Kitabı oku: «Hightech-Kapitalismus in der großen Krise», sayfa 3

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Im August 2008 schätzte der Hedge-Fonds Bridgewater die Summe der gefährdeten Kredite auf 27 Billionen USD (SZ, 9.8.2008). Das war fast das Fünfhundertfache der geschätzten Zahlungsausfälle von sog. Sub-Prime-Schuldnern. Die Investitionsbanken hatten ihr Kapital mit einem Hebel von durchschnittlich 1 zu 24 eingesetzt, Bear-Stearns sogar im Verhältnis von 1 zu 35. In der Kontraktion wirkten die Kredithebel umgekehrt. »Für jeden Dollar, den sie mit Subprime-Papieren verlor, musste die typische Investmentbank […] andere Vermögenswerte im Wert von 24 Dollar verkaufen« (Eichengreen 2008). Jeder Notverkauf erzwingt in solchen Fällen weitere Notverkäufe. Nun brach eine jener Geldkrisen aus, von denen Marx in einem Zusatz zur 3. Auflage von Kapital I sagt, dass »deren Bewegungszentrum das Geld-Kapital ist, und daher Bank, Börse, Finanz ihre unmittelbare Sphäre« seien, während sie »auf Industrie und Handel nur rückschlagend« wirken (23/152, Fn. 99). Allerdings taten viele Industrien in den USA sich seit langem schwer, und der Welthandel produzierte ein immer größeres Ungleichgewicht. Der Boden in der Produktionsökonomie war also bereitet für einen jener schweren Einbrüche, bei denen in den Worten von Marx »auf entgegengesetzten Polen […] unbeschäftigtes Kapital auf der einen und unbeschäftigte Arbeiterbevölkerung auf der andren Seite« stehen (K III, 25/261). Im Sommer 2009 stand ein Drittel der US-Kapitalausrüstung still, während 17 Prozent der Arbeitskräfte entweder arbeitslos oder in Teilzeit beschäftigt waren, wenn sie es nicht überhaupt aufgegeben hatten, Arbeit zu suchen (Harvey 2009).15

15 Die unter Clinton reformierte US-Arbeitslosenstatistik führt nicht nur die Resignierten, sondern auch alle diejenigen nicht mehr auf, die in der letzten Woche einen Minijob hatten.

Dass die Finanzkrise im Weltzentrum des Kapitalismus, den USA, ihren Ausgang nahm, machte es unmöglich, sie wie ihre Vorgängerinnen auf die asiatischen und anderen Schwellenländer abzuschieben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Einfrieren der Kreditflüsse von der Finanzsphäre auf Industrie und Handel zurückschlagen und die Weltwirtschaft in eine allgemeine Krise stürzen würde. Der partiellen Vernichtung fiktiven Kapitals folgte die von industriell fungierendem Kapital mitsamt den an diesem hängenden Arbeitsplätzen auf dem Fuße.

2. Neoliberalismus – momentan »mit null multipliziert«

Momentan schien es, als hätte für Ideologie und Praxis des Neo­liberalismus die letzte Stunde geschlagen. Nach den dreißig ›golde­nen Jahren‹ des fordistischen Keynesianismus hatte er die ­darauf folgenden dreißig Jahre des Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus beherrscht. Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen war zu lesen, der »amerikanische Kapitalismus« habe, »weitgehend unbedrängt von staatlicher Kontrolle, seine eigenen Selbstmordattentäter hervor[gebracht], deren Sprengsätze, die Derivate, selbst noch die Wirkung der fliegenden Bomben der Dschihadisten übertreffen. Nicht nur New York, die ganze Welt hat einen neuen ›Ground Zero‹16: Wallstreet.« (Kohler 2008) Stand eine Revolution vor der Tür? »Sieben Tage, die den Kapitalismus erschütterten«, überschrieb El País, die globale spanischsprachige Tageszeitung, ihre Wirtschaftsbeilage in Anspielung auf John Reeds Zeitzeugenbericht über die Oktoberrevolution von 1917. Kündigte sich der Zusammenbruch des Kapitalismus an? Für den neoliberalen Marktfundamentalismus jedenfalls war laut Joseph Stiglitz die ­Bankenkrise, »was für den Kommunismus der Fall der Berliner Mauer war« (16.9.08).

