Kitabı oku: «Der Philosoph», sayfa 4

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»Vermögen? … Gelingen? … Was bedeutet das?« Zweimal bereits hatte Robert Schlierer nachgeschenkt. Sekt und Satzschleifen rollten durch meinen Kopf. Ich starrte auf das Kind. »Leben steckt voller topographischer Überraschungen … man schaut nicht hinter den Hügel … trotzdem die Höhe einnehmen … die Stellung bezwingen …« Wärmte sich der Artillerist an alten Erinnerungen? Versuchte er mir verklausulierte Ratschläge zu erteilen? Es wurde mir nicht klar. »In anderer Richtung vorstoßen … muss manchmal sein … bei eigenen Absichten bleiben … sich nicht vom Ziel abbringen lassen …« Er legte den Arm um seine Frau. Synchron lächelten sie unter ihren Ponys hervor.

Die Ziele, bei denen ich hätte bleiben sollen, rückten langsam in die Ferne. Das Gerede der Vermögenden vom Vermögen begann mich zu langweilen. Irgendwann lachte Frau Schlierer, als der Kleine sein ausgestrecktes Fingerchen in ihre Wange bohrte. War es ihr Sohn? Ihr Enkel? Ein spät erworbenes Adoptivkind? Robert Schlierer lachte ebenfalls. »Vielversprechendes junges Kerlchen …«, brummte er, nickte freundlich und prostete mir zu. Seine Sonnenbräune changierte mittlerweile merklich ins Rötliche. »… Junger Mann von großem Vermögen … ahnen Sie noch gar nicht … ahnen Sie ja nicht …« Er leerte sein Glas und schenkte uns sofort nach. Ich hatte den furchtbaren Saal in Gedanken längst verlassen, sah mich wieder im Entree stehen, am Fuß der weißen Marmortreppe, ging in Gedanken bereits die Stufen hinauf, um vorsichtig, irgendwo auf der Galerie, irgendwo in einem langen Korridor, an eine Tür zu klopfen, zu horchen, in der Hoffnung, eine freundliche Aufforderung zum Eintreten zu vernehmen, die Tür zu öffnen, Hinrich Giers gegenüberzutreten, das erhoffte Gespräch mit ihm aufzunehmen.

Wie von fern erreichte mich stattdessen die Bitte der Artilleristin, für einen Moment den Jungen zu halten. Vermutlich nicht die erste Aufforderung, die ich überhört hatte. Frau Schlierer stand vor mir, das Kind auf dem Arm, während ihr Mann weiter auf mich einredete. Beinahe automatisch streckte ich die Hände nach dem Kleinen aus. Sie griff nach der leeren Sektflasche und schlurfte zur Tür – vermutlich um Nachschub zu besorgen. Durch einen Schleier von Benommenheit beobachtete ich sie, konnte es aber nicht unterdrücken, dem Jungen über die seidigen Haare zu streichen, verspürte auf einmal sogar leises Entzücken, als das Köpfchen langsam auf meine Schulter sackte und sich eine kleine Hand an meinen Oberarm klammerte. Zweifelsohne hatte ich zu viel getrunken. Unter blonden Strähnen sah ich die verschmitzten kleinen Augen von Robert Schlierer auf mich gerichtet. Ich erschrak darüber, wie gründlich mir das Ziel meines Besuchs bereits entglitten war. Wohl infolgedessen richtete ich mich ruckartig auf – und sah vor mir plötzlich ein braunes Augenpaar, das mich erschrocken musterte, ein kleines schlafverquollenes Gesicht, das sich rötete, bevor der Junge laut zu schreien begann und sich mit kräftigen Windungen aus meinen Armen zu lösen versuchte. Ich hielt ihn fest und versuchte ihn zu beruhigen. Der Artillerist rührte sich keinen Zentimeter aus den Polstern, und da seine Zwillingsgefährtin gerade erst wieder zur Tür hereinkam, in den Händen eine neue Flasche Sekt, rechnete ich mit einer längeren Überbrückungsphase. Um die Sache abzukürzen, stand ich schließlich auf, um ihr das strampelnde Kind zu überreichen.

