Kitabı oku: «Rauch auf Rügen», sayfa 2

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VIER

Als das Wohnmobil in die Frankenstraße einbog und dabei über eine Bodenwelle hüpfte, schlug Danbi mit dem Knie gegen den Rahmen der Nasszelle.

»Aua«, sagte sie. »Bitte langsam fahren!«

Das galt Marvin Lenz, der am Steuer saß. Marvin schaute über die Schulter nach hinten.

»Beschwerden bitte an die Stadtverwaltung Stralsund, oder wie das hier heißt.«

»Außerdem sollst du dich anschnallen, Bambi.«

Das kam von Niklas, Marvins älterem Bruder. Niklas war der Chef, der Bestimmer des Geschwisterpaars. Marvin war der Lustige. Er hatte ihr auch den Namen Bambi gegeben, einfach weil er das witzig fand.

»Ich bin angeschnallt«, sagte sie und zeigte auf den Sicherheitsgurt. »Hier!«

»Dann schraub deine Stelzen ab«, sagte Marvin und schaut in den Rückspiegel.

Danbi lachte. Die Stelzen waren sein Lieblingswitz. Sie konnte nichts dafür, dass sie größer war als die beiden Männer da vorne. Und jünger. Und hübscher. Deswegen war sie ja überhaupt hier. Denn auch wenn es anders aussah, die beiden Männer in dem gemieteten Wohnmobil und die junge Danbi Park aus Seoul, Südkorea, waren keine Urlauber.

Sie waren geschäftlich unterwegs. Gestern auf einem Rock-gegen-Rechts-Festival in Jamel und nun auf dem Sprung nach Rügen. Wie der Hochseefischer dem Fisch folgt, so folgten sie den Touristenschwärmen. Und sie warfen ihre Netze dort aus, wo gute Beute zu machen war.

Danbis Blick glitt über die roten Backsteinfassaden, die entlang der Straße im Licht der Vormittagssonne einen matten, warmen Glanz hatten. ›Gemütlichkeit‹ fiel ihr ein, das Wort, das ihr bei der Deutschprüfung solche Probleme bereitet hatte. Wegen der Bedeutung und auch wegen der Aussprache.

Danbi war nicht sicher, ob sie sie inzwischen beherrschte. Vielleicht war ›Gemütlichkeit‹ für diese Häuser auch gar nicht die richtige Bezeichnung.

»Stopp. Halt mal an. Such einen Parkplatz«, sagte Niklas plötzlich.

Marvin gehorchte seinem Bruder grundsätzlich aufs Wort. Aber selten ohne einen seiner Witze.

»Was ist denn los?«, grinste er Niklas an. »Hast du vergessen, Pipi zu machen?«

Niklas hatte es sich abgewöhnt, auf die Sprüche seines Bruders zu reagieren.

»Hast du den Wochenmarkt gesehen, an dem wir eben vorbeigefahren sind?«

»Ja, hab’ ich«, sagte Marvin, während er eine Parklücke am Straßenrand ansteuerte. »Und du meinst …?«

»Soll ich umziehen?«, fragte Danbi von hinten.

»Ich mich umziehen«, verbesserte Niklas. Er schaute kurz zurück und musterte sie.

»Nein, das ist okay so.«

Fünf Minuten später schlenderte Bambi über den Wochenmarkt von Stralsund. Obwohl sie ungeschminkt war und nur ein einfaches dunkelblaues T-Shirt zu ihren weißen Jeans trug, drehten sich einige Leute nach ihr um. Alte und junge, Männer und Frauen. Und fast alle lächelten freundlich. Eine große, schlanke Frau mit einem hübschen, exotischen Gesicht und grazilen Bewegungen. Sie fand es schade, dass sie die flachen Schuhe anhatte.

Die weißen Pumps hätten ihre ›Stelzen‹ noch mehr zur Geltung gebracht. Und ihr einen besseren Überblick verschafft. Irgendwo da vorne müssten Niklas und Marvin schon ihrer Arbeit nachgehen.

