Kitabı oku: «Hightech-Kapitalismus in der großen Krise», sayfa 2

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3. Zum Problem philosophischer Gegenwartsgeschichte

Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen.

Eric Hobsbawm (2009)

Der Versuch, philosophisch reflektierte Gegenwartsgeschichte zu schreiben, scheint etwas Unmögliches zu wollen. Er setzt dazu an, eine Entwicklung zu historisieren, die noch unabgeschlossen ist. In ontologischer Hinsicht ließe sich erwidern, dass alle Geschichte als Erkenntnisgegenstand wesentlich unabschließbar ist. »Prozesse kommen in Wirklichkeit überhaupt nicht zu Abschlüssen«, heißt es in einer Notiz von Brecht. »Es ist die Beobachtung, die Abschlüsse benötigt und legt.«5 Kein Schluss auf diesem Gebiet ist ein für alle mal. So unentbehrlich die in der historischen Bibliothek angehäuften Wissensmassen und Deutungsansätze sind, so trügerisch ist die Vorstellung, gewesene Geschichte ließe sich besitzen und einschließen wie ein Museumsstück. Reliquien des Geschichtsprozesses mögen gesichert sein, ihr Sinn ist es nicht. Das macht, dass Geschichte Seinsmodus eines Seienden ist, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (Heidegger, SuZ, 12), und dass, »wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben« (K I, 23/393, Fn. 89). Mehr noch: indem ›wir‹ unsere Geschichte ›gemacht‹ haben, hat unsere Geschichte uns zu dem gemacht, was wir sind, ohne am Ziel zu sein. Das macht den von Ernst Bloch immer wieder abgewandelten Einsatz des Philosophierens aus: »Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst.« Dieses unabschließbare Werden im Widerspruch lässt auch die vergangene Geschichte nicht in Ruhe. Was Geschichte heißt, ist eine zusammenfassend deutende Auswahl von Fakten. Nur ein infinitesimaler Teil des Geschehenen findet Eingang. Nicht nur die von der Forschung festgestellte Faktenlage, sondern auch die forschungsleitenden Deutungsmuster geben den Ausschlag. Dies liegt beschlossen in der radikalen Geschichtsimmanenz, die ­Antonio Gramsci »absoluten Historizismus« nennt (Gef 7, 1781). Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Die Wissenschaft kann Fakten in den Grenzen des Informationszugangs und des Forschungsstandes objektiv feststellen oder, wie Marx sagt, »naturwissenschaftlich treu konstatieren« (13/9). Doch was sie bedeuten, kann nicht anders als tastend und im Meinungsstreit herausgehoben werden, weil ihr Sinn in der geschichtlichen Praxis und der durch sie angestoßenen Veränderungsprozesse ankert. In diesen Prozess einzugreifen, macht den Geschichtsschreiber zum Akteur, der mithandelt und damit ›ins Objekt fällt‹. Wir sind mit von der Partie. Daher dreht das Geschichtsverständnis sich untergründig stets um den »geschichtlichen Springpunkt«6 der jeweiligen Gegenwart, auch wenn es sich im Bewusstsein zumeist anders darstellt. Der Glaube, Vergangenes historisch zu artikulieren, heiße zu erkennen, »wie es denn eigentlich gewesen ist«, bezeichnet folglich für Walter Benjamin »im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird« (GS I.2, 695).

5 Brecht fährt fort: »Im Großen werden natürlich Entscheidungen getroffen (und angetroffen), gewisse Bildungen ändern oder verlieren gar ihre Funktionen, ruckweise zerfallen Qualitäten, ändert sich das Gesamtbild.« (GA 22.1, 458)

6 Marx über Ricardo: »So sehr ihm der geschichtliche Sinn für die Vergangenheit fehlt, so sehr lebt er in dem geschichtlichen Springpunkt seiner Zeit.« (26.3/46)