Im selben Moment sah ich durch das Fenster der Terrassentür eine Frau. Die Tür öffnete sich, und mit dem Luftzug strömte ein wenig Mittagswärme in den Saal. Ich fühlte mich noch immer benommen und musterte zerstreut den Jungen, der unverändert schrie. Auf seinen Schläfen zeigten sich kleine Schweißperlen. Plötzlich stand die Frau vor mir. Ich erinnere mich, dass ich fälschlich erwartet hatte, sie würde zuerst die Schlierers begrüßen. Ruhig streckte sie ihre Hände nach dem Kind aus. Diese Hände kannte ich – kleine, runde Hände mit kurzen Fingern, leicht gebräunten Handrücken, unprätentiös kurz geschnittenen, gepflegten Nägeln. Sie umklammerten den Jungen, der sich fast unmittelbar zu beruhigen begann, und als ich aufschaute, blickte ich in das Gesicht, das ich besser kannte als jedes andere und glücklicherweise nicht näher zu beschreiben brauche, da du auf eine Beschreibung noch weniger Wert legen wirst als ich selbst. Unverändert gehörte dazu auch das ironische Runzeln der Augenbrauen, diese kleine, freundliche Wellenbewegung. Sie konnte nicht lächeln, ohne ihren Gefühlsausdruck im selben Moment zu parodieren. Mir wurde klar, dass ich sie bereits erkannt hatte, als sie auf mich zugekommen war, in ihrem wiegenden Gang, mit den etwas nach außen gestellten Füßen. Nichts davon hatte ich kommen sehen, mit dieser Begegnung am allerwenigsten gerechnet. Höchstens habe ich geglaubt, dass ich zu viel Sekt getrunken hätte. Denn es erschien mir in diesem Moment ganz selbstverständlich, dass Lou vor mir stand, dass sie mir das Kind aus den Händen nahm und an ihre Schulter hob. Es erschien mir selbstverständlich, dass sie mich anlächelte – und das noch immer nicht tun konnte ohne diesen Hüpfer ihrer Augenbrauen. Selbst die Frage schien mir selbstverständlich, die sie an mich richtete – als hätten wir beide nur darauf gewartet, dass sie sie stellen würde: »Warum bist du hier?«

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»Warum bist du hier?« Ginge es nach dir, wäre klar gewesen, was ich hätte antworten müssen. Wozu konnte ich schon hergekommen sein, wenn nicht wegen Lou selbst? Nicht von ungefähr war das deine erste Frage gewesen, als auch wir uns bald darauf in Binsenburg wiederbegegnet sind: Ob ich wieder mit ihr zusammen sei. Als ob dir eine andere Veranlassung meines Aufenthalts gar nicht vorstellbar erschienen wäre. Dabei hatte ich von Lou gar nichts geahnt, nichts davon gewusst, dass die Schlierers enge Verwandte von ihr waren, schon gar nicht, dass sie die Villa Mögen seit ihren Kindertagen gekannt hatte. Über solche Dinge hatten wir uns nie unterhalten, und ich wäre nicht unglücklich gewesen, hätte ich von alldem nie erfahren. Ist es dir wirklich undenkbar erschienen, dass ich mich in Binsenburg mit »schöngeistigen« Dingen hatte befassen wollen? Dass es ausnahmsweise einmal nicht um Lou gegangen ist? Warst du verärgert, als du später in Binsenburg auf Lou gestoßen bist – und wie einen Kurschatten an ihrer Seite zufällig auch mich wieder angetroffen hast?

