Kitabı oku: «Rauch auf Rügen», sayfa 3

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ACHT

Roland Schiller war wütend. Er riss sämtliche Fenster auf und hakte sie fest. Sein Haus roch wie ein Sack ungewaschener Socken. Oder wie angefaulte Kartoffeln. Dabei hatten Gärbers von nebenan versprochen, sich um sein Haus und seine Sachen zu kümmern, während seiner Abwesenheit. Eben war er drüben gewesen, um sein Auto zurückzuholen. Da hatte Egon Gärber ihm mit den Autoschlüsseln eine Rechnung über 1700 Euro hingeschoben. Der Volvo hätte im März ja zum TÜV gemusst, und das seien die notwendigen Reparaturkosten gewesen. Schiller hatte erst mal nach Luft geschnappt. Nicht bloß wegen der Summe. Obwohl, das auch. Aber mehr noch wegen Egons Dreistigkeit. Und weil Vera da so hinter ihm gestanden und Egon den Rücken gestärkt hatte.

Ich meine, das ist doch eigentlich unglaublich, sagte sich Roland Schiller jetzt. Er dachte die Sätze, die ihm vorhin nicht eingefallen waren. Die nutzen jahrelang meinen Wagen für lau, und dann sowas. Von wegen ein Gefallen unter Nachbarn. Hyänen sind das. Und dann kriegen sie es nicht mal fertig, ab und zu mein Haus durchzulüften. Wer weiß, was die hier veranstaltet haben, während ich nicht da war? Aber damit ist jetzt Schluss. Endgültig.

Schiller verließ das Haus und ging in den Garten. Hier hatten die Gärbers auch nichts gemacht. Überhaupt nichts. Er riss ein paar vertrocknete Ranken aus seinen Tomaten und stach sich an einer der Disteln, die sich überall breitgemacht hatten. Er warf die Ranken zurück auf die Tomaten. So wurde das nichts. Das musste man mit System machen. Und mit Arbeitshandschuhen. Roland Schiller ging rüber zu seinem Schuppen, in dem die Gerätschaften seiner alten Baufirma lagerten. Hier mussten auch Arbeitshandschuhe sein. Als erstes fiel ihm ein alter Waschmittelkarton in die Hände, noch halbvoll. Das Zeug war etwas klumpig, aber wohl noch gut. Wahrscheinlich hatte das seine Ex-Frau dagelassen, bevor sie ausgezogen war. Jetzt konnte er wenigstens die Bettwäsche in die Maschine stecken und musste nicht in dem muffigen Zeug schlafen. Er nahm den Karton und ging über den Hof ins Haus zurück. Am oberen Ende der Kellertreppe blieb er stehen und wischte sich den Schweiß ab. Der größte Unterschied zwischen der JVA und der Freiheit waren nicht die abgeschlossenen Türen. Der Unterschied war, dass man in der JVA immer wusste, was gerade Sache war. Und was als nächstes kam. Aber hier? Garten, Waschmaschine, Lüften, das Auto – alles gleichzeitig und alles gleich wichtig. Plötzlich fiel ihm wieder der Traum von heute früh ein. Helga, das tote Schaf. Er hatte nie ein Schaf gehabt. Und warum ausgerechnet Helga? Er kannte gar keine Helga, jedenfalls erinnerte er sich an keine. Ein heftiger Windstoß schlug die Tür hinter Schiller zu. Er drehte sich um, machte sie wieder auf und sicherte sie mit einem Ziegelstein. Unwichtig waren die offenen Türen für ihn auch nicht. Er stieg die Treppe runter und bestückte seine Waschmaschine.

Als Roland Schiller aus dem Keller wieder hochkam, bekam er einen Schreck. Eine Frau stand reglos in der offenen Tür zum Hof. Wegen des Gegenlichts konnte er ihr Gesicht nicht erkennen.

»Sie müssen Schiller sein«, sagte die Frau. Ihre Stimme hatte einen leichten Akzent, den Schiller nicht gleich zuordnen konnte.