FÜNF

Fabian Radegast stellte seinen Wagen auf dem Hof des Polizeikommissariats Stralsund ab. Annekatrin Struve hatte ihn vor zehn Minuten am Tatort im Strelapark abgelöst. Sachlich und selbstbewusst wie immer. Und ohne ein Wort über ihre Verspätung zu verlieren. Blass war sie Radegast vorgekommen, aber vielleicht lag das nur an dem mintgrünen Shirt, das sie heute zu einem kurzen Tigerrock und braun-grün geringelten Pipi Langstrumpf-Leggings trug.

Natürlich hätte Radegast gerne gewusst, warum sie nicht erreichbar gewesen war. Aber da sie es nicht von sich aus ansprach, hatte er es dabei belassen. Zumal Vogelsang und die Spurensicherung ständig um sie herum wieselten. Natürlich hatte er als Chef nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich um die Belange seiner Mitarbeiter zu kümmern, aber in diesem Fall hatte das wohl Zeit. Und außerdem, erinnerte er sich gerade, hatte er heute eigentlich dienstfrei. Radegast steckte die Autoschlüssel weg und ging auf das Dienstgebäude zu.

Da fiel ihm Maike ein. Maike Boysen, eine Freundin von früher. Einen Sommer lang waren sie ein Paar gewesen, ein hübsches Paar, hatten alle gesagt. Aus Gründen, über die er heute nicht mehr nachdenken mochte, waren sie auseinandergegangen. Maike hatte irgendwo studiert, und er war nach seiner Ausbildung in Cuxhaven gelandet. Erst im letzten Jahr hatten sie sich zufällig wiedergetroffen. Maike arbeitete inzwischen als Eventmanagerin mit einer eigenen Agentur hier in Stralsund. Sie hatten sich ein paar Mal für eine Pizza und ein Glas Wein zusammentelefoniert, und bei so einer Gelegenheit hatte Radegast Maike zu sich eingeladen, in sein Haus nach Altefähr. Das kannte sie noch nicht. Ihm schien, Maike hatte sich über die Einladung gefreut. Aber dann war immer wieder was dazwischengekommen. Wie das so ist bei zwei berufstätigen Menschen, deren Jobs keine geregelten Bürozeiten kennen.

Aber heute war der Termin, der beiden gepasst hatte, am Abend so gegen halb acht. Radegast schaute auf seine Uhr und dann zu seinem Fenster hoch. Jetzt war es kurz vor neun Uhr und Dienstag, das hieß, der Wochenmarkt war schon im Gange. Radegast ging zurück zu seinem Wagen, nahm den alten Korb aus dem Kofferraum und verließ den Hof. Er nahm den Weg über den Frankenteich und die Marienkirche zum Neuen Markt und ging dabei zügig. Um diese Zeit kam er hier noch gut vorwärts und traf sogar ein paar bekannte Gesichter. Man grüßte sich im Vorbeigehen. Weiter vorne begann die Fußgängerzone. Normalerweise konnte Radegast Fußgängerzonen nicht so viel abgewinnen. In anderen Städten, die er kennengelernt hatte, wirkten sie entweder steril oder ramschig.

Aber hier in Stralsund hatte man das irgendwie hingekriegt, dachte er. Eine vernünftige Mischung aus Geschäften, die es schon zu seiner Schulzeit gegeben hatte, und den üblichen Drogerie-, Telefon- und Modeketten, ohne die es heute wohl nicht mehr ging. In den oberen Stockwerken der Häuser gab es ein paar Arztpraxen und Anwaltskanzleien, aber vor allem Wohnungen. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass er sich hier wohlfühlen konnte. Und die morgendliche Sommersonne, die ihm im Augenblick auf den Rücken brannte.

Auf dem Gehsteig neben der Marienkirche war eine Stadtführung stehengeblieben. Die Gruppe bestand aus ungefähr zehn Menschen, die in die Luft guckten und dabei den Worten ihres Stadtbilderklärers lauschten:

»… ist heute nur noch 104 Meter hoch. Aber bis zu einem Blitzeinschlag im Jahre 1647 war Sankt Marien zu Stralsund mit ihrem 151 Meter hohen gotischen Spitzturm für fast hundert Jahre das höchste Bauwerk der Welt.«

Mehr konnte Radegast nicht aufschnappen, während er um die Ausläufer der Gruppe herummanövrierte und Entgegenkommern auswich. Er wollte gerade die Fahrbahn überqueren, als er hinter sich eine Frauenstimme hörte.