Wie auch immer es gewesen sein mag – ich selbst hatte damit in keiner Weise gerechnet und auch keinerlei Absichten, was Lou betraf. Dass ich sie während dieser Binsenburger Wochen oft besucht und häufig begleitet, ja während der entscheidenden Tage sogar bei ihr gewohnt habe, diente ausschließlich jenen »schöngeistigen« Zielen, von denen du nichts wissen wolltest. Es ging nicht darum, Vergangenes wieder aufleben zu lassen. Meine Gedanken waren auf weitaus wichtigere Dinge gerichtet. Verzweifelt habe ich versucht, dir das klarzumachen, als du zu deiner Reportermission in Binsenburg eingetroffen bist, habe dir geschildert, welche Hoffnungen damit verbunden waren, dass Hinrich Giers in die Öffentlichkeit zurückkehren, seine Publikationstätigkeit wieder aufnehmen würde.

Gelacht hast du darüber und damit begonnen, deine simple Geschichte zu montieren. Unbedingt wolltest du mir beweisen, dass vom Nimbus des großen Philosophen nichts übriggeblieben sei. Ein Vorsatz, von dem ich mich frage, ob er für dich zur Frage einer existentiellen Selbstbehauptung geworden ist. Warum sonst hättest du alle Grenzen überschreiten, deine Recherche ins Innerste unserer gemeinsamen Vergangenheit verlegen sollen? Was du dir damit beweisen wolltest, habe ich bis heute nicht begriffen. Ich bedaure jedenfalls, dass ich dich damals nicht selbst gefragt habe, weshalb du hier seist. Auf deine Erwiderung wäre ich gespannt gewesen. Als Lou mir diese Frage gestellt hat, war ich viel zu überrascht, um eine durchdachte Antwort zu geben. Ich brachte am Ende nur einen Satz heraus: »Dr. Lenz hat mich geschickt.«

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Die Schlierers servierten auf der Terrasse Kaffee für uns. Selten habe ich mir derart viele Fragen gestellt. Weshalb Lou hier war. Was sie mit den Schlierers zu schaffen hatte. Wo Hinrich Giers war und weshalb er sich von diesen furchtbaren Leuten beherbergen ließ. Hilflos saß ich neben Lou im vollen Sonnenschein auf der Terrasse der Villa Mögen. Der Artillerist hatte uns genötigt, auf schweren, weißlackierten Gartenstühlen Platz zu nehmen, von denen noch weitere rings um einen ovalen, weißlackierten Holztisch gruppiert waren. Das Kopfsteinpflaster der Terrasse wanderte in halbrunden Bögen zu den kurzgeschorenen Rasenflächen hinaus. Hinter kniehohen Natursteinmauern grüßten freundlich sprießende Hortensienstauden. Ein fein gestreuter Kiesweg führte von der Terrasse in den Park hinunter und verlor sich unter Bäumen im hinteren Teil der Anlage. Nichts regte sich. Kein Vogel schlug an, keine Biene flog vorbei, kein Schmetterling flatterte vorüber. Die Sonne stach, und ich starrte auf den Kaffee in meiner Tasse.

Der Junge stand zwischen uns, schmiegte sich an Lous Oberschenkel und riskierte gelegentlich einen Blick zu mir herüber. Lou beschäftigte ihn mit harmlosen Spielchen, ließ ihre Finger auf ihm herumkrabbeln oder versteckte sich hinter ihren Händen. Dankbar kicherte der Kleine, während ich verzweifelt schwieg. Mit alberner Beflissenheit schaufelten die Schlierers das Kaffeegeschirr auf den Tisch. Aus einer Silberkanne schenkte Frau Schlierer ein. Mit demonstrativer Diskretion verschwanden die beiden dann im Haus, als ob sie unsere Gespräche nicht stören wollten.

