Kitabı oku: «Der Mann, der gerne Frauen küsste», sayfa 3
An dem Abend ging ich in eine Bar namens Moon. Sie war dunkel und aufdringlich mit Mondmotiven dekoriert: vielfarbige Monde überall. Die Musik war laut und hämmernd, die Kundschaft aber – das war schließlich Venice – bemerkenswert gemischt: alle Altersklassen, alle Looks, von schön bis schräg, also fühlte ich mich wie zu Hause. Ich setzte mich an die Bar und bestellte einen Cocktail namens The Sea of Tranquility, blau in der Farbe, merkwürdig süßsauer im Geschmack – ohne über seinen Gehalt nachzudenken. Ich schlürfte meinen Drink, doch meine Aufmerksamkeit war völlig von dem Mädchen hinter der Bar gefesselt.
»19. Mai. Dieses Mädchen war nicht schön, es hatte ein verhärmtes Gesicht, unregelmäßige Zähne und einen spitzen Stecker in der Unterlippe. Ihre rechte Schulter war dunkel mit irgendeinem verschlungenen kabbalistischen Symbol tätowiert. Sie trug ein verschossenes Turnhemd, Radlerhosen aus Elastan und klobige Wanderstiefel. Nach meinem dritten Sea of Tranquility und meinem dritten Zwei-Dollar-Trinkgeld lächelte sie mich endlich an und fragte, ob ich etwas zu feiern hätte. ›Morgen‹, sagte ich. ›Stell schon mal den Champagner kalt.‹ Sie hatte Ringe an allen Fingern, auch an beiden Daumen, wie ich bemerkte. ›Gut bei Kasse, was?‹, sagte sie unbeeindruckt. ›Wo bist du überhaupt her?‹ Sie wischte die Dollars in ihre Tasche. Ich war betrunken, aber ich wollte sie, wollte diesen Lippenstecker auf meinem Körper spüren. Also sagte ich ihr, wer ich war und wo ich herkam und dass ich morgen Abend wiederkommen würde, zum Champagner. Sie verriet mir ihren Namen: Leandra.«
Ich ging hinunter zum Strand. Es war ein Sonntag, aber der größte Andrang war schon vorbei, nur vereinzelte Rollerblader oder Radfahrer flitzten über die Betonwege, und einige Venezianer waren noch auf den Beinen: die Huren, die Bodybuilder, die Bettler, die Kartenleser, die Monologisierer und etliche andere verlorene Seelen, die murmelnd auf und ab flanierten. Ich kam an einem Gitarristen vorbei (beide Beine amputiert, wie sich zeigte), der in einem Friseurstuhl saß und verhalten ein paar Akkorde spielte, und die Kombination aus der Musik, meinen Seas of Tranquility, dem nahen Ozean mit seiner Brandung und der warmen Brise löste in mir ein tiefes, epiphanisches Glücksempfinden aus. Ich spürte, dass ich an einem wichtigen Punkt in meinem Leben angekommen war – keine radikale Wende oder ein großer Einschnitt, nur an einem dieser Wegzeichen, einem Meilenstein. Ein harmloses Signal des Älterwerdens vielleicht, der inneren Uhr, die mir die Stunde schlägt.
»Ich seh dir an, dass du ein Glückspilz bist«, sagte eine Stimme. »Ein Erfolgstyp.«
Einer dieser Wahrsager mit seinem Standardspruch, dachte ich, drehte mich um und sah einen großen, schlanken Mann mit schwarzem Filzhut und Schärpe, überall Fransen und Perlen, als würde er sich um die entsprechende Rolle in einem Laienspiel bewerben. Er streckte mir ein Büschel Heidekraut entgegen.
»Siehst du«, sagte er. »Du bist ein Schotte, und ich habe Heidekraut. Ich wusste, dass ich heute einen Schotten treffe.«
Kein Wahrsager, dachte ich, nur einer von den üblichen Irren in Venice. »Ich bin Engländer«, sagte ich. »Das ist ein großer Unterschied.«
»O nein, du bist ein Schotte. Kauf mir mein Heidekraut ab. Fünfzig Dollar. Es bringt dir Glück.«
»Nein, danke«, sagte ich und ging weiter. Sein Glück brauchte ich nicht.
»Schenk es doch Sarah.«
Ich stockte.