»Fabian? Mensch, Fabian, du bist meine Rettung.«

Radegast blieb stehen, drehte sich um und schaute in das leicht gerötete Gesicht von Laura Henning, Oles Ehefrau und Janas Mutter.

»Ich weiß«, zwinkerte Radegast ihr zu, »das sagen sie alle. Wo brennt’s denn, Laura?«

»Kannst du mir vielleicht 100 Euro leihen? Ich habe gerade festgestellt, dass ich meine Karte zuhause vergessen habe. Und auf der Post liegt eine Nachnahmesendung für Jana, die ich bezahlen muss.«

»Klar doch.«

Radegast zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.

»Schickes Sweatshirt«, sagte Laura, während Radegast seine Scheine inspizierte. »Neu?«

»Ja. Ole nennt es den Picasso-Pulli«, erklärte Radegast und schüttelte den Kopf. »Ich habe nur noch vierzig und ein paar Münzen. Aber komm, ich will sowieso zum Markt. Da ist ein Automat.«

»Ich gebe es dir heute Abend wieder, danke.«

Laura überquerte mit ihm die Fahrbahn.

»Da nich für«, sagte Radegast.

Als er drei Minuten später vom Geldautomaten auf den Neuen Markt kam, hatte er noch keine Ahnung, was er für Maike kochen sollte. Er würde sich inspirieren lassen: junge Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren, Zucchini. Vorneweg grünen Salat, für den musste er jetzt anstehen. Zitrone und saure Sahne für die Salatsoße hatte er noch zuhause. Und als Hauptgang würde es Fisch geben. Den konnte er aber auf dem Heimweg unten am Hafen holen, direkt vom Kutter. Radegast suchte einen schönen Salatkopf aus, bezahlte ihn und legte ihn obenauf in seinen Korb.

Als er sich umdrehte, stieß er fast mit einer jungen Frau zusammen, großgewachsen, hübsch, eine Asiatin. Während sie beide zurückwichen und er jemanden streifte, der hinter ihm angestanden hatte, schaute die Frau ihn erschrocken an. Und dann lächelte sie schüchtern. Das gefiel Radegast, er nahm den Korb auf die andere Seite und lächelte zurück. Im Weggehen drehte er sich noch mal nach ihr um: Sie entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung. Offenbar war sie allein hier. Und ohne Fotoapparat. Kaum war ihm dieser Gedanke bewusst geworden, rief Radegast sich selbst zur Ordnung. Asiaten treten grundsätzlich in Gruppen auf und knipsen alles, was ihnen vor die Linse kommt. Das war genau die Art von Vorurteil und Voreingenommenheit, die er seinen Mitarbeitern immer wieder vorhielt. Zufrieden mit sich und seinen Einkäufen, machte Radegast sich auf den Rückweg.

Kurz bevor er den Markt verlassen wollte, entdeckte er an einem Stand noch Süßkirschen. Die ersten dieses Sommers. Davon würde er auch noch eine Tüte mitnehmen. Er ließ sich ein gutes Pfund abwiegen und griff nach hinten zu seinem Portemonnaie. Es war weg!

Radegast tastete alle seine Taschen ab, schaute auch unter die Einkäufe in seinem Korb. Das Portemonnaie blieb verschwunden. Er ließ die Kirschen da. Wider besseres Wissen ging er noch einmal zu allen Ständen zurück, an denen er eingekauft hatte. Natürlich ohne Ergebnis. Radegast war längst klar: Man hatte ihn beklaut.

»Donnerlüttchen«, sagte Joachim von Plessen, der neben Radegasts Schreibtisch an der Fensterbank lehnte. »Einem Kriminalbeamten das Portemonnaie stante pede aus der Kledage zu entwenden, das entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit.«

»Aus der Gesäßtasche, hier«, sagte Radegast und zeigte auf seine Jeans. Die leicht verschrobene Ausdrucksweise seines jungen Kollegen fiel ihm oft gar nicht mehr auf. »Und dass ich Polizist bin, sieht man mir ja nicht an. Hoffe ich.«

»Aber als Polizist weißt du, dass die Geldbörse da nicht hingehört. Am besten aufgehoben ist sie in einer Innentasche, möglichst mit Reißverschluss«, mischte sich Hella Binder ein, die im Türrahmen erschien.