Wenn es darum geht, »die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist« (II.2, 468), so stellt sich diese Aufgabe im Bezug auf Gegenwartsgeschichte noch einmal anders. Hier heißt es, die Erfahrung der Gegenwart mit sich selbst als geschichtliche ins Werk zu setzen. Das bloße Jetzt aber ist leer und gibt den geschichtlichen Springpunkt nicht her. Ihn aus einem Projekt, gleichsam als Wechsel auf eine angestrebte Zukunft zu ziehen, landet bei haltloser Spekulation. Handfest gibt der geschichtliche Springpunkt sich nur in negativer Form, indem wir »die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkonstellation betrachten« können, die wir, »denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge« sind (V.2, 587). Zweifellos werden wir dabei immer wieder über unsere Hoffnung stolpern, wo Gefahr wächst, wüchse das Rettende auch. Dass Hoffnung und Wunsch sich zum Vater des Gedankens machen, können wir nicht vermeiden. Wohl aber erhalten sie nie das letzte Wort. Schon der nächste Moment kann sie widerlegen.

Was soll uns dann ein Buch und der Versuch, einen theoretisch fundierten Zusammenhang in die Zerfahrenheit der Erscheinungen und Meinungen zu bringen? Ist nicht durch die Buchform und die durch den Druck erreichte Existenzdauer unser Text mit einem Anspruch auf »›Wahrheit‹ und ›Sein‹ assoziiert«, der einer »seit zwei Jahrhunderten obsolet gewordenen« Illusion aufsitzt? Das gibt Michael Jäger zu bedenken (2009, 246).7 Gilt nicht Wahrheit »jetzt als werdende Wahrheit«, so dass ich »auch nur meinem werdenden Gedanken Dauerhaftigkeit wünschen« kann? (Ebd.) Ja, so ist es. Aber daran ist nichts paradox. Es unterscheidet Bücher und Theorien, seit es sie gibt, ob das werdende Denken für sie vor dem gewordenen rangiert oder ob sie es in ihm verschwinden lassen. Worauf es ankommt, ist, wie wir früher sagten, »nicht so sehr das Fertige als die Verfertigung. Mehr als die alte Wahrheit zählt die neue Bewährung. Und das Wesen ist für uns nicht vor allem, was gewesen ist, sondern wesentlicher ist uns das Werden, sowohl der Erkenntnis wie, auf andere Weise, der Sache selbst« (KV I, 12). Die Buchform »fesselt« nicht den Gedanken, wie Jäger meint (247), ­sondern fordert ihn zur Anstrengung des Begriffs heraus. Und wenn die werdende Wahrheit, die in unserem Sinn die dialektische heißen kann, durchs wirkliche Werden überholt wird wie ein Erwarten durchs Eintreten des Unerwarteten, dann werden wir dies nicht durch nachträg­liches Umschreiben ausradieren. Die Darstellung mag in dem Maße philosophisch genannt werden, in dem sie Einsicht ins Sein des Werdens gewährt. Das meinen wir, wenn wir von Historisierung der Gegenwart sprechen.

7 Angesichts der endlosen Flucht solcher Momente scheint ihm ein Medium wie die »Bloggosphäre« als Textquelle vieler Subjekte statt des einen Autors angemessener.

4. Arbeiten an künftiger Erinnerung im Material der Zeit

It may be more productive, then, to combine all the descriptions and to take an inventory of their ambiguities – something that means talking as much about fantasies and anxieties as about the thing itself.

Fredric Jameson (2000)