»Schenk es deinem Mädchen, Sarah. Sarah, deiner Geliebten.«
»Ich fürchte, da liegst du falsch. Hör zu, das wird jetzt peinlich.«
»Dann deiner Tochter Sarah.«
»Ich habe zwei Söhne. Gute Nacht.«
Ich ließ ihn stehen, ging mit großen Schritten davon, verfiel dann wieder ins Schlendern und versuchte das Glücksgefühl heraufzubeschwören, das mich für so kurze Zeit erfüllt hatte, aber es kam nicht zurück. Die absurden Gewissheiten des Wahrsagers hatten mir die Stimmung verdorben, seine Worte nagten an mir, während ich nach Hause ging. Heidekraut als Glücksbringer – wieso? Wer behauptete so was? Aber der Gedanke, dass ich es hätte kaufen sollen, ließ mich nicht mehr los.
Odell Demarco erwartete mich auf der Baustelle: cremefarbenes Hemd mit rehbrauner Hose und cremefarben abgesetzten rehbraunen Schuhen. In das neue Fundament des Hauses, das John-Jo für ihn entworfen hatte, wurde gerade Beton gegossen. Dahinter, dem Ozean zugewandt, lag ein sanft abfallendes Stück Ödland von drei Hektar Größe, das ich in einen Paradiesgarten verwandeln sollte. Sein Lächeln, als wir uns die Hand schüttelten, wirkte ein wenig gezwungen.
»Hey, Alex«, sagte er zur Begrüßung. »Der Schnurrbart – toll. Passt zu dir.«
»Danke, Odell«, sagte ich. Er hatte mir nicht angeboten, ihn zu duzen, aber es war bewährte Praxis bei Harrigan-Rief, nicht vor Klienten zu buckeln, egal wie reich sie waren. Wenn er mit Mr Demarco angesprochen werden wollte, musste er mich mit Mr Rief ansprechen.
»Wo ist Yolanda?«, erkundigte ich mich, es musste sich um die zweite oder dritte Mrs Demarco handeln.
»Yolanda ist ziemlich besorgt, wenn ich ehrlich sein darf«, sagte Demarco, und die Ehrlichkeit glänzte besorgt in seinen Augen. »Sie wollte, dass ich allein mit dir spreche. Aber sie bat mich, auf dem Dreißig-Meter-Pool zu bestehen.«
»Wäre sie doch nur gekommen«, sagte ich. »Der Pool ist jetzt fast sechzig Meter lang.« Ich legte meinen Skizzenblock auf die breite, glänzende Motorhaube seines Wagens. »Können wir anfangen?«
Am selben Abend bestellte ich im Moon eine Flasche Vintage Krug bei Leandra und bestand darauf, dass sie mit mir trank. Ich hörte das Pling ihres Lippensteckers, als das Glas ihren Mund berührte.
»Oh, ich hätte einen Toast ausbringen müssen«, sagte sie. »Was feiern wir?«
Ich erhob mein Glas. »Nieder mit allen Philistern«, sagte ich. Demarco war bemerkenswert ruhig und bestimmt gewesen, als er mich am Vormittag feuerte, und ich sah urplötzlich den Milliardär in ihm, die kalte Überheblichkeit des Magnaten. Er befahl mir, sofort zum Originalentwurf zurückzukehren, was ich höflich verweigerte. Darauf befahl er mir, ihm den Originalentwurf auszuhändigen – mit seinen geraden Terrassen und exakten Symmetrien –, was ich ebenfalls verweigerte. Er drohte mir mit Klage; ich verwies auf verschiedene Klauseln unseres Vertrags. Er verkündete, er werde den Bau des Hauses stoppen und ein anderes entwerfen lassen; also drohte ich ihm mit einer Klage von Harrigan-Rief.
»Sie haben die Möglichkeit, den Entwurf zu akzeptieren oder abzulehnen«, sagte ich. »Mehr nicht.«
»Aber das ist Irrsinn! Wo ist der Pool? Was soll dieser Hügel, den Sie dort hingesetzt haben? Und was ist das?«
»Ein Bambushain.«
»Sind Sie verrückt geworden? Ich mache mich zum Gespött!«
»Sie haben die Chance, sich einen Ruf als Mann von besonderem Geschmack und Weitblick zu erwerben.«
Wir tauschten noch ein paar weitere indirekte Beleidigungen, bis er mich des Grundstücks verwies und John-Jos Nummer wählte.