»Ja«, sagte er, während er die letzte Treppenstufe nahm. »Roland Schiller, ich bin gerade …«

»Ich weiß«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich bin Michaela. Frau Harms.«

»Ach«, sagte Schiller, »ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet. Jedenfalls nicht so schnell. Ich bin noch nicht dazu gekommen, Ihr Zimmer fertig zu machen.«

Michaela Harms, immer noch im Gegenlicht, schaute in Richtung Wohnzimmer und dann die Treppe hoch.

»Sie müssen sich keine Umstände machen«, erklärte sie schließlich. »Ich wohne im Hotel.«

»Ach so«, sagte Schiller, »in welchem denn?«

»In einem, das Sie mir empfehlen werden.«

Roland Schiller spürte, dass hier etwas schiefzulaufen drohte. Die Frau, deren Gesicht immer noch im Schatten war, behandelte ihn nicht gerade wie einen gleichberechtigten Partner. Was sie doch immerhin waren. Oder nicht?

»Wie wäre es«, sagte Schiller, »wenn wir erst mal einen Begrüßungsschluck nehmen, draußen im Garten?«

»Gut«, sagte sie und drehte sich um.

»Haben Sie Aperol Spritz?«

»Ich fürchte nicht«, erklärte Schiller, während er ihr durch den Hof in den Garten folgte.

»Ich habe Dosenbier. Und Rum. Und etwas Cognac müsste auch noch da sein.«

Jetzt konnte er Michaela Harms wenigstens ansehen. Eine zierliche, fast mädchenhafte Blondine. Sie trug eine kurze, schwarze Lederjacke über einem weißen Sommerkleid, eine Handtasche hing über der linken Schulter, und mit der rechten Hand zog sie einen kleinen Rollkoffer. Das alles sah nicht eben billig aus. Sein Freund Oliver musste wirklich gutes Geld gemacht haben, als er noch draußen war.

»Dann entscheide ich mich wohl für den Cognac«, sagte Michaela Harms nach einer angemessenen Bedenkzeit und drehte sich um.

Schiller schaute ihr ins Gesicht. Sie war älter, älter, als ihre Aufmachung vermuten ließ, sicher auch älter als Oliver Harms. Und damit auch älter als er selbst. Und dann war da noch was. Schiller vermutete, dass Michaela Harms der Natur mit Hilfe der Kosmetik ein Schnippchen hatte schlagen wollen. Und dass dies nicht mehr funktionierte. Sie stand vor seinem Gartentisch und strich sich mit der rechten Hand eine lange blonde Strähne aus der Stirn. Ihre Finger, mit mehreren schweren Ringen besetzt, zitterten. War sie jetzt doch etwas nervös? Das hätte Schiller etwas beruhigt. Aber ihre nächste Frage kam wieder hart und direkt.

»Also«, sagte sie, »was ist mit meinem Cognac?«

»Kommt«, sagte Schiller. »Bitte, setzen Sie sich.«

Er ging ins Haus. Und als er zurückkam, mit zwei Bierdosen in der Hand, stand sie immer noch neben dem Gartentisch. Der war ziemlich verdreckt, sah Schiller jetzt. Genau wie die Stühle.

»Leider kein Cognac mehr da. Auch kein Rum. Die Leute von nebenan, die auf mein Haus aufgepasst haben, während ich … während ich weg war.«

»Schiller«, sagte sie mit einem trockenen Lachen. »Während Sie weg waren! Sie waren nicht weg, Sie waren bloß im Knast.«

Dann schüttelte sie den Kopf zu dem angebotenen Bier.

»Wir kümmern uns lieber um mein Hotel. Bestimmt gibt’s da auch eine Bar.«

Michaela Harms schulterte ihre Handtasche und ging auf den Volvo zu, der in der Einfahrt stand. Den kleinen Rollkoffer überließ sie ihm.

Einen kurzen Moment überlegte Schiller, ob es an ihm lag, dass die Frauen ihn so behandelten: die Polizistin, seine Ex, Vera Gräber und jetzt Michaela Harms. Mit Oliver hatte es solche Probleme nie gegeben.

NEUN

Niklas Lenz war ausgestiegen und dirigierte das Wohnmobil mit großen Armschwüngen auf den Standplatz der Wohnmobil-Oase Prora, den man ihnen zugewiesen hatte. Marvin hinter dem Steuer schaute beim Rückwärtsfahren in die Außenspiegel, mal rechts, mal links.