16 Zur Erinnerung: »Ground Zero« hieß in der Sprache der US-Armee das von ihr nuklear vernichtete Hiroshima. In einem Akt sprachlicher Opferenteignung übertrug man den Term nach 11/9 auf die Trümmerstätte der New Yorker Zwillingstürme.

Aus dem bürgerlichen Lager der Bundesrepublik hat einer der FAZ-Herausgeber, Frank Schirrmacher, dem Moment der politisch-ökonomischen Doppelkrise den schärfsten Ausdruck verliehen: »Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken.« (2008a) Zur Jahrhundertwende hatte er noch den mythischen Allmachtphantasien der »New Economy« rhetorischen Auftrieb gegeben, die Internet-Spekulationsblase geistig verdoppelt und die Goldgräberstimmung der Informationsrentensucher17 angeheizt (vgl. HTK I, 89ff). Doch nun, im Moment der Panik vom Herbst 2008, verzeichnete er wie ein Seismograph das Tiefenbeben, dessen Fernwirkungen anderswo noch nicht so deutlich registriert worden waren. »Während sich jetzt linksintellektuelle Milieus in den Katastrophen der bestehenden Ordnung bestätigt fühlen können und daraus Folgen für den Geschichtsverlauf ableiten, hat das deutsche Nachkriegsbürgertum, das sich in den großen Volksparteien sammelte, keine nennenswerte Utopie entwickelt, die über den US-amerikanischen Traum und das Urvertrauen in dessen demokratische Garantien hinausginge.«

17 Als »Informationsrente« begreift Roberto Verzola »eine spezifische Form der Mehrwertaneignung, begründet mit sog. intellektuellen Eigentumsrechten. Mikro­elektronik und Digitalisierung haben die Bedeutung der Informationsrente explosiv gesteigert.« (Ralf Krämer, »Informationsrente«, HKWM 6/II, 1100)

Schirrmacher registrierte den »Entzug dieses Fluchtpunkts« als momentanen politischen Nihilismus. »Bush multipliziert uns mit null.« Als Linker hatte man die analoge Erfahrung gemacht, vom moralischen Ruin des Sozialismus politisch mit null multipliziert worden zu sein. Doch die Kapitalismuskritik und die Perspektive solidarischer Vergesellschaftung waren dadurch nicht ausgelöscht, während hier die Perspektive ausgelöscht schien. Es waren vor allem Reflexionen John Bergers aus Le Monde diplomatique vom Februar 2003 über den von der Regierung Bush praktizierten Machttypus, denen Schirrmacher sich unterm Eindruck der Krise nicht mehr verschließen mochte: »Jenseits der Ideologie«, hatte Berger über die USA geurteilt, »basiert ihre Macht auf zwei Drohungen. Die erste ist die Intervention aus dem Himmel durch den am stärksten bewaffneten Staat der Erde. Man kann es [nach dem Kürzel für den Langstreckenbomber der US-Luftwaffe] die Drohung B 52 nennen. Die zweite ist rücksichtslose Verschuldung, Bereitschaft zum Bankrott und, angesichts der Wirtschaftsbeziehungen in der Welt, dadurch ausgelöste Verarmung und Hunger. Man kann diese Drohung ›Drohung null‹ nennen.« Im Krisenherbst des Jahres 2008 sah nun Schirrmacher »die Phase der Null […] im Begriff, zu einem historischen Ereignis zu werden«. Was den bürgerlichen Liberalen bleibe und sich mit der staatssozialistischen Hypothek vergleichen lasse, sei »die beschämende Erfahrung der tiefen Untreue gegen uns selbst, das überwältigende Erlebnis der Ohnmacht«. In John Bergers Worten: »In den sich ständig wiederholenden Reden, Erklärungen, Pressekonferenzen und Drohungen sind die immer wiederkehrenden Begriffe Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Terrorismus. Jedes dieser Worte bedeutet in seinem Kontext exakt das Gegenteil, was es einst bedeutete. Jedes ist […] ein Mafia-Wort geworden, das der Menschheit gestohlen worden ist.«