Im Rückblick glaube ich, dass ihn die Veränderung des Swimmingpools am meisten ärgerte – und der Gedanke an Yolandas Reaktion auf meinen Entwurf. Tatsächlich hatte ich die Aufschüttung eines ungleichmäßigen konischen Hügels vorgeschlagen (anstelle sanft abfallender breiter Terrassen) und um den Fuß des Hügels einen bogenförmigen Wasserlauf, der, in der Mitte verengt, auf der meeresseitigen Flanke des Hügels in ein breites Becken (mit Überlauf) mündet. Es gab keine einzige gerade Linie, und die Wege, die ich vorgesehen hatte, schlängelten sich durch das unebene Gelände und bohrten sich durch künstliche Schluchten, bis sie sich im grünen Dunkel des Bambushains verloren.
Meine Entwürfe überließen nichts der Phantasie. Ich hatte zwei Ansichten gezeichnet: Die eine zeigte die Anlage direkt nach der Fertigstellung, die andere so, wie ich sie mir zehn Jahre danach vorstellte. Alles war bis aufs i-Tüpfelchen geplant. Die Gärten des Hauses Demarco in Pacific Palisades wären die Krönung meines Schaffens geworden.
»23. Mai. Seit drei Tagen habe ich mein Zimmer nicht verlassen. Leandra bringt mir zu essen, zu trinken und Zigaretten, wenn sie aus der Bar kommt. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, am Morgen miteinander zu schlafen – sie sagt, dass sie nach ihrer Nachtschicht zu müde ist. Ich fand es enttäuschend, dass sie nur dieses eine Tattoo hat und dass sie ihren Lippenstecker zum Schlafen herausnimmt. Ihr Körper ist auffallend blass. Wenn ich nicht zu verkatert bin, vögeln wir vor dem Frühstück, und sie freut sich über die hundert Dollar, die ich ihr aufdränge. Heute Nacht, sagt sie, bringt sie mir ein paar Pillen, um mich ›ein bisschen aufzupeppen‹, wie sie sagt.«
Leandra und ich verbrachten etwa eine Woche in dieser temporären Zweisamkeit, bis sie meiner überdrüssig wurde. Zumindest nahm ich an, dass es Überdruss war – es konnte auch schlichte Enttäuschung sein. Als sie eines Nachts nicht von der Bar zu mir kam, ging ich am nächsten Tag hin, um sie zur Rede zu stellen, aber sie gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass es vorbei war. Ich bot ihr einen Preis von zweihundert Dollar, und sie rief den Manager.
»Du ekelst mich an«, waren ihre letzten Worte. »Schau mal in den Spiegel. Nimm ein Bad. Du stinkst.«
Die nachfolgenden Tage vergingen in einer Art Nebel. Ich ließ das Tagebuchschreiben sein und fing an, hemmungslos zu trinken. Es gab ein Mädchen, das mir aufgefallen war, in einem Spätimbiss, wo ich mir, vom Hunger hinausgetrieben, etwas zu essen besorgte. Eine Mexikanerin, glaube ich, sie hieß Encarnación. Sie war mollig, hatte ein freundliches Lächeln, weißblonde Strähnchen im Haar und viele dünne Goldketten um den Hals. Ich putzte mich heraus und lud sie zum Dinner ein. Wir aßen chinesisch in Santa Monica und gingen zu Fuß zurück – in mein Apartment. Dort küssten wir uns mitten auf dem Fußboden, als es klingelte.
Vor der Tür stand John-Jo Harrigan. Ich sah, wie er einen Blick an mir vorbei auf Encarnación warf, die unbekümmert ihre zerknautschte Bluse glatt strich.
»Komm, Alex. Es geht nach Hause«, sagte John-Jo sanft.