»Wink du nur. Ich fahre so, wie ich will«, sagte er zu seinem Bruder, der ihn wegen der geschlossenen Fenster aber nicht hörte. Was gut war, wie Danbi fand. Sie konnte es nicht leiden, wenn die beiden stritten. Sie blickte durch das Heckfenster: Ein großer, teilweise asphaltierter Platz, begrenzt von einem kleinen Wäldchen, sonst nichts als Campingfahrzeuge. Marvin Lenz stellte den Motor ab, zog die Handbremse und stieg aus, um das Bordnetz des Wohnmobils mit dem Platzstrom zu verbinden. Von der Beifahrerseite stieg Niklas Lenz wieder ein, kletterte auf seinen Sitz und drehte sich zu Danbi um. Sie wusste, was jetzt folgte, und kam ihm zuvor.

»Uhrvergleich«, lächelte sie und warf einen Blick auf das Display ihres Smartphones. »13 Uhr, 43 Minute.«

»Es heißt Minuten und Uhrenvergleich«, korrigierte Niklas. »Und bei mir ist es fünfundvierzig.«

»Minuten«, sagte Danbi.

»Okay.«

Niklas seufzte.

Marvin hatte alle Leitungen angeschlossen, kam zurück und schaute seinen Bruder erwartungsvoll an.

»Treffpunkt 16 Uhr exakt am Beachvolleyball-Stadion. Bambi geht zu Fuß, du nimmst den Bus, und ich gönne mir ein Taxi«, erklärte Niklas Lenz.

»Nein, ich auch Bus«, protestierte Danbi.

»Hör zu, Kleines«, sagte Marvin geduldig und blickte zu ihr hoch, »wenn wir arbeiten, dann kennen wir uns nicht, dann sprechen wir uns nicht und lassen uns auch nicht zusammen blicken.«

»Ich habe verstanden«, erklärte Danbi. »Aber vielleicht andere Bus? Nicht deiner.«

»Ende der Diskussion«, sagte Niklas. »Du läufst. Damit du was von Deutschland siehst.«

Er drehte sich zu seinem Bruder um.

»Steig aus. Sie will sich umziehen.«

Die Lenz-Brüder verließen das Wohnmobil, und Danbi zog rundherum die Vorhänge zu. Dann öffnete sie den eingebauten Schrank, in dem ihre Garderobe hing. Niklas und Marvin lebten zum Glück aus ihren Koffern, für deren Sachen wäre hier wirklich nicht genug Platz gewesen.

Danbi wählte ihre Arbeitskleidung für den heutigen Tag aus und legte sie zurecht: Das helle Strandkleid mit den lachsfarbenen Punkten und dem roten Lackgürtel, die roten Bastpumps mit den Plateausohlen, der breitrandige Strohhut mit dem Band, das genau die gleiche Farbe wie die Schuhe und der Gürtel hatte. Sonnenbrille und fertig. Leider besaß sie keine Tasche, die dazu passte. Aber mehr als ihr Telefon wollte sie ja auch nicht mitnehmen.

In der Enge des Wohnmobils schälte sie sich aus Jeans und T-Shirt und streifte das Kleid über. Anschließend beugte sie sich in die Nasszelle und schminkte ihre Lippen, erst mit dem roten Konturstift, dann mit dem Lippenstift. Sie schickte ihrem Bild im Spiegel einen Kussmund, mehr war wirklich nicht nötig.

Sie setzte sich in die offene Tür des Wohnmobils, um die Pumps anzuziehen. Niklas kam um das Heck des Wohnmobils herum.

»Hör zu, Mädchen, du läufst da runter bis zum Strand«, er zeigte über eine Gruppe von Kiefern hinweg, »dort hältst du dich rechts, bis du zur Seebrücke von Binz kommst.«

»Binz«, sagte Danbi probeweise, während sie den zweiten Schuh anzog.

»Richtig«, sagte Niklas Lenz. »Du hast alle Zeit der Welt. Aber sei pünktlich. 16 Uhr.«

Danbi nickte und machte sich auf den Weg.