3. Wiederkehr des Interventionsstaats

Der drohende Zusammenbruch schien quasi über Nacht zu bewirken, was keiner noch so scharfsinnigen Kritik gelungen war: einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Staat und Finanzkapital, ja schließlich von Staat und Wirtschaft schlechthin. Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen sah man »das ideologische Pendel […] in atemberaubendem Tempo in Richtung eines Neoetatismus« schwingen (Plickert 2008). Staatsinterventionismus war über Nacht vom Schimpfwort zur rettenden Losung geworden. Die Politik, glaubte man, würde ihren Vorrang im Verhältnis zum Kapital zurückgewinnen. Nun wurde vielstimmig von der Reparatur, ja »Neugründung« (Sarkozy) des Kapitalismus geredet. Diese Rhetorik übersah, dass Kapitalismus, anders als jeder denkbare Sozialismus, keine Gründung, sondern »Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs« (v.Hayek 1967) ist. Das mögliche neue kapitalistische Akkumulationsregime konnte nur eine »historische Fundsache« sein, um es in der Sprache der Regulationsschule zu sagen. So ›fand‹ die deutsche Bundeskanzlerin, die noch am Vorabend der akuten Phase der Finanzkrise die strengere Regulierung des Finanzsektors abgelehnt hatte, gleichsam über Nacht wie die anderen Regierungen der Welt, dass die globalisierten Ströme und Kreditverschachtelungen des Finanzkapitals kontrolliert werden müssten. Die Akteure der Weltpolitik ›fanden‹ ferner, dass sie dazu eine globale Behörde brauchten. Vor der Öffentlichkeit mussten Präsident Bush und die Banker als Sündenböcke herhalten, um den Kapitalismus zu exkulpieren. Sie hatten es verbockt. Bush stand für Inkompetenz, die Banker für (allgemeinmenschliche) Gier. Bush wurde auf dem ersten Höhepunkt der Finanzkrise abgewählt, und die Banker? Sie sollten Geld vom Staat nehmen und dafür ihr Einkommen auf eine halbe Million Euro pro Jahr beschränken lassen. Selbst der Chef der Deutschen Bank drängte darauf, reguliert zu werden, und bekannte, »vom Saulus zum Paulus geworden« zu sein. Auf die neoliberale Globalisierung mit ihrer trinitarischen Formel Deregulierung18, Privatisierung, Marktfreiheit folgte tatsächlich nun zunächst die Verstaatlichung (der Verluste). Angekündigt wurde ein gewisses Regime globaler Regulierung. Das Tabu der Staatsverschuldung war gebrochen, Konjunkturprogramme rückten weltweit auf die Tagesordnung.

18 Die Rede von der »Deregulierung« ist allerdings irreführend, wie Leo Panitch (2011) gezeigt hat. Die wirkliche Frage lautet: welche Regulierung. Die USA haben das »regulierteste Finanzsystem« der Welt. »But that system is organized in such a way as to facilitate the financialization of capitalism, not only in the U.S. itself, but in fact around the world.« Ohne das wäre die Globalisierung des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten nach Panitchs Ansicht nicht möglich gewesen.