»Ich habe aber keine Innentasche.«

Das klang gereizter, als Radegast es meinte. Deshalb versuchte er einzulenken.

»Aber nach dieser Erfahrung werde ich mir sowas vielleicht zulegen.«

»Falls es dich tröstet, Chef: Du bist nicht das einzige Opfer.«

Sie legte einen Zettel auf Radegasts Schreibtisch.

»Das hier haben die uniformierten Kollegen aufgenommen.«

»Nee«, sagte Radegast, »das tröstet mich überhaupt nicht.«

Er warf einen Blick auf den Zettel, Joachim von Plessen trat hinter ihn und schaute ihm über die Schulter.

»Fünf Taschendiebstähle in Stundenfrist, samt und sonders auf dem Neuen Markt. Es hat den Anschein, als würde da ein manuell sehr geschickter Fachmann seiner Profession nachgegangen sein. Beziehungsweise sein Unwesen getrieben haben.«

»Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen«, vermutete Hella wahrscheinlich zu Recht. »Nicht jeder bringt sowas zur Anzeige. Unser Chef ist das beste Beispiel dafür.«

»Hier«, sagte Radegast und gab von Plessen den Zettel. »Dein Fall. Bring diesen Fachmann zur Strecke. Und jetzt bitte raus hier. Ich muss die gestohlenen Karten sperren lassen und so weiter.«

»Ich gelobe, mein Bestes zu tun«, sagte Joachim von Plessen, »aber, Chef, ich brauche dann baldmöglichst Ihre Anzeige bezüglich des Taschendiebstahls.«

»Raus«, sagte Radegast, »und Tür zu.«

Als von Plessen gegangen war, machte Radegast im Kopf schnell Inventur des entwendeten Portemonnaie-Inhalts. Von den 150 Euro, die er vorhin abgehoben hatte, hatte er Laura 100 geliehen, blieben 50, minus die Einkäufe vom Markt plus die 40 Euro, die ursprünglich noch im Portemonnaie waren. Ein Verlust von ungefähr 70 Euro plus Münzen, dazu vier oder fünf Karten, zum Glück nichts Dienstliches. Seine EC-Karte war das Wichtigste, die musste er sperren lassen. Er wählte zweimal die 116, als das Telefon auf Struves Schreibtisch klingelte. Radegast legte den Hörer wieder auf und machte sich lang, um das andere Telefon zu erreichen.

»Kriminalpolizei Stralsund, Radegast.«

»Moin, Kollege. Färber aus Greifswald. Ist Annekatrin Struve zu sprechen?«

»Nee«, sagte Radegast, »im Moment nicht. Soll ich was ausrichten?«

Färber zögerte etwas, bevor er fortfuhr.

»Bestell ihr bitte, dass Roland Schiller wieder draußen ist. Schiller wie Goethe, dann weiß sie schon. Und liebe Grüße. Tschüss.«

Der Kollege aus Greifswald hatte aufgelegt. Radegast wusste, dass Annekatrin dort vor ihrer Zeit in Stralsund Dienst getan hatte. Aber der Rest war für ihn ein einziges Fragezeichen. Noch eins.

SECHS

Das Wohnmobil rollte über eine schmale Landstraße. Obwohl es ein strahlend blauer, heißer Sommertag war, lag die Fahrbahn fast vollständig im Schatten. Die Bäume rechts und links der Straße waren so groß und standen so dicht, dass ihre Kronen sich berührten. Zuhause in Korea hatte Danbi so etwas nie gesehen. Sie lehnte sich zurück und genoss den Blick zwischen den Bäumen hindurch auf Wiesen und Felder. Vorhin auf der hohen Brücke hatte sie das Meer gesehen, wunderbar blau, an den Rändern fast türkis. Aber hier unter den Bäumen gefiel ihr diese Insel noch besser. Das Smartphone in ihrer Hand gab ein Pling von sich. Danbi steckte es nach einem kurzen Blick auf das Display weg. Eigentlich sollte sie ihre Mails und Nachrichten beantworten. Die meisten davon kamen wie eben die SMS nach wie vor von ihren Schulfreundinnen oder Verwandten. Aber Korea war so weit weg. Für sie jetzt zu weit. Sie schaute lieber aus dem Fenster. Diese Insel Rügen mochte sie schon jetzt sehr.