»Er ist mein Onkel, sie meine angeheiratete Tante«, erklärte Lou, kaum dass die blonden Mähnen hinter den Scheiben der Terrassentür verschwunden waren. Dass es bei dieser dürftigen Erklärung blieb, ließ mich erstmals befürchten, dass Lou in meinen Binsenburger Angelegenheiten eine weitaus bedeutendere Rolle spielte, als mir lieb sein konnte. Fast unmittelbar musste ich an die Tage nach unserer Trennung denken, an den Schmerz darüber, wie gleichgültig sie sich aus meinem Leben davongestohlen hatte, ohne jedes erklärende Wort, ohne jedes weitere Lebenszeichen. Nun benahm sie sich, als ob aus unbekannten Gründen damals ich selbst verlorengegangen und unverhofft, wie ein lang verschollener Kriegsgefangener, zurückgekehrt sei. Auf seltsame Weise schien sie mir zugewandt, mit einer inneren Ruhe in mich versunken. Selbst ihre Fragen klangen versöhnlich – obschon sie nicht minder drängend waren als früher.

Dr. Lenz habe mich geschickt, begann sie (und bemühte sich, den Namen Dr. Lenz möglichst neutral auszusprechen). Was der Doktor vorhabe. Niemals wäre sie zufrieden gewesen, ehe sie nicht klare Antworten erhalten hatte. Um mich nicht von vornherein um eine weitere Einladung bei den Schlierers zu bringen, entschied ich mich zu der höflichen, aber möglichst kompakten Auskunft, Hinrich Giers über die Vorgänge in der »Sozialen Gesellschaft« auf dem Laufenden halten zu wollen. »Was geht dich die ›Soziale Gesellschaft‹ an?«, verlangte Lou zu wissen und schaute mich freundlich an. Niemals hätte ich ihr den Gefallen getan, die Wahl dieses Arbeitgebers auch nur im Entferntesten mit dem Ende unserer Beziehung in Zusammenhang zu bringen. Ich glaubte stattdessen, Lou gefahrlos an die Faszination erinnern zu können, die sie selbst für Hinrich Giers immer empfunden hatte. Dass auch sie mich für seine Werke damals zu begeistern versucht habe, dass ich ihr nicht immer hätte folgen können, dass mir vieles unverständlich erschienen, mein Interesse später jedoch immer größer geworden sei, ich nicht gedacht hätte, jemals so viel Freude an der Giers’schen Philosophie zu entwickeln, dass ich ein Giersianer geworden und meine Tätigkeit für die »Soziale Gesellschaft« insofern nur noch eine Formsache gewesen sei.

Lou hörte reglos zu und runzelte etwas die Stirn, während sie dem Jungen über die Haare strich und hin und wieder einen Kuss darauf drückte. Ihre letzte Frage folgte prompt und wirkte nach meiner wortreichen Erklärung etwas frostig. »Wieso schickt Dr. Lenz ausgerechnet Dich? Weshalb niemand anderen?« Sie schaute mich unverwandt freundlich an, lächelte und ließ ironisch ihre Augenbrauen spielen. Noch ahnte ich nicht, was für ein boshafter Scherz diese Frage gewesen war.

Haus Louisa
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Mein erster Besuch in der Villa Mögen endete, ohne dass ich Hinrich Giers angetroffen hätte. Lou erhob sich etwas brüsk aus ihrem Gartenstuhl und nahm das für ihn bestimmte Briefpäckchen an sich, mit dem Versprechen, es ihm bei nächster Gelegenheit auszuhändigen. Unweigerlich meldete sich die beklemmende Frage zurück, welche Rolle sie hier oben eigentlich spielte. Einzig aus der Hoffnung, eine Antwort darauf zu erhalten, akzeptierte ich schließlich Lous Angebot, sie auf dem Heimweg zu begleiten. Dass es zu keiner förmlichen Verabschiedung von den Schlierers kam, trübte meine Hoffnung auf weitere Besuche in der Villa Mögen, doch ich wusste nicht, was ich daran hätte ändern können.