Wenn der bis gestern verdrängte Keynes plötzlich wieder aktuell war, wenngleich zunächst »ganz überwiegend ohne Erwähnung […] des Namens« (Zinn 2008a, 24), so hallte dieser Name nun wieder in den Kommentaren der »Wirtschafts-Intellektuellen, einer neuen Branche, die sich im Augenblick hoher Nachfrage« erfreute (Schirrmacher 2008b). »Wir sind jetzt alle Keynesianer«, gab Josef Stiglitz, der sich als einer der in dieser Linie Denkenden »über drei Jahrzehnte lang […] beinahe gemieden« gefühlt hatte, Ende 2008 ironisch zu Protokoll. »Selbst der rechte Flügel in den Vereinigten Staaten hat sich dem keynesianischen Lager mit ungezügelter Begeisterung angeschlossen.« (Ebd.) Und Sahra Wagenknecht bestätigte: »Der Ruf nach Deregulierung, Privatisierung und Markt­orientierung, das Mantra des Neoliberalismus, wirkt plötzlich so altbacken und unzeitgemäß wie in den 90er Jahren die Forderung nach Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche, die damals nur wenige Linke noch vorzutragen wagten.« (2008, 7)

Horrende Summen, den Banken von den Regierungen zur Verfügung gestellt, ermöglichten vor allem im US-Bankenwesen den Konzentrationsprozess und verhinderten weitere Zusammenbrüche. Dennoch verharrten in den westlichen Metropolen das Kreditwesen und damit der ökonomische Prozess insgesamt wie gelähmt. »Die Konsumenten konsumieren nicht, die Arbeitgeber stellen keinen ein, die Anleger legen nichts an, und die Banken geben keine Darlehen«, beschrieb Ende 2008 der Chef der spanischen Nationalbank, Miguel Ángel Fernández Ordoñez, die Situation nicht nur seines Landes. »Es herrscht eine fast totale Lähmung, der sich niemand entziehen kann.« An allen Ecken und Enden sprachen die Frühindikatoren dieselbe Sprache. Der Seetransport-Index (»Baltic Dry Index«) war seit Mai 2008 um 95 Prozent zurückgegangen (Crespo 2008), das heißt, die Frachtpreise waren ins Bodenlose gefallen.19 Dabei gilt dieser Kurs im Gegensatz zu dem von Wertpapieren und Rohstoffen als unbeeinflusst durch Spekulation. Der Welthandel war tatsächlich dramatisch eingebrochen. Das lag nicht primär an schrumpfender Nachfrage, sondern am Ausbleiben von Krediten für den Außenhandel. Die Waren zirkulieren ja erst, wenn sie bezahlt sind; doch der Erlös kann erst kommen, wenn sie am Zirkulationsziel sind. Der Seetransport braucht aber Zeit. Und der Empfänger braucht weitere Zeit, bis Geld aus der Verwertung der betreffenden Güter an ihn zurückfließt. Die Überbrückung leistet der Kredit. Da dieser nun stockte, stockte bei Industrieausrüstungen, Rohstoffen und Halbfertigfabrikaten nicht nur der Handel, sondern auch die Produktion, und sie stockte an beiden Enden der Transaktionskette, dem der Lieferanten wie dem der Belieferten. Am Weltmarktpreis der Basisressource des globalen kapitalistischen Zivilisationsparadigmas, des Rohöls, ließ sich die Wirkung ablesen. Seit dem Sommer 2008 war er binnen eines knappen halben Jahres um rund 75 Prozent abgesackt. Nun ging das Gespenst der Deflation um – die Ökonomen befürchteten den Übergang von der »Rezession« zur »Depression«. Die Zentralbanken antworteten mit einer Politik des billigen Geldes. Auch der Zinsfuß des Geldes, das sie den Geschäftsbanken zur Verfügung stellten, war quasi »mit null multipliziert«. Aber hatte nicht gerade billiges Geld im Vorfeld das Krisenpotenzial weiter aufgepumpt?