Als sie über die Brücke gefahren waren, hatte Niklas ihr einige Geldscheine nach hinten gereicht. Ihr Anteil vom Wochenmarkt in dieser Stadt mit den roten Ziegelhäusern, deren Namen sie sich nicht gemerkt hatte. Niklas und Marvin waren zufrieden mit ihrem spontanen Abstecher. Sie hatte das Geld weggesteckt, ohne es zu zählen. Danbi war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Finanzielle Sorgen hatte sie nie kennengelernt. Ihr Vater war in ihrer Heimat ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Er hatte einen Vertrieb für elektrische Haushaltsgeräte aufgebaut, zunächst nur in Seoul. Inzwischen verkaufte er sie in ganz Südkorea. Er vertrat die Überzeugung, dass die Mixer, Geschirrspüler und Gefrierkombinationen aus Deutschland konkurrenzlos wären, die besten weltweit. Und Danbis Mutter, die als passionierte Hausfrau in der Lage war, das ebenfalls zu beurteilen, teilte seine Ansicht. So hatte es für die Eltern nahegelegen, ihr einziges Kind in Seoul auf eine Höhere Schule zu schicken, an der auch Deutsch unterrichtet wurde.

Zuerst hatte Danbi sich damit schwergetan. Aber dann, mithilfe von Gesine Hartung, einer Austauschlehrerin aus Hannover, hatte sie sich in die deutsche Literatur und Sprache verliebt: Emilia Galotti, das Käthchen von Heilbronn, die Marquise von O …. Gesine Hartung hatte Danbi gezeigt, dass diese Frauenfiguren sehr viel mit ihr und ihrem Leben zu tun hatten. Und Danbi hatte sich ihnen verbunden gefühlt.

Erst nach der Schulzeit, als Danbi mit einer Freundin das Gastspiel einer brasilianischen Theatergruppe besucht hatte, war ihr von einem Moment auf den nächsten klargeworden, dass es ihre Aufgabe wäre, die Heldinnen ihrer Schulzeit auf der Bühne darzustellen. Auf einer deutschen Bühne. Nach einer kurzen und heftigen Diskussion war die Mutter bereit gewesen, die Tochter ziehen zu lassen. Und ihr Vater hatte ihr einen Deutschkurs für Fortgeschrittene in Freiburg finanziert, bei dem sie scheiterte, dann noch einen, diesmal den für Anfänger. Auf der privaten Schauspielschule, die sich daran anschloss, wurde seiner Tochter dann erklärt, dass es kaum deutsche Theater geben würde, die Verwendung für eine Emilia Galotti mit koreanischen Gesichtszügen hatten. Das konnte Danbi sich allerdings nicht eingestehen. Und ihren Eltern schon gar nicht.

Als Aushilfskellnerin mit demnächst ablaufendem Visum in einer Freiburger Studentenkneipe war sie Niklas Lenz begegnet. Fast 30 Jahre älter und fast 20 Zentimeter kleiner, dafür aber 20 Kilo schwerer als sie, machte er ihr nach einer kurzen Kennenlernphase ein Jobangebot. Niklas und Marvin Lenz wollten in einem Wohnmobil durch Deutschland reisen und arglosen Passanten ihre Geldbörsen und Portemonnaies aus Jacken- und Gesäßtaschen ziehen. Genaugenommen wäre es Niklas, der zieht und das Erbeutete sofort an Marvin übergibt. Der hätte es dann so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone zu bringen. Bambis Aufgabe würde es sein, auf ein Signal von Niklas hin das ins Auge gefasste Opfer abzulenken. Oder im Fall von Entdeckung für Verwirrung zu sorgen, bis Marvin und Niklas in Sicherheit wären. Weil bei diesem Job ihre schauspielerischen Fähigkeiten gefragt waren, hatte Bambi das Engagement angenommen. Ihren Eltern, mit denen sie mindestens zweimal die Woche skypte, hatte sie erzählt, sie sei nun auf Tournee. Mit den »Räubern«.