II London
»21. Juli. London schmort in sommerlicher Hitze und Trägheit, und ich liebe meine Frau nicht mehr. Ich sehe, wie attraktiv sie ist, erinnere mich daran, wie sehr wir uns einmal geliebt haben, aber ich merke, dass ich nicht in der Vergangenheit leben kann. Ich teile das Haus mit einer besorgten und altvertrauten Bekannten, die sich zwar über mein Rauchen, mein Trinken und meine Passivität beschwert, aber meine Anwesenheit toleriert – ja, mehr als das: Sie tut, was sie kann, damit ich mich so wohl wie möglich fühle.«
Aber trotz meiner Selbstbezogenheit, meines absoluten Egozentrismus spürte ich, dass ihre Geduld und Anteilnahme Grenzen hatten. Meine Söhne Ben und Conor waren aus dem Haus – Ben studierte und verbrachte gerade den Sommer mit irgendeinem Mädchen in Cornwall, Conor war für die UNESCO in Simbabwe –, und wir beide blieben mehr oder weniger uns selbst überlassen. Freunde hielten sich bedeckt: Es hieß, ich sei krank geworden und bräuchte Zeit, mich zu erholen. Nur John-Jo kam regelmäßig zu Besuch. An diesen stickigen Sommerabenden saß ich meist im Garten, einen kalten Wodka in der Hand, und sah Stellas schlanke Gestalt im schwindenden Tageslicht mit der Gartenschere hantieren, wobei mein Blick völlig sachlich blieb, nur die Geste registrierte, mit der sie eine Strähne ihres aschblonden Haars zurückstrich, oder die Form ihres Körpers, wenn sie sich bückte, um Unkraut zu zupfen, oder das langbeinige Stelzen, mit dem sie auf mich zuging, und ich merkte, dass ich sie nicht mit anderen Augen sah als jede beliebige andere Frau – sei es Leandra oder selbst Encarnación. Und dann, mit einer plötzlichen Aufwallung von Wut und Bedauern, fiel mir ein, dass ich mit Encarnación nicht weitergekommen war als bis zu dem einen hechelnden Zungenkuss, und gab – mit eiserner Unlogik – Stella die Schuld an dieser riesigen, fortwirkenden Enttäuschung.
»25. Juli. Ich sorge mich um meine künftige Beziehung zu John-Jo. Gestern fuhr ich zu dem Deponiegelände in Slough, und der Manager verwehrte mir den Zutritt. Also rief ich John-Jo an, und er sagte, mein Besuch in der letzten Woche (als ich angeordnet hatte, dass die Hauptsenke, die wir geplant hatten, vertieft werden sollte) habe die Firma wahrscheinlich Zehntausende Pfund gekostet, weil wir den Termin nicht mehr halten könnten und Vertragsstrafen fällig würden. Ich sagte, der Entwurf sei falsch gewesen. Er antwortete, und ich zitiere: ›Es ist nur eine beschissene Deponie, Alex.‹ Darauf erwiderte ich: ›Aber mein Name hängt daran.‹ ›Unser Name‹, sagte er. ›Wir sind Partner. Vergiss das nicht.‹«
Langsam fragte ich mich, ob die Medikamente, die ich erhielt, meine Stimmung beeinflussten – ich fühlte mich entweder lethargisch und übellaunig oder gereizt und aufgedreht. Nachdem mich John-Jo nach London zurückgeholt hatte, ging ich für eine Woche in die Klinik – ich war offenbar dehydriert und fehlernährt, meine Verdauung völlig aus dem Takt geraten. Ich wurde sediert und schlief zweiundsiebzig Stunden durch. Als ich aufwachte, benebelt, aber clean und relativ ruhig, stellte ich fest, dass ich im Schlaf gebadet und rasiert worden war. Auf Stellas Anweisung war auch mein Schnurrbart abrasiert worden. Er fehlte mir, meine Oberlippe fühlte sich schutzlos und bleich an: Mir war klar, dass ich ihn sofort wieder wachsen lassen musste. Ich bat um Zigaretten. Zwanzig Jahre hatte ich nicht geraucht, aber aus irgendeinem Grund war das Verlangen danach in Kalifornien – diesem Frischluftparadies – wieder erwacht, sodass ich bald bei zwei Schachteln pro Tag angelangt war.