19 Allerdings von einem aufgrund des Ölpreises vom Frühjahr/Sommer 2008 sehr hohen Niveau.

4. Die Finanzmacht interveniert in den Staat

Bruch und Wende in der herrschenden Politik und Ideologie waren nicht von den verschreckten Menschen ausgegangen, sondern diese hatten sich vorderhand um ihre Regierungen geschart, die es darauf anlegten, aus dem Krisenmanagement hegemonialen Honig zu saugen. Sieht man von der im Nachhinein wie eine Fata Morgana wirkenden Mobilisierungsphase des Wahlkampfes von Barack Obama von 2008 ab, dessen Sieg als »Eroberung des Winterpalastes in moderner und US-amerikanischer Version« (Caño 2008) gefeiert worden ist – wir kommen darauf im 8. Kapitel zurück –, so hatte die notgetriebene Wandlung der neoliberalen Regierungen vom Saulus zum Paulus sich als passive Revolution vollzogen. Eine ›Revolution‹ war es, weil die regierende Rechte in einer abrupten Wende der von links geforderten Rückkehr zum Staatseingriff ins ökonomische Geschehen nachkam. Passiv war sie im doppelten Sinn. Die arbeitende Bevölkerung wurde mit paternalistischen Gesten, die ins Steuergeld gingen, stillgestellt, ihr Zorn wurde mit populistischer Rhetorik aufs Stereotyp des gierigen Bankers abgelenkt. Dies war die eine Seite. Den mit Steuergeldern geretteten Banken gegenüber jedoch blieb es, was die im Gegenzug durchzusetzenden sozialen Ansprüche anging, bei Worten. Indem ihre Verluste mit öffentlichen Mitteln verstaatlicht worden waren, hätten ja eigentlich die Banken selbst unter öffentliche Kontrolle kommen müssen. Stattdessen wurden sie staatlicher Nichteinmischung versichert. In der Sache einer Umorientierung des Kreditwesens im öffentlichen Interesse blieben die Regierungen passiv. Jede fürchtete, regulatorische Aktivität würde in der allgemeinen Standortkonkurrenz zur Abwanderung profitabler Finanz-Geschäftszweige führen. Denn die G 20 hatten ihren Schwur vom September 2009 in Pittsburgh, in koordinierter Aktion finanzregulatorisch aktiv zu werden, gebrochen.20 Erst recht taten sie nichts gegen die Ungleichgewichte im Welthandel. Die allgemeine Konkurrenz dominierte ihr Verhalten. Der ökonomische Ausnahmezustand hatte nicht dazu geführt, die nationale Konkurrenz in weltwirtschaftlicher Perspektive auszusetzen.21

20 »The Pittsburgh announcement could go down in history as the beginning of the G-20’s journey toward sheer irrelevance […]. Reform of financial systems has proceeded unilaterally, not cooperatively.« (Brown/González/Zedillo 2011)

21 »It should have been obvious at the outset that the largest contributors to the global macroeconomic imbalances – such as the United States, China and Germany – would try all along the way to influence the process in order to minimize their respective share of correcting those imbalances which are standing in the way of sustained growth.« (Brown/González/Zedillo 2011)

Diese Passivität in den entscheidenden strategischen Fragen war es, was den Prozess ins Gegenteil umschlagen ließ. Der Staat rettete die Banken. Damit rettete er die Finanzmärkte. Aber er rettete sie auf die paradoxe Weise, sich bei diesen zu verschulden. »Im Effekt verschob sich die Hauptlast der Krise von den Banken auf die Staatsschulden.« (Harvey 2011, 262) Letztere machten einen »Quantensprung« durch.22 War die Krise eine des privaten Kreditwesens, so wurde sie wiederum durch Kredit nicht gelöst, sondern auf die dieses rettende öffentliche Hand verschoben. In der Folge machte sich der Zeitsinn der Bankenrettung durch Staatsverschuldung geltend, momentanen Frieden mit dem vorgezogenen Konsum künftiger Ressourcen und um den Preis künftiger Konflikte zu erkaufen. Die Zukunft der Nöte und der diesen entspringenden Konflikte begann schon am folgenden geschichtlichen Tag. Die »Märkte« wurden zum Pseudonym einer »dunklen Macht«23, von der man mit einem Wort Wilhelm Liebknechts, einem der marxistischen Gründungsväter der Sozialdemokratie, sagen kann, dass sie die Staaten an der Schlinge der Schuldknechtschaft führten. Dabei hatte sich die Staatsverschuldung seit Liebknechts Zeiten vervielfacht, so dass selbst »kleine Zuwächse im Zinssatz […] fiskalisches Unheil« anzurichten vermögen (Streeck 2011, 22). Was immer ein Staat in dieser Lage tun würde, er würde es ›im Griff der Märkte‹ tun, die ihn aufs Signal der Rating-Agenturen hin mit Zinserhöhungen vor sich hertrieben.