Zehn Minuten später suchte sie immer noch das Meer. Vor fünf Minuten war sie auf ein langes, fünf- oder sechsstöckiges Gebäude gestoßen, das ihr den Weg versperrte. Jetzt lief sie immer noch an dem langen grauen Haus entlang, auf der Suche nach dem Strand.

Die deutsche Ostseeküste hatte sie sich anders vorgestellt. Dieses Gebäude erinnerte sie an ein Foto aus Nordkorea, das sie als Kind zusammen mit ihrem Vater in der Zeitung gesehen hatte. »So wollen wir niemals leben müssen«, hatte der Vater ihr angesichts des Bildes erklärt, »wie unsere armen Landsleute im Norden.« Danbi hatte ihm voller Überzeugung zugestimmt.

Dann plötzlich war das eine Gebäude zu Ende, und das nächste, das fast genauso aussah, begann. Aber zwischen beiden Häusern tat sich ein Durchgang auf, durch den Danbi den blauen Himmel über einem noch blaueren Meer sehen konnte. Wie von einer magischen Hand gezogen, ging sie hindurch. Sie zog die Bastpumps aus, setzte die Füße in den angenehm warmen Sand und lief zum Meer hinunter. Als sie das Wasser erreicht hatte und ihre Zehen von einer kleinen Welle umspült wurden, zuckte sie zurück. Die Ostsee war kühl. Aber nach ein paar Schritten hatte sie sich schon daran gewöhnt. Sie hob den Kopf, um nach der Seebrücke von Binz Ausschau zu halten. Aber sie sah weiter vorne nur viele Menschen, die am Strand lagen, ins Wasser gingen oder vom Schwimmen zurückkamen.

›Binz‹ sagte Danbi noch einmal vor sich hin. Wahrscheinlich würde sie doch jemanden nach dem Weg fragen müssen.

Danbi ging weiter am Saum des Meeres entlang. Es roch nach Seetang, Salz und Sonnenöl. Die Mittagssonne brannte auf ihr Kleid, sie war froh, dass sie den Hut hatte. Vielleicht, überlegte sie, sollte sie sich einen Badeanzug kaufen und später auch kurz ins Wasser gehen. Plötzlich und ohne Vorwarnung sprangen rechts von ihr ein paar Menschen hinter einer aufgestellten Stoffbahn hervor und stürmten auf sie zu. Drei Männer und zwei Frauen. Alle braungebrannt. Und nackt. Danbi blieb wie angewurzelt stehen. Die Gruppe teilte sich, lief an ihr vorbei und stürzte sich ins Wasser. Mit großem Spritzen und Lachen. Danbi fragte sich, ob das die Menschen aus dem grauen Gebäude waren, so arm, dass sie sich keine Badeanzüge leisten konnten. Aber etwas an dem Gedanken stimmte nicht: Sie wirkten zu fröhlich und hatten auch nicht mager ausgesehen. Einer der Männer hatte sogar richtige Speckrollen auf den Hüften. Und eine Goldkette um den Hals. Sonst trug er nichts, aber eine schwere Goldkette.

Im Weitergehen stellte Danbi fest, dass das eben nicht die einzige Gruppe war, die keine Badeanzüge besaß. Am Strand und im Wasser entdeckte sie immer mehr Menschen, die nichts anhatten. Man musste nur genau hinschauen. Also würde sie vielleicht auch keinen Badeanzug kaufen müssen. Aber bevor sie das zu Ende gedacht hatte, schüttelte sie schon den Kopf. Sie, ohne alles? Wo andere Menschen sie sehen konnten? Ausgeschlossen!

Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, baute sich ein Herr vor Danbi auf. Sie blieb irritiert stehen und starrte ihn an. Er war alt, zwischen 50 und 60, und zu ihrer Erleichterung vollständig bekleidet: eine dunkle Stoffhose, ein weißes Hemd und eine weiße Mütze mit einem schwarzen Schirm, der oben in der Mitte einen goldenen Anker trug. Polizei war Danbis erster Gedanke. Der Mann machte zwar ein fröhliches Gesicht, aber das war manchmal so bei den deutschen Beamten. Jetzt zwinkerte er ihr aber sogar zu.