Manchmal spürte ich Stellas verstohlenen Blick auf mir und die Traurigkeit, die sie aussandte, um mich einzuwickeln. Selbst in meinen seltenen Momenten der Klarheit hasste ich ihr Mitleid, ihr Nichtverstehen, ihre Rücksichtnahme. Von Zeit zu Zeit wollte sie mit mir darüber sprechen: was mit mir los sei, ob ich unglücklich sei, oder – in heiklen Momenten – warum ich alles daransetzte, unser Leben zu zerstören. Sie rief Ben für ein Wochenende aus Cornwall zurück, und wir verbrachten ein paar angespannte Tage. Ben kam mir plötzlich linkisch und humorlos vor, seine kindischen Witze (mit Vorliebe über meinen Schnurrbart) wurden immer verletzender. Ich sah, dass meine Kälte ihn so verstörte, dass er vorzeitig abreiste. Ich raffte mich nicht dazu auf, ihn zu verabschieden, obwohl ich merkte, dass Stella den ganzen Tag mit roten verweinten Augen herumlief – und später am Abend hörte ich sie eindringlich auf Conor in Afrika einreden.
»2. August. Gestern Vormittag war ich in einem Optikerladen in der Kensington High Street und erwarb die dritte Sonnenbrille in drei Tagen von einer verschlagen dreinblickenden dunkelhaarigen Verkäuferin mit Knutschfleck am Hals, die, wie ich gerade erfahren hatte, Megan hieß, als in mir eine Verwandlung stattfand. Es war, als hätte ich etwas abgeworfen oder als hätte mich etwas verlassen. Einen Moment lang fühlte ich mich ganz schwach und zittrig, sodass sich Megan zu einer besorgten Frage veranlasst sah. Ich atmete tief durch und sah mich um – plötzlich wieder mit klarem Blick. Mir fiel ein, dass ich den Laden betreten hatte, weil ich von dieser Verkäuferin besessen war, so wie zuvor von Leandra und Encarnación. Ich entschuldigte mich bei ihr und ging.
Zu Hause entschuldigte ich mich bei Stella. Die Erleichterung, mit der sie mich ansah, war herzzerreißend. Wir redeten bis tief in die Nacht, kamen zu dem Schluss, dass ich eine Art Zusammenbruch hatte und dass die Medikamente vielleicht zu helfen begannen und endlich so etwas wie eine Balance in unser Leben zurückkehrte (ich rief Ben an und entschuldigte mich für mein grobes Verhalten – armer Kerl). Dennoch: Als ich heute früh mein Gesicht mit Rasiercreme einschäumte, um mir den Schnurrbart abzurasieren, wurden meine Arme wieder von Starre befallen. Eins nach dem anderen, sagte Stella. Immer schön langsam. Wenigstens kannst du schon wieder einen klaren Gedanken fassen.«
Es war Petra Fairbrother, meine Psychiaterin, die mich ermutigte, die Symptome systematisch anzugehen und zu entschlüsseln. Sie war eine kräftige Frau mit fleischigen Lippen und großen, weichen Händen, mit denen sie viel herumwedelte. Sie war auch hochintelligent, aber wie viele intelligente Engländerinnen (und Engländer, was das betrifft) tat sie alles, um ihren Intellekt in einer Wolke aus wohlmeinendem Dilettantismus zu verstecken. Von unscharfen Diagnosen wie Nervenzusammenbruch, Midlife-Crisis, Schizophrenie wollte sie nichts wissen. »Was ich da von Ihnen höre, klingt viel interessanter als das. Und sehr scharf umrissen, nicht wahr?«, sagte sie und zeigte mit dem Bleistift auf mich. Besonders faszinierten sie die Seiten in dem Notizheft, das ich mit den lang gezogenen X-Figuren vollgemalt hatte, und hier interessierte sie vor allem die Tatsache, dass dieser Malzwang nie wiedergekehrt war. Sie bat mich, das Zeichen vor ihren Augen zu Papier zu bringen, was ich ohne Zögern tat.
»Es löst nichts aus?«, fragte sie mit einer gewissen Enttäuschung in der Stimme. »Keinen Tremor, kein Schaudern?«
»Nichts«, sagte ich und zeichnete noch ein halbes Dutzend mehr davon.
»Mir ist nur so, als wäre das der Schlüssel zu allem«, sagte sie. Sie krauste die Stirn, zupfte sich am Ohrläppchen und machte ploppende Geräusche mit den Lippen.
»Ich glaube, es hat mit Sex zu tun«, sagte ich ein wenig verschämt. »Etwas, was in meiner Psyche steckt – und auf einen gewissen Typ Frauen anspricht.«
»Aber im Flugzeug, als das alles losging, war doch kein Sex im Spiel, oder?«
Das konnte ich ihr bestätigen. Dann fiel mir der Kopfschmerz ein.