22 »The quantum leap in public indebtedness after 2008, which completely undid whatever fiscal consolidation might have been achieved in the preceding decade, reflected the fact that no democratic state dared to impose on its society another economic crisis of the dimension of the Great Depression of the 1930s, as punishment for the excesses of a deregulated financial sector.« (Streeck 2011, 20)

23 »Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten haben ›die Märkte‹ als eine dunkle Weltmacht agiert, die übers Schicksal des Ganzen entscheidet.« (Carrillo 2011b)

Dieser Passivität, die zum Leidensweg nicht nur der auf den Sozialstaat Angewiesenen, sondern der großen Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder werden sollte, lag die Parteilichkeit für die Aktiva zugrunde, die als ungeheurer Überbau über der Wirtschaft lasteten – als Buchvermögen an fiktivem Kapital, das am Vorabend der Lehman-Pleite eine Gruppe ehemals führender Politiker aufs »Fünfzehnfache des Bruttoinlandprodukts aller Länder« geschätzt hatte (Delors/Santer 19.5.2008; vgl. Kap. 4). Solange dieser Alp aus kapitalisierten Zahlungsansprüchen auf der Ökonomie lastete, würde kein Ende der Krise in Sicht kommen (Rogoff 2011). Zurückhaltenden Schätzungen aus dem Anlage-Management der Deutschen Bank zufolge hatte im Jahrzehnt vor der Großen Krise allein der US-Finanzsektor »etwa 1,2 Billionen ›Exzess‹-Gewinne im Verhältnis zum nominellen Brutto-Inlandsprodukt gemacht«, die »ausgelöscht« (wiped out) gehörten, damit die Ökonomie wieder Boden fände (Reid 2008). Solange nichts von alledem politisch planmäßig herbeigeführt würde, bliebe der Schrumpfungsprozess katastrophischen Verlaufsformen überlassen.

5. Düstere Aussichten und ein Arbeitsprogramm dagegen

Den nächsten Akt beherrschte »das Drama demokratischer Staaten, die in Schulden eintreibende Agenturen im Interesse einer globalen Oligarchie von Investoren verwandelt wurden« (Streeck 2011, 28). Die Politik unterwarf sich aufs Neue und mehr denn je der Diktatur der ›Märkte‹. Die Schuldigen bedienten sich der Schulden, die zu ihrer Rettung gemacht worden waren. »Dieselben Institutionen, welche die Krise ausgelöst haben und unbeschädigt und ökonomisch gestärkt aus ihr hervorgegangen sind, haben demokratische Instanzen wie die USA oder Europa mit dem Rücken zur Wand gedrängt.« (Escudero 2011) Gerade jetzt, da der Staat gebraucht wurde, sollte er sich durch die Austeritätspolitik der konjunkturpolitischen und zugunsten künftiger Leistungsfähigkeit investierenden Handlungsfähigkeit begeben. In Europa schloss sich ein Teufelskreis: die Austerität drückte die Konjunktur nach unten und die Arbeitslosigkeit nach oben, produzierte wachsende Sozialausgaben bei sinkendem Steueraufkommen und durchkreuzte so die vorgebliche Absicht, das Staatsdefizit zu verringern. Kein Wunder, dass es unter solchen Bedingungen bei der »unaufhaltbaren Ausbreitung und Hart­näckigkeit der Krise« (Kessler 2011, 7) blieb.24 Nur die Arenen ihrer Austragung wechselten, und deren Formen unterschieden sich von Staat zu Staat.