»Rechts. Rechts geht’s nach Binz.«

Ein abruptes Bremsmanöver und ein Wortwechsel vorne zwischen den Brüdern rissen Danbi aus ihren Gedanken.

»Das Navi sagt aber geradeaus«, murrte Marvin. »Wir wollen nicht nach Binz, sondern nach Prora.«

»Das ist dasselbe«, sagte Niklas. »Und unser Beachvolleyball-Turnier ist in Binz.«

»Aber der nächste Stellplatz für das Wohnmobil ist in Prora. Den habe ich reserviert und ins Navi eingegeben.«

Niklas schwieg. Und Marvin fuhr weiter, geradeaus dem Navi nach.

Wenn es möglich war, hielt Danbi sich aus den Gesprächen der beiden raus. Manchmal verstand sie sowieso nur halb, worum es ging. Und außerdem legten Marvin und Niklas auch wenig Wert auf ihre Ansichten. Immerhin hatte sie jetzt erfahren, dass sie zu einem Beachvolleyball-Turnier fuhren. Das gefiel ihr. Da war es wahrscheinlich ganz interessant, interessanter als auf einem Wochenmarkt in der Stadt, deren Namen sie sich nicht gemerkt hatte.

SIEBEN

Fabian Radegast beugte sich über die Papiere, die er gerade aus der Unterschriftenmappe gezogen hatte. Kaum zu glauben, der Papierkram, mit dem er sich als Dienststellenleiter herumzuplagen hatte. Er stieß auf einen Urlaubsantrag von Hella Binder. Wieso hatte sie ihm nichts davon gesagt? Aber sie hatte ja einen besseren Überblick über die Dienstpläne als er. Also würde das vermutlich seine Richtigkeit haben. Radegast setze seine Unterschrift unter den Antrag, als hinter ihm die Tür aufging. Annekatrin Struve kam herein, warf ihr dickes Notizbuch, das mit eingelegten Zetteln gespickt war, auf den Schreibtisch und schaltete ihren Rechner ein.

»Diesmal haben sie die Geldkassette aus dem Automaten gekriegt«, sagte sie und stand auf. »Die Bank rechnet gerade aus, wieviel noch drin war. Und die Spurensicherung hat ein Überwachungsvideo aufgetan, auf dem möglicherweise das Täterfahrzeug drauf ist. Willst du es sehen?«

»Später«, sagte Radegast.

Struve ging um ihren Schreibtischstuhl herum und entdeckte Radegasts Wochenmarkteinkäufe, die neben seinem Schreibtisch standen.

»Oh. Etwa für mich?«

»Nee«, entgegnete Radegast, während Annekatrin sich wieder vor ihren Bildschirm setzte.

»Aber sagt dir der Name Schiller was? Robert Schiller?«

»Roland Schiller, klar«, sie hielt einen Moment inne, »haben sie ihn entlassen?«

»Ja, scheint so«, sagte Radegast. »Der Kollege Färber aus Greifswald hat vorhin angerufen. Ich soll es dir ausrichten.«

»Danke.«

Sie begann auf ihrer Tastatur zu tippen.

Radegast wusste, dass dies keine Unfreundlichkeit von ihr war, sondern ein Zeichen höchster Anspannung und Konzentration. Wahrscheinlich wollte sie die morgendliche Verspätung wieder aufholen. Oder tat sie nur so?

Er stand auf und stellte sich an die Fensterbank neben den Schreibtischen. Sein Lieblingsplatz, wenn es um Diskussionen oder den Austausch wichtiger Informationen ging.

Alle wussten das, natürlich auch Annekatrin Struve. Also hörte sie auf zu tippen und schaute ihn an. Sie ist wirklich blass, dachte Radegast, und sie hat Ringe unter den Augen.