»Na, mien Deern?«

Danbi hatte nicht die leiseste Idee, was der Mann wollte. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte sie seine Worte so gut es ihr gelang.

»Namiendeern!«

Der Mann schaute von unten zu ihr hoch. Erst misstrauisch, dann fing er an zu lachen.

»Oha. Ganz ’ne plietsche.«

Er drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.

»Awer du hes nix begriepen, nüch?«

Danbi fühlte sich unbehaglich. Sie machte einen Schritt zur Seite.

»Entschuldigung. Ich muss Arbeit.«

»Na, denn man tau«, sagte der Mann und schaute Danbi hinterher. »Dat beste iss ümmer, secht Jochn Brümmer, sick an de eegn Nääs to fatn und anner Lüd in Ruh to latn!«

Etwa hundert Meter weiter entdeckte Danbi einen befestigten Weg oberhalb des Strandes. Sie ging hoch und fand eine Bank, auf die sie sich setzte, um ihre Beine zu entsanden. Dann zog sie die Pumps mit den hohen Sohlen an, die sie die ganze Zeit in der Hand getragen hatte. Als sie aufstand, fühlte sie sich wie ein anderer Mensch. Es war wie auf einer dunklen Theaterbühne, wenn dich das Spotlight einfängt. Und dir dann folgt. Ihr Spotlight waren die Blicke der anderen Menschen auf der Promenade. Danbi wusste, dass sie nicht ihr galten, sondern Bambi. Bambi war die Rolle, die sie jetzt spielte. Sie setzte sich in Bewegung und genoss ihren Auftritt.

Rechts der Promenade eine Häuserreihe, die meisten Gebäude schienen Hotels, Pensionen oder Restaurants zu sein; links, hinter einem schmalen Streifen mit Grün und ein paar Kiefern, der Strand mit badenden, ballspielenden und strandkorbdösenden Menschen. Und auf dem Weg Männer, Frauen und Kinder mit angeleinten Hunden, die ihr entgegenkamen. Es brauchte einige Zeit, bis Danbi klar wurde, was so ungewöhnlich an dieser Szenerie war: Die Leute auf der Promenade hatten Zeit. Und sie waren alle freundlich und rücksichtsvoll. Selbst die Fahrradfahrer schoben ihre Räder, und wenn es an einer Stelle eng zu werden drohte, blieben sie stehen und ließen anderen den Vortritt. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, seit sie in Deutschland war. Aber es kam ihr sehr entgegen. Inzwischen war sie richtig froh, dass Niklas sie auf diesen Fußweg geschickt hatte.

Danbi ließ sich treiben, in ihrem Kopf ein Ohrwurm von Bangtan Sonyeondan, den sie seit dem Morgen nicht loswurde. Also summte sie ihn mit: Oh my my my, oh my my my, Love is nothing stronger than a boy with luv.

Da plötzlich, zehn Meter vor ihr am Rande ihres Gesichtsfelds, tauchte sie auf. Die Tasche. Danbis Blick war gefesselt. Eine Gucci-Handtasche, Straußenleder in Blassrosa am Arm einer Blondine, die mit einem Mann an einem Stehtisch vor einer Open-Air-Bar stand. Beide schauten auf ein großes Glitzersmartphone. Und plötzlich stellte die Frau die Tasche auf den Hocker neben sich, griff nach ihrem leeren Glas und ging damit zum Tresen. Der Mann schaute ihr kurz hinterher, dann wieder auf das Smartphone.

Danbis Herz ging schneller. Eine Familie mit Kinderkarre und Dreirad kam ihr entgegen, sodass sie nach rechts ausweichen musste. Der Hocker mit der Tasche stand Danbi jetzt praktisch im Weg. Im Vorbeigehen führte sie den rechten Unterarm durch die hohen Griffe. Die Tasche schmiegte sich wie selbstverständlich an ihre Hüfte. Danbis Herz schlug nun irgendwo unter ihrem Schlüsselbein. Aber sie zwang sich zur Ruhe. Ein paar Meter weiter, im Spiegel neben dem Schaufenster einer Strandboutique, entdeckte sie Bambi. Und sah, wie perfekt die neue Tasche mit ihrem Standkleid, dem Hut und den Pumps harmonierte.