24 Kessler blendet die Halbheit der Maßnahmen zur Krisenbekämpfung und die nicht mehr in der Finanzsphäre gründenden tiefenökonomischen Krisendimensionen aus und redet um das Problem herum, wenn er schreibt: »Die klassisc­hen Krisenmechanismen wie die Bereitstellung von Liquidität oder konzertierte Aktio­nen seitens der Zentralbanken zeigten sich fast alle wirkungslos angesichts der fortschreitenden Ereignisse. Dabei wird deutlich, dass sich die Finanzkrise einer einfachen, monokausalen Erklärung entzieht. Vielmehr besteht die Krise aus einer Mehrzahl sich überlappender Dynamiken und Felder. Als erste Annäherung lassen sich insbesondere drei Themenfelder identifizieren: die Herausbildung und das Zerplatzen der Spekulationsblase auf dem amerikanischen Immobilienmarkt, die Ausbreitung der Finanzkrise, angetrieben durch neue Finanzprodukte, und die sich einstellenden diskursiven, institutionellen und regulatorischen Veränderungen.« (2011, 7)

Die westliche Führungsmacht erweckte bald den Eindruck der Unregierbarkeit. Der von extremer politischer Polarisierung gelähmte Staat entging ein ums andere Mal nur mit knapper Not der Zahlungsunfähigkeit. Der Demokratische Präsident war belagert von Republikanischen Präsidialprätendenten, die mit Programmen um die Nominierung rangen, die aus dem Tollhaus zu stammen schienen, ohne dass dies dem Beifall ihrer prospektiven Wähler Abbruch zu tun schien.25 Die EU, immer nur mit halben oder viertel Maßnahmen und immer hinter den je neuen Krisendiktaten der ›Finanzmärkte‹ herhinkend, schien denen Recht zu geben, die sie als politisch gewolltermaßen totgeborenes Kind betrachteten, oder gar als Konstruktion, die »einzig die Desiderate der nationalen Monopolkapitalismen übernommen« und Deutschland die Möglichkeit gegeben habe, »Europa zu beherrschen«, also mittels der Ökonomie zu erreichen, was auf dem Wege der militärischen Eroberung zweimal gescheitert war: »ein ›deutsches Europa‹« (Amin 2011, 71). Der so sprach, erinnerte daran, dass die erste lang anhaltende Systemkrise des Kapitalismus der Monopole erst nach dreißig Jahren des Krieges und der Revolutionen eine Lösung fand. Er sah keinerlei Grund anzunehmen, dass die Katastrophe diesmal anders verlaufen würde. Während William Carroll (2010) eine »bessere Globalisierung« anstrebte, zielte Amin auf den Untergang der bestehenden als Voraussetzung einer möglichen späteren Rekonstruktion auf anderen Grundlagen. Daher lautete seine Losung: Die EU und die gesamte existierende Weltordnung – in unserer Sprache: das Imperium des transnationalen Hightech-Kapitalismus – müssen weg, damit auf ihren Trümmern etwas Besseres kommen kann! Unausgesprochen deutete er an, dass erst deren Untergang in einem neuen und nun wirklich globalen Weltkrieg den Ausgang aus der Großen Krise bringen könnte (76). In dem Maße, in dem solche Vorhersagen, deren Radikalität nicht durch Realanalyse erhärtet ist, auf Menschen einwirken, werden sie Teil der Wirklichkeit und fügen ihr Gewicht der Wahrscheinlichkeit hinzu, dass sie sich erfüllen. Wir ziehen es vor, mit den weiterentwickelten Denkmitteln der Kritik der politischen Ökonomie uns in die Phänomene und die auf sie antwortenden Deutungsversuche zu vertiefen. Das mag dazu beitragen, durch Stärkung der kognitiven Ich-Kräfte und der praktisch-politischen Wir-Kräfte der pessimistischen Lähmung entgegenzuwirken und der Handlungsfähigkeit der auf ein solidarisches Gemeinwesen gerichteten sozialen Bewegungen zuzuarbeiten.

25 Dem Tollhaus der republikanischen Präsidentschaftskandidaturen werden wir in Kapitel 9 einen Besuch abstatten.

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22 aralık 2023
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