»Was war denn mit diesem Schiller?«

Sie rollte mit ihrem Stuhl etwas zurück.

»Er hat einen Juwelier in Greifswald überfallen. Vor ungefähr fünf Jahren. Kurz vor Feierabend ist er reingekommen, hat den Ladeninhaber mit einem Beil bedroht, die Auslagen und Vitrinen zerschlagen, teure Uhren und Schmuckstücke in einen Beutel gestopft und ist verschwunden. Die alarmierten Kollegen mussten sich als erstes um den Juwelier kümmern. Herzinfarkt aufgrund der Aufregung. Zwei oder drei Tage später ist er leider verstorben.«

Struve machte eine Pause, wie um sich zu erinnern.

»Aber du hast Schiller gefunden und überführt.«

Radegast versuchte, ihren Bericht wieder in Gang zu setzen Struve nickte.

»Schiller kam von Rügen. Aus Zirkow. Er hatte da ein kleines Bauunternehmen, das wohl nicht besonders lief. Jedenfalls gab es Schulden. Wir sind ihm über das Beil, das er am Tatort zurückgelassen hatte, auf die Spur gekommen. Da stand der Name seiner Firma drauf.«

»Nicht sonderlich professionell.«

»Eben. Schiller ist kein Profi. Er war ziemlich naiv. Kurz nach dem Überfall konnte er plötzlich einen Teil seiner Schulden bezahlen. In der ersten Vernehmung hat er ausgesagt, er wäre in Bad Zwischenahn in der Spielbank gewesen und hätte gewonnen. Glaubst du an solche Zufälle? Ich nicht.«

»Aber du hast das natürlich überprüft.«

»Soweit das möglich war, ja«, nickte Struve. »Schiller war tatsächlich in der Spielbank. Aber für seine angebliche Glückssträhne gab es keine Zeugen. Und von der Spielbank selbst kriegst du über Gewinne oder Verluste ja keine Auskunft.«

»Wenn ihm das klar war, wäre das ein ziemlich geschicktes Alibi«, fand Radegast. »Dann wäre er alles andere als naiv. In dem Fall hätte er die Sache ordentlich durchgeplant.«

Annekatrin Struve schüttelte den Kopf.

»Schiller ist kein Planer. Sein Überfall war eine Schnapsidee.«

»Die einen Juwelier das Leben gekostet hat.«

»Und Roland Schiller ein paar Jahre seines Lebens, plus seine Firma und auch seine Ehe. Im Grunde ist er ein armer Kerl. Ich habe versucht, ihm Brücken zu bauen: wie ein Geständnis sich positiv auf das Strafmaß auswirken würde und so weiter. Aber er hat nicht gestanden. Im Prozess habe ich dann meine Ermittlungsergebnisse vorgetragen. Die Staatsanwaltschaft hat sie sich zu eigen gemacht, und das Gericht ist der Argumentation des Staatsanwalts gefolgt. Ganz einfach – vier Jahre.«

»Dann hat er jetzt vermutlich etwas Nachlass wegen guter Führung bekommen.«

»Ich gönn’s ihm«, sagte Struve. »Auch wenn er mich umbringen wollte.«

»Wann?« fragte Radegast. Er hatte von Anfang an geahnt, dass Struves Geschichte ein dickes Ende hatte.

»Nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. Er hat getobt.«

Struve lächelte.

»Ich übersetze jetzt mal: Sobald er raus sei, werde er mich persönlich zur Rechenschaft ziehen.«

Radegast schüttelte den Kopf.

»Eine explizite Drohung. Und du findest das offenbar lustig.«

»Ach, Fabian, du kennst Schiller nicht. Das war seine Wut über das Urteil, seine Enttäuschung. Er könnte so was gar nicht. Selbst wenn er wollte.«

»Ich werde es nicht darauf ankommen lassen, dass er dir das Gegenteil beweist«, erklärte Radegast.

»Aye, aye, Sir. Aber was heißt das jetzt konkret? Habe ich Hausarrest, oder kriege ich Personenschutz?«

Jetzt musste Radegast lächeln.