Danbi spürte, dass sich ein dünner Schweißfilm zwischen ihren Schulterblättern gebildet hatte, der jetzt in einem dicken Tropfen abwärts über ihre Wirbelsäule lief. Normalerweise wäre ihr das unangenehm gewesen, aber jetzt empfand sie es als wohltuend und prickelnd. Mit dieser Tasche war sie stark und unantastbar. Und plötzlich, ohne dass sie es selbst merkte, hatte sie doch begonnen zu laufen. Eine Mischung aus Freudentaumel und Flucht, ihr war ja bewusst, dass sie die Blondine bestohlen hatte und dass die sie vermutlich verfolgen würde. Hör auf zu rennen, befahl sie sich, hier rennt keiner außer dir. Aber ihre langen Beine ignorierten die Anordnung. Danbi schaute über ihre Schulter zurück. Und dann knickte sie um.

Danbi saß halb auf dem Boden und halb auf ihrem rechten Bein. Aber das war okay. Das Problem war ihr linker Knöchel. Der tat verdammt weh. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu betasten. Aber eine andere Hand kam ihr zuvor. Eine braungebrannte Männerhand, die ihr den Pumps abstreifte. Dann kam eine zweite Hand dazu und beide legten sich um ihr Fußgelenk. Fest und warm.

»Tut das weh?«

»Ja«, sagte Danbi.

Die Stimme passte genau zu den Händen und zu dem Jungengesicht mit den hellblauen Augen, das sich jetzt vor ihres schob.

»Kein Wunder«, sagte die Stimme. »Mit Sicherheit verstaucht. Aber hoffentlich nichts gebrochen.«

»Du Arzt?«, fragte Danbi.

»DLRG-Rettungsschwimmer«, sagte der Junge. »Das ist so ähnlich.«

Danbi sah zu, wie der Junge drei Kinder von einer weißen Bank am Rand der Promenade vertrieb. Dann kam er zurück, half ihr hoch und stützte sie auf dem Weg zur Bank. Danbi bemerkte, dass er kräftig war und etwa genau so groß wie sie. Dass er sehr gut aussah, hatte sie schon vorher registriert.

»Ich bin Moritz«, sagte er. »Da unten arbeite ich.«

Er zeigte auf ein rundes, schilfgedecktes Häuschen unterhalb des Grünzuges.

»Und da drüben wohne ich. In der Jugendherberge.«

»Ich bin Danbi«, sagte Danbi. »Ich bin Schauspielerin.«

»Okay, Danbi. Kannst du auftreten?«

Sie war irritiert: »Vielleicht. Aber ich muss üben für Auftritt. Lernen.«

»Nein«, sagte Moritz. »Ich meine, kannst du den Fuß belasten?«

»Ach so«, lachte Danbi und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

Moritz lachte auch. Dann stand Danbi vorsichtig auf. Der Fuß tat immer noch weh. Also legte Moritz ihr seinen Arm um die Hüfte und stützte sie.

ZEHN

Roland Schiller saß an einem weiß gedeckten Tisch vor der Villa mit Meerblick und studierte die Getränkekarte. Immerhin: Aperol Spritz stand drauf. Nicht eben billig. Aber das war bei Michaela Harms wohl ohnehin nicht zu erwarten. Wer Binz will, muss auch Binz bezahlen. Und die Dame wollte ja gerne nach Binz. Jetzt war sie schon seit einer Viertelstunde in der Villa, nur um ein einfaches Zimmer zu buchen.

Ein Kellner kam an seinen Tisch:

»Darf es schon etwas sein, der Herr?«

Wenn er mit ›Herr‹ angesprochen wurde, reagierte Roland Schiller grundsätzlich erst einmal misstrauisch. Aber der Kellner schien nur seinen freundlichen Tag zu haben. Oder war das so üblich, wegen der Preise hier?

»Zwei Aperol Spritz, bitte«, sagte Schiller.