In diesem Buch werden wir uns das politisch-ökonomische Drama der Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen als unvollendete Vergangenheit, in der Form künftiger Erinnerung erzählen, um sie als geschichtliche zu verstehen. Während zur Fiktion des Objektivis­mus die Zeitlosigkeit gehört, entfaltet sich unsere Erkundung in eben der Zeit, in welcher der historische Prozess weitergeht, den vorigen Moment korrigiert und der Wahrnehmung ständig neue Rätsel aufgibt. Unsere Dokumente sind aus dem Geschehen auftauchende Sichtweisen, und die Fakten, die wir anführen, zählen immer auch als von bestimmtem Standpunkt aus gesehene. Die kritischen Zeugen, die wir als Personen dadurch deutlicher hervortreten lassen, dass wir ihnen in den verschiedenen Etappen unserer Geschichte das Wort geben, sollen die Möglichkeit stiften, an ihnen das Kontinuum aufzubrechen. Ihre Namen sind immer dieselben, nicht aber die Namen, die sie den Verhältnissen und den in ihnen Agierenden geben. Wenn »Qualitäten ruckweise zerfallen« und das Gesamtbild sich ändert, ändern sich die Sichtweisen. Im Moment der bruch­artigen Umschwünge erfasst diese Wechselhaftigkeit im Bewusstsein der Zeitgenossen die Geschichte selbst. Als 1989 der sowjetische Demokratisierungsversuch unter Gorbatschow in die Krise kam, konnte man die Erfahrung machen, »dass sich heute in der Sowjetunion nichts so schnell bewegt wie die Vergangenheit« (PJ, 15). In solchen Sichtänderungen lässt sich die Erfahrung der Beteiligten erfahren und zugleich auf jene Distanz bringen, die wir historisch nennen. Meinungen scheinen in ihrer Wetterwendigkeit auf eine Weise historisch wie historische Kurse an der Börse. Im Extrem mag man sie für Windfahnen halten. Aber als solche zeigen sie die Windrichtung an. In ihrer Subjektivität spiegeln sie etwas Objektives. Dessen unmittelbar habhaft werden und Geschichte subjekt- und damit zeitlos schreiben zu wollen, ist illusionär. Je ferner der historische Gegenstand liegt, desto sicherer kann sich der Historiker in diesem illusorischen Glauben wiegen. Der Autor gegenwartsgeschichtlicher Betrachtungen kann es nicht. Für ihn gibt es keinen Standpunkt »über dem Getümmel«, wie Romain Rolland ihn 1915 für sich reklamierte. Für ihn gibt es solches Heraustreten allenfalls in dem Sinn, dass er, der sich auf demselben geschichtlichen Feld tummelt wie die Personen, die in seinem Bericht auftauchen, mit seiner subjektiven Sicht weder hinterm Berg hält, noch sie als objektive Gewissheit ausgibt, sondern sie beobachtbar macht, indem er den Fortgang sie relativieren lässt. Das Wort hat nicht der allwissende Erzähler, sondern der Forscher, der aus dem Getümmel seiner Zeit heraus deren Tendenzen auf den Begriff zu bringen sucht.

Friedrich Engels hat die Grenzen »der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen aus der Tagesgeschichte« an der Unmöglichkeit festgemacht, »den Gang der Industrie und des Handels auf dem Weltmarkt und die in den Produktionsmethoden eintretenden Änderungen von Tag zu Tag derart zu verfolgen, dass man für jeden beliebigen Zeitpunkt das allgemeine Fazit aus diesen verwickelten und stets wechselnden Faktoren ziehen kann, Faktoren, von denen die wichtigsten obendrein meist lange Zeit im Verborgenen wirken, bevor sie plötzlich gewaltsam an der Oberfläche sich geltend machen« (1895, 8/511). Jeder Versuch »einer zusammenfassenden Tagesgeschichte« schließe »unvermeidlich Fehlerquellen in sich«, fährt Engels fort, »was aber niemanden abhält, Tagesgeschichte zu schreiben« (512). Weiter geht der Gefangene Gramsci in seinen Gefängnisheften, wenn er davor warnt, es könnte »sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen« (Gef 6, 1367). Auch wir, die wir uns unter unvergleichlich besseren Bedingungen an der »Tagesgeschichte« versuchen, verhehlen uns nicht, dass unser Bericht »bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten« wird (ebd.).8

8 Zu den eher harmlosen Ungenauigkeiten werden die Zahlen gehören, die im Folgenden immer wieder auftauchen werden. Die den Tagesveröffentlichungen entnommenen Summen und Prozentsätze dienen als Anhaltspunkte, an denen sich Entwicklungstendenzen ablesen lassen. Da wir keine wirtschaftshistorische Abhandlung, sondern einen Beitrag zum philosophisch reflektierten Gegenwartsverständnis vorlegen wollen, trösten wir uns mit Paul Krugmans Diktum, Wirtschaftsstatistik sei eine Form von Science Fiction, bloß nicht so unterhaltend. »All economic statistics are best seen as a peculiarly boring form of science fiction, but China’s numbers are more fictional than most. I’d turn to real China experts for guidance, but no two experts seem to be telling the same story.« (Krugman 2011f)

Gerade indem wir dieses Risiko eingehen, widerstehen wir jenem »markttechnischen Determinismus«, der Gedächtnislosigkeit generiert, von dem Armand Mattelart spricht.9 Wenn die kommerzia­lisierte Kultur unterhaltender Zusammenhangslosigkeit uns als zerstreute Konsumenten möchte, so hat das Internet einen ähnlichen Effekt. Eine schlichte Frage an die Suchmaschine überflutet den Fragenden mit Antworten, die ihm immer neue Eingänge weisen. Hier lässt sich erfahren, was schlechte Unendlichkeit heißt. Alles scheint erreichbar, nichts greifbar. Ein jedes ist dazu bestimmt, alsbald dem nächsten Platz zu machen.