Lou setzte den Jungen in einen Kinderwagen, der neben der Terrassentür stand, und bat mich zu schieben, als wir den abschüssigen Kiesweg hinuntergingen. Der Kleine lehnte sich im Sitz zurück. Bald fielen ihm die Augen zu. Lou schlenderte neben mir und stemmte die Hände in die Hüften. Sie wirkte müde, ihr Lächeln abwesend. Ohne dass ich Gründe dafür hätte nennen können, schien es mir, als ob sie nach Erholung von einer ungeheuren Anstrengung suchte. Ich hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken. Weitaus Wichtigeres war zu bereden. Und obschon ich selbst nicht recht wusste, weshalb die Wahl von Dr. Lenz auf mich gefallen war, hatte ich doch, wie ich erklärte, eine klare Vorstellung vom Zweck meines Hierseins. Eine Bemerkung, über die sie sofort zu lachen begann. »Welche Vorstellung hast du denn vom Zweck Deines Hierseins?«, fragte sie mit der üblichen Wellenbewegung ihrer Augenbrauen. Ich rang um eine Antwort, während wir die Rhododendrengebirge passierten und einen großen Obstgarten erreichten. Mehrere Apfelbäume standen in weißer, vorsichtig tastender Blüte. Sie waren alt, aber gründlich beschnitten. Die Kronen waren nach oben und unten ausgedünnt. Die mittleren Zweige strebten mächtig in die Breite, wie Tischplatten, die sich an den Enden berührten. Sie bildeten ein durchlässiges Dach über uns. Der Obstgarten, von Rhododendren und Hecken gesäumt, schien einen weiten Bogen um das Haus zu beschreiben. Kugelförmig geschnittene Johannisbeersträucher meine ich gesehen zu haben, Wildblumenbeete und ausgedehnte Rabatten mit Himbeeren.

Auf irgendeine Weise muss ich wohl versucht haben, die Philosophie von Hinrich Giers mit diesem Bild einer freundlich zugerichteten Natur zu vergleichen. Dass mir zu spät klar geworden sei, worin die Faszinationskraft des Giers’schen Werks bestehe (Lou hatte mich, wie gesagt, vergeblich dafür zu interessieren versucht). Dass ich viel zu spät begriffen hätte, wie wichtig Selbsterkenntnis sei (Lou hatte mir das, wie gesagt, stets als Versäumnis angekreidet). Dass ich auf irgendeine Weise hätte nachholen wollen, was ich ihr damals schuldig geblieben sei. Und ich kann mich noch erinnern, dass ich verwundert war, wie schnell ich das alles unter dem Dach der Apfelbäume vorgebracht habe – fast so, als ob ich mir vorgenommen hätte, Lou davon tatsächlich bei passender Gelegenheit zu berichten. Es war noch nicht einmal die Unwahrheit. Schließlich war ich nicht nach Binsenburg gekommen, um Hinrich Giers zu begreifen, sondern Giers gefolgt, um Lou selbst zu enträtseln, das eigentliche Rätsel meines Lebens. Das jedoch hätte ich ihr schwerlich nahebringen können, hier, im Obstgarten der Villa Mögen, kaum zwei Stunden, nachdem wir uns wiederbegegnet waren. Wozu auch? Aufklärung über mich selbst war alles, was ich mir in Binsenburg gewünscht habe. Eine letzte Tür wollte ich aufstoßen, die mich in die Klarheit der Selbsterkenntnis führen würde.