Der Kellner setzte eine ziemlich blasierte Miene auf und entfernte sich wortlos. Also doch nicht der freundliche Tag.

Drei Minuten später trat Michaela Harms aus der Villa und schaute sich um. Als sie Schiller entdeckt hatte, steuerte sie mit mürrischem Blick auf den Tisch zu. Schiller vermutete, es wäre wegen des Zimmers, daher baute er auf die harmonisierende Wirkung des Kellners, der sich auf der anderen Seite mit den Getränken näherte, das Gesicht ausdruckslos, aber die Augen lächelten jetzt verbindlich.

»Ich fahre ja wohl nicht an die See, um hier wie ein Mauerblümchen im Schatten zu sitzen.«

Michaela Harms funkelte Schiller an. Der suchte nach einer Erwiderung, aber der Kellner kam ihm zuvor.

»Wir haben hier vorne die Baltic Lounge. Da ist um diese Zeit Sonne.«

Der Kellner drehte um und nahm mit seinem Tablett Kurs auf einen hölzernen Rundpavillon am Rand der Strandpromenade. Michaela Harms folgte ihm taschenschlenkernd. Schiller hatte keine Wahl. Er schloss sich den beiden an.

Die Baltic Lounge entpuppte sich als eine Gruppe von vier runden Hochtischen mit hohen Hockern, die den Pavillon flankierten. Michaela entschied sich für den äußersten Tisch, der voll in der Sonne stand, und kletterte auf den Hocker. Während Schiller sich neben sie hievte und der Kellner ihnen die Aperol-Gläser hinstellte, holte Michaela ein übergroßes Smartphone und eine Sonnenbrille aus ihrer Handtasche und legte sie neben ihr Glas. Dabei schaute sie Schiller forschend an. Er fühlte sich etwas unbehaglich unter diesem Blick.

»Und das Zimmer?«, fragte er schließlich, »So weit okay?«

Ihre Antwort war ein Achselzucken. Dann griff sie nach ihrem Glas.

»Also, auf gute Zusammenarbeit.«

»Stimmt, darauf sollten wir trinken«, sagte Schiller. Er griff ebenfalls nach seinem Glas, um mit ihr anzustoßen, aber da klemmte der dicke schwarze Trinkhalm schon zwischen ihren rotgeschminkten Lippen. Schiller konnte sehen, wie der Spiegel der rötlichen Flüssigkeit in ihrem Glas sank. Michaela Harms hatte einen guten Zug. Er selbst nahm erst einmal nur einen Anstandsschluck.

»Zu viel Eis, wie meistens«, sagte Michaela, als sie ihr Glas abstellte und nach ihrem Smartphone griff. »Also: Was hat Oliver Ihnen gesagt?«

»Ich soll Sie ganz herzlich grüßen«, erklärte Schiller. Das mit dem Kuss behielt er lieber erstmal für sich.

»Ich meine, von unserer Sache«, gab sie etwas bissig zurück und nahm noch einen Schluck Aperol.

»Nicht viel«, sagte Schiller. »Man weiß ja nie, in so einer JVA. Da haben die Wände Ohren.«

Das war zwar Quatsch, aber er fand, es klang halbwegs professionell. Und man konnte ja nicht vorsichtig genug sein. Angesichts der Feriengäste, die sich auf der Promenade dicht an ihrem Tisch vorbeischoben, näherte er sein Gesicht dem von Michaela Harms und fing fast an zu flüstern.

»Ich weiß, dass es um ein paar Bilder geht, die in einer Ferienwohnung hängen und nach Celle gebracht werden sollen.«

Während er sprach, wich Michaela etwas zurück. Hatte er Mundgeruch? Schiller nahm noch einen kleinen Schluck Aperol. Michaela Harms griff ebenfalls nach ihrem Glas und hielt ihm mit der linken Hand ihr Smartphone hin.

»Von wegen Ferienwohnung. Das ist eine Residenz. Sie gehört einem Fondsmanager aus Hamburg.«

Das grelle Sonnenlicht brach sich auf dem mit Strass besetzten Smartphone und spiegelte sich auf dem Display. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte Schiller das Foto eines blendend weißen, strohgedeckten Hauses.