»Sei einfach vorsichtig. Und lass es einen von uns wissen, bevor du irgendwo allein hingehst.«

»Ja«, sagte Struve, schaltete ihren Rechner aus und stand auf. »Ich gehe jetzt runter zum Bäcker und hole mir ein belegtes Brötchen. Ich bin heute früh mit leerem Magen aus dem Haus. Kommst du mit?«

Zehn Minuten später gingen beide über den Fußgängersteg zum Hafengelände. Der Bäcker in der Fußgängerzone war von einer Schülergruppe auf Klassenfahrt umlagert gewesen. Und sie hatte plötzlich sowieso mehr Appetit auf ein Fischbrötchen.

»Übrigens«, sagte sie zu Radegast, »danke noch mal, dass du heute Morgen für mich eingesprungen bist.«

Und weil Radegast schwieg, hängte sie noch so etwas wie eine Erklärung an.

»Ich hatte einen Termin, der länger gedauert hat. Länger als erwartet.«

Radegast sah sie von der Seite an.

»Einen Termin? Morgens um halb acht?«

Annekatrin schaute weiter geradeaus, vorbei am Ozeaneum, über das Hafenbecken weit in Richtung Rügen.

»Mein Termin war um 6.15 Uhr. Wir dachten, ich bin rechtzeitig fertig.«

Radegast hatte den Eindruck, als wenn sie dabei war, ihre gewohnte Selbstsicherheit zu verlieren. Ihr angestrengter Blick, ihre Kopfhaltung, das leichte Zögern in ihrer Stimme, das kannte er kaum an ihr. Automatisch fragte er sich, ob er wegen einer unbedacht gemachten Bemerkung dafür verantwortlich war. Gerade als er sie fragen wollte, drehte sie den Kopf und sah ihn an. Trotzig und selbstbewusst.

»Ich war heute Morgen in Greifswald, in der Uniklinik. Höchstwahrscheinlich ist es nichts Ernstes. Aber bevor das feststeht, wäre es nett, wenn du es für dich behältst. Ich möchte jetzt nicht …«

Sie ließ den Satz in der Schwebe, ihre ungewohnte Unsicherheit war jetzt offensichtlich.

Fabian Radegast war stehengeblieben, Annekatrin Struve auch. Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm.

»Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte er leise in das dunkle Gewuschel ihrer Haare.

»Ja, ich weiß, danke.«

Sie machte einen Schritt zurück und lächelte Radegast tapfer an.

»Bei der letzten Vorsorgeuntersuchung hat meine Hausärztin etwas an meiner Lunge gefunden. Und die Laborwerte waren auch nicht ganz in Ordnung. Also hat sie mich zum Röntgen geschickt, weil ich im Frühjahr diesen hartnäckigen Husten hatte. Die Bilder waren aber nicht eindeutig.«

Annekatrin zögerte erneut, bevor sie weiterredete.

»Das heißt, sie haben nur nicht eindeutig gezeigt, dass da nichts ist. Also hat meine Ärztin mich zum CT geschickt. Und Dampf gemacht. Normalerweise wartest du mindestens vier Wochen auf einen Termin. Aber sie kennt einen Spezialisten an der Uniklinik in Greifswald, und der hatte extra für uns einen blockiert. Den heute früh um 6.15 Uhr. Aber als wir ankamen, gab es irgendeinen Notfallpatienten. Und als ihr dann angerufen habt, lag ich noch in der Röhre. Keine Chance zu telefonieren.«

Annekatrin Struve setzte versuchsweise noch einmal ihr trotziges Lächeln auf.

»Und …«, sagte Radegast und musste sich erst einmal räuspern, »und was ist dabei rausgekommen?«

»Noch nichts. Ergebnisse gibt es frühestens am Freitag. Eventuell muss ich dann auch noch mal hin.« Sie machte eine Pause. »Tut mir leid. Wahrscheinlich hätte ich vorher mit dir darüber reden sollen.«

»Quatsch«, sagte Radegast. »Hör bitte auf, dir Vorwürfe zu machen.«

Sie waren am Stand mit den Fischbrötchen angekommen. Annekatrin bestellte sich eins mit Makrele, Radegast schloss sich an.

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