Es war glücklicherweise nicht erforderlich, Lou die Motive meines Besuchs in Binsenburg genauer zu erläutern. Meine umständlichen Antworten schienen sie durchaus zufriedengestellt zu haben. Offenbar, so bemerkte sie, hätte ich doch noch meine »Liebe zur Weisheit« entdeckt, meine »innere Stimme« gerade noch rechtzeitig vernommen, vor dem drohenden Ende der »Sozialen Gesellschaft«. Spott, der für Lou keineswegs untypisch war, in dieser Situation jedoch merklich zu meiner Erleichterung beitrug. Mochte sie ruhig glauben, ich sei in Existenznot geraten und auf der Suche nach irgendeinem Rettungsanker. Beunruhigender wirkte schon, wie gut sie unterrichtet war. Zweifelsohne hätte ich mich fragen müssen, woher sie so genau über die »Soziale Gesellschaft« Bescheid zu wissen glaubte. Es war jedoch nicht einfach, sich solche Fragen zu stellen, wenn man mit Lou spazieren ging, einer selbstvergessenen, beinahe schlafwandelnden Lou, die ihre Hände in die Hüften stemmte, dem abschüssigen Weg kaum Widerstand leistete und ihre Glieder gleichgültig auf- und niederwogen ließ. Es war nicht einfach, sich solche Fragen zu stellen, statt an verregnete Sommerabende zu denken, an denen wir, einen schweren Rotwein auf der Zunge, durchnässt in die Frankfurter Parks geschlendert waren, aneinandergeklammert, auf dem Weg zu irgendeiner verborgenen Bank.

Ich versuchte mich zu konzentrieren und manövrierte den Kinderwagen auf ein Tor zu, das in eine hohe Gartenmauer eingelassen war. Lou hielt es auf, rot im Gesicht und etwas außer Atem. Als wir hindurchgegangen waren, lag zu unseren Füßen die Stadt, ein weißer, rings über das Tal und die Höhen gebreiteter Häuserteppich. Direkt unter uns fläzten die Villen auf den sanft absteigenden Terrassen des Paradieshügels. Im Tal leuchtete der altrosafarbene Turm der Marktkirche. Weiter hinten verlief das grüne Band der Binsenburger Allee. Die gegenüberliegenden Höhenzüge blickten etwas verdrießlich aus dem Dunst, darunter der Fichtenbuckel, auf dem der unglückliche Dr. Lenz residierte.

Wie gemacht schien das Panorama der hingebreiteten Stadt, um eine Spielfläche des eigenen Lebens darin zu sehen. Für Lou offenbar der geeignete Moment, um mir zu bedeuten, dass sie sich durch unsere Situation an »Pique Dame« erinnert fühle – und ob ich das Rätsel dieser berühmten Erzählung von Puschkin begriffen hätte. Typisch Lou, auf solche Weise ein Gespräch zu eröffnen. Woher hätte ich wissen sollen, was ihr an dieser Geschichte rätselhaft erschienen war? Sie ließ sich Zeit, spannte das Verdeck des Kinderwagens über dem schlafenden Jungen auf und lachte, als sie meinen verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. »Hermann versucht den Kartentrick der alten Gräfin herauszufinden«, glaubte sie mich erinnern zu müssen. »Er schleicht sich bei ihrer Zofe ein und bittet sie, ihm Zugang bei der Gräfin zu verschaffen.« Ich nickte ungeduldig. Selbstverständlich kannte ich die Geschichte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Lou machte es spannend und schaute lange und versonnen auf die Stadt hinunter. »Bis zum Schluss weiß man nicht: Liebt er Lise, die Zofe? Hofft er auf den großen Spielgewinn, weil er mit ihr durchbrennen will? Oder spielt er ihr nur etwas vor, um an das Geld zu kommen?«

Ich muss gestehen, dass ich über diesen literaturgeschichtlichen Betrachtungen etwas den Faden verloren hatte. Auch verstand ich nicht, weshalb wir uns mit einer Geschichte von Puschkin hier oben so lange beschäftigten. »Wie auch immer«, murmelte Lou und blickte auf die Stadt hinunter, »am Ende benötigt jeder Hermann eine Lise, die ihm Zugang zur Gräfin verschafft. Jemanden, der ihm die Tür öffnet zur Kammer der Geheimnisse.« Sie drehte sich zu mir und ließ noch einmal ihre Augenbrauen spielen. »Ist es nicht ein komischer Zufall, dass ausgerechnet ich deine Lise zu sein scheine?«