»5. August. Kopfschmerzen. Lang gezogene X-Figuren. Schnurrbart. Zigaretten. Denken an Sex. An Prostitution. An ärmliche Frauen. Desintegration. Vernachlässigung der Hygiene. Asoziales Verhalten. Der Demarco-Garten. Die Deponie. Feindseligkeiten gegenüber der Familie. Alkoholismus … Ist der Kopfschmerz die Ursache dafür? Brauche ich einen Gehirnscan? Ich habe drei Tage Normalität erlebt – Fast-Normalität. Stella hat mir gestern Abend den Schnurrbart abrasiert. Ich habe nichts empfunden. Wir haben miteinander geschlafen. Warum spüre ich, dass das ein trügerischer Frieden ist, eine falsche Hoffnung?«
Meine Sorgen waren begründet. Ich schwankte offenbar zwischen einer angespannten, ängstlichen Normalität – Neu- start des Familienlebens, ich ging sogar ins Büro – und Stimmungen, die ich erst im Nachhinein als abwegig und gefährlich erkannte.
Eines Tages, nach dem Verlassen der Praxis in Notting Hill, blieb ich stehen, um eine Zeitung zu kaufen, und sah eine Frau, die in einem Fleischerladen arbeitete (warum tragen Frauen, die in Fisch- oder Fleischerläden arbeiten, so viel Make-up?). Ein dunkler Typ mit etwas vorspringendem Gebiss und sehr viel dichtem Haar, das aus ihrem markanten Gesicht zurückgekämmt und zu einem riesigen Dutt geknotet war. Ihre Lippen waren kirschrot, und ihre Augen mit stark getuschten Wimpern musterten mich unter himmelblauen Lidern, als ich Fleischberge verlangte, mit denen ich eine ganze Kompanie Soldaten hätte satt machen können. Während sie Rumpsteaks schnitt und Dutzende Würste eintütete, starrte ich sie unverwandt an – bemerkte den dunklen Flaum auf ihren Unterarmen, ihre strammen Waden, als sie sich nach dem Beil umdrehte, auch den Bürstengriff, der aus der Tasche ihres Nylon-Overalls ragte. Ich lehnte mich an das Glas der Fleischertheke, spürte, wie meine Erektion gegen die Scheibe drückte, und fragte mich, ob dieses Prachtweib die Tochter des kleinen, glatzköpfigen Fleischers war, der ein paar Schritte entfernt den Fleischwolf bediente, und was sie oder er sagen würde, wenn ich sie zu einem Drink einlud. Ich zahlte – immensen Reichtum suggerierend – mit zwei Fünfzigpfundnoten für das Fleisch und sagte: »Verzeihen Sie die Frage, aber ich bin gerade in diese Gegend gezogen und hätte gern gewusst, ob es hier einen guten Pub gibt, Sie wissen schon, einen, den Sie empfehlen können …«
Sie kratzte sich am Arm und überlegte. »Was meinst du, Frank?«, fragte sie den Mann am Fleischwolf. Es folgte eine kurze Diskussion über die Vorzüge der umliegenden Pubs, bis eines mit dem Namen The Duke of Clarence als das geeignetste auserkoren war. Ich dankte ihnen, bedachte die Fleischerin mit einem vielsagenden Blick und verließ den Laden.
Als ich die schwere Tüte mit Fleisch in den nächsten Mülleimer warf, wurde ich von einer deprimierenden Woge der Selbsterkenntnis überrollt, und ich sah meine sexuelle Obsession in all ihrer beschämenden Niedrigkeit. Doch im Fleischerladen hatte ich nur einen Gedanken im Sinn gehabt und meine ganze sabbernde Begierde auf dieses dralle Mädchen mit ihren rosigen, blutbefleckten Händen gerichtet. Mir brannten salzige Tränen in den Augen, als ich zu meiner leidgeprüften Frau zurückfuhr.
