast wie ein Gegenstand in meinem Kopf umherbewegte, so als würde etwas durch mein Schädelinneres kriechen, vom Nacken ausgehend durch die rechte Kopfhälfte, um sich in der Mitte der Stirn festzusetzen. Ich nahm zwei Aspirin und wartete auf die Wirkung, aber sie schienen nicht zu helfen. Der Schmerz nahm stetig zu, so stark, dass ich ihn nicht mehr ignorieren konnte. Er war nicht bohrend, nicht pochend, aber er war da, unabweislich, und ließ nicht locker. Ich massierte meine Stirn mit den Fingerspitzen, ich rieb sie mit dem kühlenden Gel ein, das ich in der Kulturtasche der Business Class fand, und nahm mir schließlich meine Arbeit vor, in der Hoffnung, dass mir die Ablenkung Linderung verschaffen oder ich zumindest an andere Dinge denken würde als an Blutgerinnsel, Schlaganfälle und Tumoren, die sich immer stärker in meine Überlegungen drängten.
Ich sah mir also die Skizzen für die Demarco-Terrassen an, den Verlauf der Gehwege hinab zum Pool und die Randbepflanzung, ich nahm meinen Stift heraus und fügte den Zypressen, die ich hinter das Poolhaus gesetzt hatte, ein paar Schraffierungen hinzu.
Als ich gerade an den Laubschattierungen arbeitete, spürte ich meinen Arm plötzlich kalt werden, als wäre meine rechte Seite der Zugluft ausgesetzt. Im selben Moment spürte ich, aber ohne es wirklich zu fühlen, dass meine Finger den silbernen Stift fester umschlossen; ein leichter, aber deutlicher Tremor brachte die Spitze des Stifts zum Flirren wie den Zeiger eines Seismographen vor einem größeren Erdbeben.
Und dann begann ich – oder vielmehr meine Hand – zu malen, große kräftige Figuren quer über meine zarte Zeichnung der Demarco-Terrassen. Sie sahen x-förmig aus, doch jeder der vier Arme war horizontal in die Länge gezogen. Meine Hand richtete den Stift auf, damit er die Figuren richtig zeichnen konnte, und wenn eine fertig war, fing die Hand sofort mit der nächsten an. Bald war meine ganze Skizze bedeckt, und ich drehte das Blatt um, damit sie weiterzeichnen konnte – was sie auch tat, zielstrebig, sorgfältig, alle X-Figuren in derselben Größe, ohne dass etwas Hastiges oder Fieberhaftes daran war.
Ich saß da, fast atemlos, während meine rechte Hand selbstständig fortfuhr, die Seite vollzumalen. Einmal legte ich die linke Hand beruhigend auf meine rechte Faust, aber sie schien unfähig, irgendeine Wirkung auszuüben, der Stift bewegte sich weiter, ich nahm meine Linke wieder weg und schaute zu, wie die Masse der X-Figuren die Seite füllte. Wenn das Personal auf dem Gang vorbeilief, beugte ich mich über das Heft, damit es aussah, als würde ich schreiben. Mittlerweile schwitzte ich heftig und wurde von einer Panik ergriffen, die mir völlig unbekannt war. Während sich meine rechte Hand wie aus eigener Willenskraft über das Papier bewegte, fragte ich mich, ob es in meinem Gehirn zu einer Fehlfunktion gekommen war – ob der Kopfschmerz signalisierte, dass irgendein wichtiges Blutgefäß geplatzt war oder meine Neurotransmitter ihren Dienst versagten –, und in meinem inneren Ohr hörte ich ein stummes Wehklagen, den hilflosen Jammer der Verzweiflung, als hätte meine Seele, die Seele von Alexander Rief, die Macht über den Körper verloren, den sie bewohnte.
Der »Anfall« dauerte wohl – ich weiß es nicht genau – fünf oder zehn Minuten, ich hatte nicht auf die Uhr geschaut. Plötzlich hielt meine Hand inne, und der Stift verharrte auf dem Papier. Ich spürte, wie mein Arm wieder warm wurde, als ich ihn sanft mit den Fingern der linken Hand berührte. Ich ließ den Stift fallen und öffnete die Faust. Mein Kopf war nach dem inneren Aufruhr völlig leer, und ich atmete langsam durch. Vorsichtig nahm ich den Stift auf, drehte ihn in den Fingern und schrieb meinen Namen. »Ich heiße Alexander Rief. Ich heiße Alexander Rief …« Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte und feststellte, dass der Kopfschmerz verschwunden war.