9 Vgl. Mattelart 2003, 141. »Der Diskurs, der die Informationsgesellschaft begleitet, hat das Prinzip der tabula rasa zum Gesetz erhoben. Es gibt nichts, was nicht veraltet wäre.« (Ebd.)

In dieses Meer der Meinungen wirft begriffliches Denken den Rettungsring der Erfahrung. Es stellt den Zusammenhang der Phänomene in der Gegenwart her, wie die Erinnerung ihren Zusammenhang auf der Zeitachse. Nach der Verwünschung des Wissens in Information, geht es ihm darum, Information zum Wissen zu ­erwecken und dieses zum Nachdenken zu bringen. Da mit der Ökonomie der tonangebenden Ökonomen, die über keine Krisen­theorie verfügen, sich in der Großen Krise nichts Vernünftiges anfangen lässt und da »in den letzten 30, 40 Jahren eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert« worden ist (Hobsbawm 2009), schalten wir nach einer ersten Phänomenbeschreibung der Krise ein Kapitel über marxsche Krisentheoreme ein. Ohne eine elementare Kenntnis derselben würde unsere im Material der Zeit arbeitende Erkundung unverständlich. Theoriegeleitet zu verfahren, heißt nicht, aus Theorie abzuleiten. Wir brauchen die Theorie teils da, wo sie das Material ins rechte Licht rückt, teils dort, wo das Material die theoretischen Deutungen zurechtrückt. Vom Material ausgehend, experimentieren wir mit theoretischen Annahmen und unterziehen diese der Wirklichkeitsprobe. In diesem Sinn gehen wir zum Beispiel im ersten Teil mit dem marxschen Begriff der »Überakkumulation von Kapital« (25/261) oder im zweiten Teil mit Gramscis Begriff der Hegemonie ans reale Geschehen heran.

Wird sich die Idee vor der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit vor der Idee blamieren? Das kommt darauf an, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Denken wir sie als Faktizität, mag es so aussehen, als blamierten sich die Begriffe. Denken wir Wirklichkeit als Wirkendheit, kann die faktische sich vor dem Begriff blamieren wie eine stümperhafte Politik vor der Idee der Hegemonie, der ein Bild glückender Politik innewohnt. Die das Geschehen begrifflich durchdringende Darstellung wird dann zur Kritik. Denn in begrifflichem Denken spielt der schwache utopische Impuls, dass es vernünftig zugehe in der Welt. Freilich ist die Wirklichkeit des Vernünftigen, wie Hegel sie verkündet, »nichts Vorausgesetztes, sondern ein unablässiges fortschreitendes Gemacht-Werden« (Gef 5, 1120), wie Gramsci sagt, und dazu eines, das in der antagonis­tischen Gesellschaft sich ein ums andere Mal durchkreuzt findet und jederzeit auf dem Sprung zu sein hat, neu zu entspringen.

Um solcher Durchkreuzung zu entgehen, hat Slavoj Žižek der Occupy-Bewegung empfohlen, keine konkreten Forderungen zu erheben, weil »jede im Hier und Jetzt geführte Debatte notwendigerweise immer eine Debatte auf feindlichem Gebiet bleiben« müsse (2011). Doch die Auswanderung aus dem Hier und Jetzt ins Nie und Nimmer ist nicht die Lösung. Es ist wahr, wir brauchen einen utopischen Atem, um uns nicht im Hier und Jetzt zu erschöpfen. Doch den Ort der Gefahr, die es zu wenden gilt, können wir nicht fliehen. Bewegt sich unsere Untersuchung auf »feindlichem Gebiet«? Man wird sehen, dass diese Ortsbeschreibung zu simpel wäre. Gewiss, wir verlassen die Gefahrenzone nirgends. Doch sie ist nicht unumstritten in der Hand jenes »Feindes«, von dem Benjamin sagt, dass er »zu siegen nicht aufgehört hat« (I/2, 695). In der Zeit, von der wir handeln, hat dieser Feind die Gestalt der Auslieferung des menschlichen Gemeinwesens und seines Lebensraumes an die ›Märkte‹ angenommen.