»9. August. Gestern früh habe ich John-Jo im Büro offenbar körperlich angegriffen, ihm mehrere Schwinger versetzt und mir den Ringfinger der linken Hand gebrochen, als ich seine Kinnlade traf. Ich erinnere mich an nichts, war wohl zu betrunken. Den dritten Abend in Folge hatte ich im Duke of Clarence auf meine Fleischerin gewartet – vergebens. Daher hatte ich mir eine Flasche Wodka gekauft, als der Pub zumachte, und mich in mein Auto gesetzt, um sie zu trinken. Irgendwie muss ich es am nächsten Morgen ins Büro geschafft haben. Stella sagt, ich hätte John-Jo Betrug vorgeworfen, dass er über all die Jahre hinweg systematisch meine Ideen gestohlen und Urheberschaft beansprucht habe, die ihm nicht zustand … und dann hätte ich mich auf ihn gestürzt. Arme Stella.«
»Es scheint sich etwas zu verändern«, sagte ich zu Petra Fairbrother. »Es ist nicht mehr wie in Kalifornien, wo der Zustand konstant war, jetzt kommt und geht er, als ob etwas ein- und ausgeschaltet wird.«
»Darf ich eine Zigarette von dir schnorren?«, fragte Petra. Sie nahm eine aus meiner Packung und zündete sie so umständlich an, als wäre es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas versuchte. Dann inhalierte sie den Rauch tief in ihre Lunge. »Herrlich«, sagte sie. »So, du glaubst also, dass der Griff sich lockert?«
»Welcher Griff?«
»Der dich in der Gewalt hat.«
»Du klingst ja wie eine Schamanin.«
»Alex, mein Guter, ich spreche metaphorisch. Dennoch kann man uns durchaus als moderne Schamanen bezeichnen« – sie lächelte und blies geräuschvoll eine Rauchwolke aus dem Mundwinkel hervor –, »die versuchen, dir die Dämonen auszutreiben.«
»Dämonen«, wiederholte ich langsam. »Ein Dämon.«
»Das ist eine Metapher. Aber mach dir nichts vor, Alex, du kämpfst mit Dämonen.«
Ich überlegte angestrengt. »All diese Mädchen waren dunkelhaarig, alle hatten sie Jobs. Und ich will nicht einfach nur bezahlten Sex, da bin ich mir sicher.« Ich erzählte ihr, dass ich in einer Londoner Telefonzelle stand, deren Scheiben mit Dutzenden Visitenkarten von Prostituierten zugeklebt waren, mit den verlockendsten Fotos von Schönheiten aller Färbungen, die um Kundschaft warben. »Ich empfand nichts. Ich hätte jede von ihnen anrufen können. Es kommt auf die Sorte Mädchen an, es geht darum, dass sie arbeiten …« Ich schaute sie ratlos an. »Vielleicht hilft eine Hypnose?«
»Was ist denn mit deiner Hand passiert?«
»Ich wollte meinen besten Freund zusammenschlagen.«
»Mein Gott. Höchste Zeit, dass wir anfangen.« Sie spitzte die Lippen, trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. »Hast du was dagegen, wenn ich mit jemandem über deinen Fall spreche? Ich hätte da eine Vermutung.«
»14. August. Ranking Hotel, Bloomsbury. Ich bin zu Hause ausgezogen, und Stella hat um die Scheidung gebeten. Dummerweise, verrückterweise habe ich ein Mädchen mit nach Hause genommen, eine Serviererin namens Katerina, Russin, glaube ich, oder Ukrainerin. Ich sagte ihr, sie könne bei uns wohnen, zur Untermiete, wir hätten jede Menge freie Zimmer. Als sie gerade das Gästezimmer im Keller besichtigte, kam Stella zurück. Ich hatte das Mädchen nicht angerührt (obwohl ich es natürlich vorhatte). Im nachfolgenden Streit stellte sich heraus, dass John-Jo ihr von Encarnación und mir erzählt hatte. Stella war der Ansicht gewesen, dass ich mich in eine altersbedingte Satyriasis verrannt hatte, und bereit, darüber hinwegzusehen, aber damit war es nun vorbei. Sie sei angeekelt von mir, schrie sie. So ein Mädchen ins Haus zu holen! Was ich denn von ihr erwarten würde? Immerhin habe sie sich noch einen Rest Würde bewahrt. Sie verwies mich des Hauses, und ich fügte mich kleinlaut. Morgen fahre ich nach Edinburgh, vielleicht ist es am besten, das mit mir selbst zu klären.«