»Ich sitze in der fortschreitenden Dämmerung dieses kalifornischen Gartens«, schrieb ich an dem Abend in mein Tagebuch, »und frage mich, was mir im Flugzeug passiert ist. War es der Arbeitsstress? Ein Mini-Nervenzusammenbruch? Solche abnormen Erscheinungen können einen aus heiterem Himmel treffen, wie ich weiß, aber bis jetzt war mein Leben völlig frei von derartigen Nervenkrisen gewesen, egal wie groß der Stress war, in dem ich mich befand. Jetzt bin ich müde, fühle mich aber völlig normal. Ich habe Stella in London angerufen, aber entschied mich, ihr nicht zu erzählen, was mir widerfahren ist. Ob das klug war, weiß ich nicht. Aber warum sollte ich ihr unnötig Sorgen machen. Morgen Demarco und die Besprechung der Umgestaltungspläne. John-Jo kommt am Dienstag nach.«
Der restliche Abend verlief ohne besondere Vorkommnisse. Ich rief den Zimmerservice an, bestellte und aß einen Teller Capellini, trank eine halbe Flasche Chardonnay und versuchte, so lange wie möglich wach zu bleiben, um den Jetlag zu mildern, meine innere Uhr zu überlisten, die noch auf Londoner Zeit eingestellt war. Ich spazierte durch die kühlen, schwach beleuchteten Gärten des Hotels und dachte wieder an den Vorfall im Flugzeug, ging die Ereignisse der Reihe nach durch auf der Suche nach irgendwelchen Antworten. Eine naheliegende Erklärung fand sich nicht. Zurück im Zimmer, nahm ich mir das Notizheft vor, sah mir die verunstalteten Skizzen für die Demarco-Terrassen an und zerbrach mir den Kopf über das dichte Gewirr kryptischer Figuren, die meine Hand quer über die Seiten gemalt hatte. Was waren das für Zeichen? Was sollten diese verlängerten X-Arme besagen? Auch wenn ich das Notizheft um neunzig Grad drehte, wurde ich nicht klug daraus. In der Senkrechten sahen sie aus wie schematisch dargestellte Sanduhren oder Eieruhren – Zeichen ohne jede Bedeutung, wie es schien. Ich malte eins auf einem Blatt Hotelpapier nach, wobei ich mich plötzlich fragte, ob dieser Akt neue Symptome auslösen würde, aber diesmal gehorchte die Hand meinem eigenen Willen. Wie hatte Hamlet zu Horatio gesagt: »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt …« Ich machte das Licht aus und schlief relativ schnell ein.
John-Jo Harrigan – mein alter Freund und Kompagnon – raufte sich das rötliche Resthaar und verdrehte die Augen, als er den Blick vom dunstig blauen Horizont des Ozeans abwandte und mich verständnislos anstarrte.
»Demarco ist völlig perplex«, sagte er. »Deine ursprünglichen Zeichnungen haben ihm gefallen. Sehr sogar.«
»Sie waren falsch. Alles war falsch. Die Form des Pools war falsch.«
»Er will einen rechteckigen Pool. Seine Frau ist eine passionierte Schwimmerin. Sie will jeden Tag ihre Bahnen ziehen.«
»Wenn sie die neuen Pläne sieht, wird sie ihre Meinung ändern. Keine Ahnung, was ich mir da gedacht habe. Warte ab, bis du sie gesehen hast, J.-J.« Ich tätschelte seine Hand. »Das Haus wird sensationell.«
»Er sagt, er toleriert keine Verzögerungen.« John-Jo zündete eine seiner stinkenden Zigarillos an.
»›Tolerieren‹ – finde ich gut.«
»Der hat seinen Doktor in Princeton gemacht. Das ist kein bescheuerter Milliardär.«
»Und wir sind keine bescheuerten Architekten. Es gibt keine Verzögerungen.«
Wir liefen auf dem Pier von Malibu in Richtung Strand.
»Ich glaube, auf dem Pier ist Rauchen erlaubt«, sagte ich.
»Was ihn wohl wirklich vor den Kopf gestoßen hat«, sagte John-Jo nachdenklich, »ist die Tatsache, dass du unrasiert zur Besprechung gekommen bist.«
»Ich bin Landschaftsarchitekt, kein Buchhalter.«
»Lässt du dir einen Bart stehen?« John-Jo gluckste, als wäre die Vorstellung völlig abwegig.