Danksagung

Am Ende bleibt mir die angenehme Pflicht, all denen Dank zu sagen, die aus den unterschiedlichen Wissensgebieten, die unser Thema berührt, mit fachkundigem Rat geholfen haben. Wolfgang Küttlers geschichtstheoretische Bemerkungen waren wichtig für die Reflexion des Problems der Gegenwartsgeschichte und der forma­tionstheoretischen Aspekte. Bei der Bearbeitung der ökonomischen Passagen waren die kritischen Kommentare und Anregungen von Karl Georg Zinn und Mario Candeias eine herausfordernde Hilfe. Fachmännische Ratschläge zur Behandlung der finanztechnischen Aspekte kamen von Stefan Böhmerle von der Berenberg Bank und Alexander Henke von der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen. Jan Rehmann und Ingar Solty gaben mit ihren ortskundigen Einwänden und Vorschlägen wichtige Hinweise zur Überarbeitung der USA-Kapitel, deren erste zwei schon in einer früheren Fassung den Gesprächen mit Andreas Novy viel verdanken. Beim Chimerika-Kapitel haben mich Ivo Hammer und, mit sinologischer Kompetenz, Wolfram Adolphi unterstützt. Viel zu danken habe ich Jan Loheit, der das gesamte Buch lektoriert, das Namensregister erstellt und – wie auch Juha Koivisto – mich mit Literatur versorgt hat. Frigga Haug hat die Entstehung des Buches von Anfang an mit begeistert-herausforderndem Echo unterstützt und mir in der Schlussphase zudem den Rücken freigehalten. Martin Grundmann hat mit bewährter Sorgfalt Umschlag und Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.

Los Quemados, im Februar 2012 Wolfgang Fritz Haug

Teil I

Erstes Kapitel
Erscheinungsformen der Krise

Der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammen brach, wird den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen.

Eric Hobsbawm (2009)

Oder wie kommt es, dass der Handel, der doch weiter nichts ist als der Austausch der Produkte verschiedener Individuen und Länder, durch das Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr die ganze Welt beherrscht – ein Verhältnis, das, wie ein englischer Ökonom sagt, gleich dem antiken Schicksal über der Erde schwebt und mit unsichtbarer Hand Glück und Unglück an die Menschen verteilt, Reiche stiftet und Reiche zertrümmert, Völker entstehen und verschwinden macht …

Karl Marx und Friedrich Engels (1845)

1. Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs

Als schliefe das Ungeheuer noch und könnte durch ein weniger verstörendes Wort im Schlaf gehalten werden, zog noch im vierten Krisenjahr »die Mehrheit der Politiker und Journalisten es vor, von ›Rezession‹ zu sprechen« (Jackson 2011).10 Doch es scheint eher ihr eigener Schlaf gewesen zu sein, den sie mit dieser Illusion zu schützen versuchte.

10 Immanuel Wallerstein dagegen sagte 2009 voraus: »The depression into which the world has fallen will continue now for quite a while and go quite deep. It will destroy the last small pillar of relative economic stability, the role of the U.S. dollar as a reserve currency of safeguarding wealth.« (Wallerstein 2009, 13) Dann werde es den Regierungen überall auf der Welt darum gehen, »to avert the uprising of the unemployed workers and the middle strata whose savings and pensions disappear.« (13f) Auch Joachim Hirsch erkannte in der Krise »auf jeden Fall die Dimensionen ihrer Vorgängerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« und prognostizierte, sie werde »dazu führen, dass der Kapitalismus eine ganz neue Gestalt annimmt« (2009b).