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Hinter den Verschanzungen seiner Umzugskartons saß am Abend desselben Tages Dr. Lenz und fand die Begebenheiten im Hause Schlierer erwartungsgemäß wenig erfreulich. Wie am Vortag berieten wir die Lage in der Einöde des Wohnzimmers. Dazu gab es Brötchen, die seit geraumer Zeit auf ihren Verzehr gewartet haben mussten, belegt mit Käsescheiben, die sich an den Rändern zu wellen begannen. Teilnahmslos brütete der Doktor vor sich hin und schien sich damit im eigentlichen Element seiner Binsenburger Tage zu befinden.

Den schlimmsten Teil meines Berichts hatte ich mir bewusst für den Schluss aufgespart. Auf schonungslose Weise nämlich hatte Lou am Ende Klarheit zwischen uns hergestellt, schienen sich weitere Fragen nach ihrer Zofenrolle zu erübrigen. Sie selbst habe Hinrich Giers das Exil in der Villa Mögen verschafft, hatte sie mir auf den letzten Metern des Heimwegs anvertraut. Sie selbst habe den Professor vom Binsenburger Exil überzeugt, kaum dass sein Wunsch erkennbar gewesen sei, sich aus dem akademischen Leben zurückzuziehen. Das Gesicht von Dr. Lenz glühte vor Zorn, als ich ihm diese sensationelle Neuigkeit übermittelte. Er, der Ahnungslose, musste zur Kenntnis nehmen, dass sich eine Studentin, die ihn beinahe um seinen guten Ruf gebracht hatte, in Binsenburg als Türhüterin seines Meisters aufspielte. Im Bewusstsein seiner Ohnmacht muss ihm dies wie ein Anschlag der hinterhältigsten Sorte erschienen sein.

Dabei hatte alles so harmlos auf mich gewirkt, als Lou und ich von unserem Aussichtspunkt über einen schmalen Pfad zur unterhalb gelegenen Terrassenstraße gestolpert waren. Nur ein paar Schritte weiter hatten wir ein unscheinbares Haus erreicht, das sich an den Hügel schmiegte und mit den modernen, schuhkartonförmigen Villen auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht konkurrieren konnte. Die graue Farbe blätterte von der Front. Auf einem Anbau befand sich eine Terrasse mit einer Pergola, die mit wildem Wein bewachsen war. Zum Eingang im erhöhten Parterre führten ein paar Stufen hinauf. Neben dem Treppenfuß parkte ich den Kinderwagen. Lou nahm den Jungen, der die zitternden Glieder streckte und im Halbschlaf seine Ärmchen um sie schlang. Mit der freien Hand fingerte sie den Schlüssel aus der Hosentasche und erklärte, dass ich nun alles wüsste. Dann ging sie mit dem Jungen die Stufen hinauf, schloss die Tür auf und verschwand im Hauseingang, ohne sich verabschiedet zu haben.

Ratlos blieb ich stehen und fühlte mich nicht gerade wie ein Glücksspieler, der versucht hat, sich eine verliebte Zofe zu engagieren. Eher war mir, als sei ich soeben selbst engagiert worden – ahnungslos, worauf ich mich eingelassen hatte. Ein Gefühl, das sich kaum dazu eignete, Dr. Lenz daran teilhaben zu lassen. Vermutlich war ihm bewusst geworden, wie wenig er die Sphären noch überblickte, in denen sein Übervater mittlerweile verkehrte. Der größte Philosoph der Gegenwart, weggesperrt in eine Kleinstadtresidenz, abgeschirmt von einer Ex-Studentin, die beim Meister offensichtlich ein- und ausging und in unmittelbarer Nähe seines Hauses ihren Wachtposten bezogen hatte. Ich fragte mich, ob sich der Doktor überhaupt noch anders mit Hinrich Giers verbunden fühlen konnte als durch die Schriften, die in seinen Kartons verstaut waren und die Sicht nach draußen versperrten.

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