»Nicht übel«, sagte er. »Und wie kommen wir da rein?«

»Ich habe einen Schlüssel«, erklärte Michaela Harms. »Die nächsten Fotos sind die Gemälde von Neo Rauch. Um die geht es.«

»Aha. Sehr gut«, sagte Schiller und beugte sich wieder zu Michaela Harms hinüber, während sie über das Display wischte. Mit dem Namen des Künstlers konnte er so wenig anfangen wie mit den Abbildungen. Er sah nicht viel mehr als einen dunkelfleckigen Hintergrund, auf dem sich jetzt sein eigenes, sonnenbestrahltes Gesicht spiegelte. Der kurze rote Oberlippen- und Kinnbart, die dünnen Strähnen, die an seiner Stirn klebten, die kleinen, tiefliegenden Augen. Sah er tatsächlich so fertig aus? Die JVA hatte ihn in dreieinhalb Jahren um mindestens zehn Jahre altern lassen. Und alles nur wegen Struve. Annekatrin Struve. Schiller musste die Augen schließen, um den Gedanken an die Polizistin loszuwerden. Als er sie wieder öffnete, entfernte sich Michaela Harms vom Tisch, ihr leeres Aperol-Glas in der Hand.

Schiller beugte sich noch einmal über das Telefon und wischte zurück zu der Aufnahme des weißen Hauses. Das sah tatsächlich nach einem lohnenden Objekt aus. Vielleicht könnte man noch etwas mehr als nur Bilder mitnehmen, wenn man schon mal drin war.

Ein fruchtiger Duft ließ Schiller aufschauen. Er sah eine großgewachsene, schlanke Frau im Sommerkleid die Promenade entlanggehen. Und sofort überfiel ihn eine sehr lange vergessene Sehnsucht nach weiblicher Nähe. Die Frau entfernte sich. Er sah sie leider nur von hinten. Sie ging nicht, sie schritt. Hohe Schuhe, die passende Handtasche, pechschwarze Haare unter einem großen Sonnenhut. Eine Chinesin? In jedem Fall eine Ausnahmeerscheinung unter all den rothäutigen Feriengästen.

Schiller wandte sich wieder dem Smartphone zu, aber das Display hatte sich inzwischen selbsttätig abgeschaltet. Er griff nach seinem Drink und nahm noch einen Schluck. Es schmeckte bitter.

Im nächsten Augenblick war eine Stimme direkt über ihm, jede Silbe extra betont.

»Wo ist meine Tasche?«

Schiller schaute überrascht hoch in das Gesicht von Michaela Harms. Weil er nicht gleich antwortete, wiederholte sie: »Wo ist meine Tasche?« Diesmal schneller, lauter und wie aus einem Guss.

»Ich denke, die hatten Sie …« – weiter kam Schiller nicht.

»Sie blöder Idiot«, keifte sie über ihm, ein neues Glas Aperol Spritz in der Hand.

»Hey, hey«, sagte Schiller und stand auf. »Seit wann bin ich für Ihre Tasche verantwortlich?«

»Ich habe sie hiergelassen. Da auf dem Hocker.«

Roland Schiller versuchte nachzudenken. Aber er kam nicht weiter als bis zu der hübschen Asiatin, die auch eine Tasche gehabt hatte, so ähnlich wie die von Michaela Harms.

»Ich will meine Tasche. Und zwar sofort.«

Michaela Harms sprach jetzt so laut und schrill, dass Leute auf der Strandpromenade stehen blieben und herüberschauten. Auch das Personal im Rundpavillon war aufmerksam geworden. Ihr schien das nichts auszumachen. Es war also an Schiller, die Ruhe wiederherzustellen.

»Ich kann Ihre Aufregung verstehen«, sagte er. »Aber das ist bestimmt nur ein Missverständnis.«

»Gar nichts können Sie! Überhaupt nichts. Sie können mich allerhöchstens …«

Statt einer Fortsetzung der Beschimpfungen landeten jetzt Eiswürfel und klebriger Aperol in Schillers Gesicht. Und rutschten von dort abwärts auf sein Hemd. Das war zu viel. Er holte aus und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Da war sie fürs Erste ruhig.

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