Die Ereignisse folgten der Chronik eines immer wieder angekündigten Zusammenbruchs, der dennoch überraschend kam. Unerwartet waren zumal der Hauptschauplatz und das Ausmaß. Eine 1999 im Argument erschienene Soros-Besprechung beginnt mit den Worten: »Seit dem Ausbruch der asiatischen Finanzkrise 1997 befragen wir uns […] über die Natur des Hurrikans, der die Transitions- und Schwellenländer von Südostasien über die Ex-UdSSR bis Lateinamerika heimsuchte. Handelt es sich um eine globale Finanzkrise oder vielmehr um Einzelphänomene […]? Bleiben wir, das ›Zentrum‹, von der Krise der ›Peripherie‹ unberührt?« (Nies 1999, 624) Schon ein halbes Jahr später erhielt die Frage eine erste Antwort. Im März 2000 wurde das neue Jahrhundert mit dem Platzen der »Dot.com-Blase« eingeleitet. So hieß die Spekulationswelle, die sich im ›Zentrum‹ des Weltkapitalismus am explosiven Wachstum des Internet in den 1990er Jahren und an den darauf bezogenen Firmengründungen und Phantasien einer ganz neuartigen, ununterbrochene Konjunktur versprechenden Wirtschaftsweise, der »New Economy«, entzündet hatte. »Mobiltelephonie, Computersoftware oder Medienbusiness« zogen die Anleger an; vor allem das Internet als die tendenziell global sich vernetzende informationelle Infrastruktur erschloss neue Geschäftsfelder, und wie es schien, »lauerten in diesem noch unaufgeteilten Markt selbst für Newcomer große Expansions- und Gewinnchancen« (Wagenknecht 2008, 72). Doch dann zirkulierten »Todeslisten« für Internetfirmen, und an den Börsen regierte die Kapitalvernichtung. Dieser Krisenauftakt und seine Bewandtnisse sind im Ersten Buch unserer Untersuchung (HTK I, 92ff) ebenso analysiert wie die sich überschlagenden Illusio­nen vermeintlicher Krisenfestigkeit der »Neuen Ökonomie«.

Frei nach Hyman Minskys Theorie der Finanzblasen glaubten die Finanz- und Wirtschaftspolitiker der Vereinigten Staaten, auf die nächste Spekulationswelle umsteigen und darauf weitersurfen zu können. Nach dem Platzen der Internetaktienhausse und den Terrorakten vom 11. September senkte die US-Notenbank, die Federal Reserve (Fed), ihren Leitzins auf 1 Prozent, um die Konjunktur über die Konsumnachfrage am Laufen zu halten. Nachdem nun auch der Leitzins für langfristige Hypotheken sank, kündigten Millionen Hausbesitzer ihre Hypothek, was in den USA ohne Strafzins möglich ist, und refinanzierten sie zum günstigeren Zins. Die Haushalte hatten folglich mehr Geld für ihren Konsum zur Verfügung. Viele erhöhten zudem die Hypothek auf ihr Haus und kauften mit dem zusätzlichen Geld »japanische Autos, Küchen aus Deutschland oder einen Anbau ans Eigenheim« (Fehr 2008).

Hinzu kam der Effekt der Carry Trades. In Japan, wo »die kurzfristigen Zinsen von der Zentralbank – wegen Deflationsgefahr – ex­trem niedrig gehalten« wurden, wurden Kredite zu einem Zins »nahe am offiziellen Notenbankzins von 0,25 Prozent« aufgenommen und u.a. gegen US-Dollar getauscht, was deren Kurs hochtrieb (Flassbeck 2007). Dieser Transfer trug in den USA zur Verbilligung der Kredite und damit zur Vermögenspreisinflation bei.11 Mit dem geliehenen Geld kauften Investoren »rund um den Globus Aktien, Unternehmens- und Schwellenländeranleihen, Rohstoffe, ganze Unternehmen« und trieben dadurch »die Preise der Vermögenswerte nach oben«12. Die Immobilienpreise stiegen scheinbar unaufhaltsam, und das zweistellig. Mit ihnen wuchs der Kredit der Hausbesitzer. Das System nährte sich selbst. Jede Wertsteigerung wurde zum Hebel für die nächste. Es war, als hätte man endlich das Perpetuum mobile des Kapitalismus erfunden. Die Hauspreise dienten als Basis aller möglichen neuen Konsumentenkredite.13 In der Konkurrenz ums Geldanlegen nahmen die Banken diese Buchwerte als Sicherheiten für weitere Kredite. Das Finanzsystem pumpte sich voll mit Krediten, die Hausse nährte die Hausse. Die Realökonomie boomte, die Rohstofflieferanten gediehen. In den USA wuchs mit der Immobilienhausse der Bausektor. Dort entstanden viele Millionen neue Arbeitsplätze. Das war hochwillkommen. Denn durch die Globalisierung gingen gleichzeitig ungezählte Arbeitsplätze verloren. Den jungen Paaren und den Immigranten in den USA, die bei den hohen Hauspreisen nicht mithalten konnten, offerierten die Banken die nachmals berüchtigten »Subprime«-Hypothekenkredite. Die Zinsen waren zunächst niedrig, sollten erst nach 2-3 Jahren angehoben werden. Fehr hebt das aktive Gewährenlassen seitens der Regierung und der diversen damit befassten Staatsapparate hervor: »Die Aufsichtsbehörden schauen zur Seite. Die Regierung, die einen unpopulären Krieg im Irak führt, will die Bürger über eine gut laufende Wirtschaft bei Laune halten.«