Ich strich über mein stachliges Kinn. »Mir war einfach nicht nach Rasieren«, sagte ich trotzig. »California Dreaming.«
John-Jo lachte. »Du bist und bleibst ein alter Hippie. Ich habe Stella gewarnt, sie wollte nicht auf mich hören. ›Stella-Darling‹, habe ich gesagt, ich erinnere mich genau. ›Du heiratest einen gottverdammten Hippie.‹« Er lächelte mich an. »Gehen wir einen trinken«, sagte er und zeigte auf ein Bar-Restaurant, das gerade öffnete. »Danach fahre ich zu Demarco und mache ihm klar, dass du ein Genie bist.«
Ich zog aus dem unmöglichen Luxusschuppen mit den üppig-feuchten Gärten aus, um die Pläne für Demarcos Anwesen in vollkommener Einsamkeit zu überarbeiten, und mietete ein Studio Apartment in Venice, eine Straße vom Strand entfernt, mit Schlafsofa, Duschkabine und Kochnische. Es war ziemlich spartanisch und nach einer nachmittäglichen Putzaktion blitzsauber. Ich besorgte mir einen großen Zeichenblock, ein paar Federn, Pinsel und farbige Tinten und machte mich an die Arbeit. Mir war klar, dass ich etwas liefern musste, was sofort überzeugte; meine neuen Entwürfe unterschieden sich so dramatisch von den alten, dass sich Demarco auf den ersten Blick in sie verlieben musste. Mit Überzeugungsarbeit, egal wie bemüht, war er nicht zu gewinnen. Ich hatte einen einzigen Schuss frei, also mussten die Zeichnungen absolut perfekt sein, die Kühnheit des Entwurfs so zwingend, dass sie auf Anhieb überwältigte.
Ich hatte ein Telefon, aber beschloss, niemandem meine Nummer zu geben. Mit dem Hotel vereinbarte ich, dass meine Anrufe notiert wurden, und mehrmals am Tag ging ich hin, um sie zu erledigen. Weder John-Jo noch Stella sagte ich, dass ich ausgezogen war. Wenn ich anrief, dann scheinbar aus dem Hotel – ein Trick, der leicht umzusetzen war. Erst später sollte er sich als verhängnisvoll erweisen.
»15. Mai. Dienstag, glaube ich. Gute Arbeit in den letzten zwei Tagen, intensiv und konzentriert. Ich könnte diese Zeichnungen an eine Galerie verkaufen. Eine merkwürdige Sache: Ich hatte mich in den vier Tagen seit meinem Umzug nicht rasiert, und der Bart begann zu kratzen und zu jucken. Als ich zur Tat schritt, stellte ich fest, dass ich meine Kinnlade rasieren konnte, aber nicht meine Oberlippe. Ich setzte den Rasierer unter der Nase an, doch meine Hand streikte. Ich versuchte es mit der anderen Hand – ohne nennenswerten Erfolg. Es war, als wären meine Muskeln erstarrt. Als verweigerten sie einfach die Befehle meines Gehirns. Überall sonst, an Wangen und Kinn konnte ich ungehindert herumschaben. Ich spülte den Rasierschaum weg und erblickte die Ansätze eines stattlichen, breiten Schnurrbarts, der nicht an den Mundwinkeln endete, sondern sich in elegantem Schwung über die Wangen erstreckte. Komischerweise gefiel mir, was ich sah. Ich musste an die alten Fotos gewisser Cowboys denken: Buffalo Bill oder Wyatt Earp. Ein Look aus dem tiefsten neunzehnten Jahrhundert, dachte ich – höchste Zeit für ein Revival.«
Woher diese Unbeirrbarkeit? Ich hatte mir nie zuvor einen Schnurrbart wachsen lassen, wieso jetzt? Ich deutete es als unbewussten Wunsch, mich an Venice anzupassen, ein typischer Bewohner dieses bizarren Küstenareals zu werden, das sich zwischen dem biederen Santa Monica und den Industriebrachen der Flughafengegend erstreckt.
Meine Tage verbrachte ich meist arbeitend im Atelier, machte kurze Ausflüge zum Waschsalon und zum Supermarkt, schlief prächtig auf meiner schmalen Couch und ging jeden Morgen bei Sonnenaufgang zum Joggen an den Strand. Mein Schnurrbart wuchs. Einmal sah ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster, als ich, die braune Einkaufstüte im Arm, nach Hause lief – ich war in Jeans und T-Shirt, mein grau werdendes Haar wild und ungekämmt –, und es dauerte einen Moment, bis ich mich erkannte. Ein Schnurrbart kann ein vertrautes Gesicht von Grund auf verändern. Ich blieb stehen, ging näher zum Schaufenster und starrte: Was ich sah, gefiel mir. Niemand würde mich erkennen, und ich weiß noch, dass ich still vor mich hin lächelte, während ich weiterlief. Ich rief Demarco an und machte einen Termin für den nächsten Tag. Die Zeichnungen waren vorzeigbar.