11 »Mit dem künstlich überbewerteten Dollar kaufen Amerikas Konsumenten im Ausland ein, was das Zeug hält. Das US-Leistungsbilanzdefizit steigt auf 6 % der Wirtschaftsleistung.« (Fehr 2008)

12 Dies und das Folgende nach Fehr 2008.

13 »Über zusätzliche zweitrangige Hypothekenkredite (Home Equity Lines) ermöglichen es die Banken Haushalten, den erhöhten Wert des Eigenheims in Bargeld umzumünzen. […] Der kreditfinanzierte Konsumrausch grassiert, die Sparquote geht gegen null.« (Fehr 2008)

So schien die Immobilienblase die Explosionsfolgen der vorangegangenen Internetblase aufs Wunderbarste wettzumachen. Basierend auf der Doppelfunktion des US-Dollars, nicht nur als nationale Landeswährung, sondern zugleich als Weltwährung zu fungieren, wurden die US-Banken im Zeichen des »Dollar-Wallstreet-Regimes« (Gowan 2007, 156) zum ertragreichsten Wirtschaftssektor des Landes. Unter anderem bündelten sie Millionen von Hypotheken zu einer neuen Form handelbarer Wertpapiere, für die sie beim anlagesuchenden Finanzkapital aus aller Welt reißenden Absatz fanden. Zu sagen, dies sei »unbedrängt von staatlicher Kontrolle« (Kohler 2008) geschehen, verschließt die Augen vor der Komplizenschaft der Regierung, die dies durch ›Deregulierung‹ ermöglicht und die Banken schließlich geradezu bedrängt hatte, den Kreditrahmen auszuweiten. Kurz, die neoliberale Politik drückte mit der einen Hand die Lohnquote und förderte mit der anderen das Konsumniveau durch Konsumentenkredite. Wir kommen darauf bei der Frage nach den Charakteristika des in die Krise geratenen politisch-ökonomischen Systems zurück. Eben dieses Zentrum, mit der Londoner City im Gefolge, wurde zum Ort, an dem die Große Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise ausbrach.

Der Krach kam auf leisen Sohlen und durch die Haustür von Millionen US-amerikanischer Eigenheimbesitzer. Im Immobilien­sektor, aus dem der Kredithandel eine derart einträgliche Geldquelle gemacht hatte, begann das System zu kränkeln. Bereits 2006 wurden in den USA 1,2 Millionen Häuser zwangsversteigert, 45 Prozent mehr als 2005 (FAZ, 14.3.07, 21). Bis dahin hatten billige Kredite die Hauspreise hochgetrieben und hatte der Kredit den Kredit genährt. Doch jetzt, als angesichts der Inflation die Leitzinsen hochgesetzt wurden und die Hypothekenzinsen stiegen, kamen viele Schuldner in Bedrängnis. Sofern sie nicht der Zwangsräumung zum Opfer fielen, kündigten sie scharenweise ihre Hypotheken, indem sie ihr Haus der Bank überließen und schließlich räumten. Die Hauspreise fingen an zu sinken. Der Immobilienmarkt brach ein. Damit kehrte sich das Wundergesetz um. Hatte bisher der Kredit den Kredit genährt, so nährte nun die Krise die Krise. Jeder Niedergang zog den nächsten nach sich. Zuerst schien der Einbruch sich auf den Sektor der zweitklassigen Schuldner (»Sub-Prime«) zu beschränken. Doch dann weitete er sich in Schüben vom Immobi­lien­sektor des Kreditwesens aufs Kreditwesen des US-Finanzsektors insgesamt aus. Wenig später sprang die »Wallstreet-Krise« auf den Weltmarkt über und schwoll zur weltweiten Banken- und Finanzkrise an.

Mitte März 2008 brach Börsenpanik aus. »Das Vertrauen in die Weltleitwährung Dollar schwindet«, hieß es in der FAZ (Fehr), gefolgt von der bangen Erwartung, dies werde »vielleicht eines Tages in den Geschichtsbüchern als Symbol des Niedergangs der amerikanischen Hegemonie in Wirtschaft und Finanzen vermerkt werden« (Braunberger). Der Öffentlichkeit dämmerte, es mit der ersten Weltfinanzkrise zu tun zu haben. In den USA beherrschten Insolvenzen, Verstaatlichungen und Übernahmen den Bankensektor. In der Bundesrepublik brüstete sich der Finanzminister Peer Steinbrück noch, die deutschen Banken seien »robust«, während die Kanzlerin die strengere Regulierung des Finanzsektors ablehnte, um »dem Finanzplatz Deutschland nicht zu schaden«. Wie der Blitz schlug am 15. September die Nachricht vom Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers ein. Nun war kein Halten mehr. Die Kreditkette riss zuerst in den USA, dem Erbhof des Weltkapitalismus und Sitz der Zentrale seines Finanzsystems, unmittelbar gefolgt von der Londoner City und den britischen Großbanken, aber auch von Island, dessen Banken zuletzt über Goldesel zu verfügen schienen.14 Der Krach sparte auch die Schweiz als einen der ›sicheren Häfen‹ des Finanzkapitals nicht aus. Ihre beiden Großbanken UBS und Crédit Suisse gerieten an den Rand des Zusammenbruchs. Unter wildestem Auf und Ab an den Börsen der Welt, begleitet von Bankenzusammenbrüchen und -übernahmen, hatte die Finanzkrise den Nexus der bürgerlichen Gesellschaft, das Geldsystem, an den Rand des Abgrunds geführt.

14 »Iceland adopted neoliberal financialization and speculation to the hilt and saw an excessive growth of its banking and finance sectors with total assets of its banks growing from 96 percent of its GDP at the end of 2000 to nine times its GDP in 2006« (Foster/Magdoff 2008; dt. 2009b, 28).

Die blinde Dialektik dieses Prozesses zeigt sich darin, dass es die vermeintliche Entschärfung des Risikos war, die das Risiko schließlich unkontrollierbar machte. Die Kreditgeber verteilten die unsicheren und ungesicherten Forderungen auf viele fremde Schultern. Sie bündelten ihre Darlehen zu handelbaren Wertpapieren, in denen alles Konkrete der Beziehung zwischen Schuldner und Gläubiger ausgelöscht und auf den einzigen Punkt reduziert war, dem Käufer des Kreditbündels eine bestimmte Verzinsung zu versprechen. Die Rating-Agenturen, Standard & Poor’s an der Spitze, versahen die Bündel mit Bestnoten. Die Banken, die solche lukrativen Pakete fast überall in der Welt begierig abkauften, schlossen Kreditausfall-Versicherungen ab (CDS), die ihrerseits gehandelt und so weiterverteilt werden konnten. Auf der Spur dieser weltweiten Streuung des Risikos mündete die Kettenreaktion der Finanzkrise in den Flächenbrand des globalen Finanzwesens. In ihrer abgeleiteten und handelbar gemachten Form hatten die Schuldenbündel plötzlich keinen Preis mehr, weil niemand mehr zwischen werthaltigen und wertlosen Schuldverschreibungen zu unterscheiden vermochte. Die Banken mussten die entsprechenden Activa in ihrer Bilanz auf null setzen. Stillstand des Ausleihverkehrs zwischen den Banken war die Folge. Weltweit erstarrte die Kreditvergabe.

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22 aralık 2023
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