Kitabı oku: «Jahrhundertwende», sayfa 10

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29. November 1990

Gorbatschow hat die Reise zur Entgegennahme des Nobelpreises absagen müssen.

Mit Wanja von Heiseler telefoniert, der mich zu einem Seminar nach Moskau einlädt. Mit der Überzeugung eines Ordenspaters beschied er mich, dass die Unterscheidung zwischen ziviler und bourgeoiser Gesellschaft fehl am Platze sei. Dass es die Bürger (Bourgeois) waren, die das Konzept società civile eingeführt hätten, sei wesentlich. Ich verweise auf die koinonía politikè, das bringt ihn dazu, mich zu belehren, dass es im alten Athen Ware und Geld gegeben hat usw. Ich merke, dass ich keine Lust habe, solche Diskussionen zu führen, und mache meine Teilnahme an der moskauer Tagung davon abhängig, dass Leute eingeladen werden, die auf dem Feld mit nennenswerten Arbeiten hervorgetreten sind. Wanja bleibt ein marxistisch-leninistischer Ordensgeistlicher, grade auch in der Abkehr vom ML. Da macht sich ein Haltungselement vor aller konkreten Theorie und Politik geltend, das aus dem stalinschen Parteityp fortlebt.

1. Dezember 1990

Gorbatschow vorm ZK: Er habe die Bedeutung der Arbeiterklasse für die Perestrojka unterschätzt. Spricht sich kategorisch gegen die Privatisierung des Bodens aus.

Der Krieg gegen den Irak rückt näher. Der UNO-Sicherheitsrat folgte dem Antrag der USA, ein Ultimatum bis zum 15. Januar zu stellen.

3. Dezember 1990

Der Wahlausgang ein Schock. Für mich kam das Ausscheiden der Grünen aus dem Parlament völlig unerwartet. Großflächige Pechsträhne alles Linken. Die PDS wird nun die einzige Opposition links von der SPD sein. Nachdem sie bis zur letzten Minute mit Skandalkampagnen überzogen worden ist, ist es erstaunlich, dass die meisten ihrer Wähler, wenigstens in Ostberlin, an ihr festgehalten haben.

In England musste jetzt gerichtlich geklärt werden, dass dem Ausdruck Arbeiterklasse etwas Wirkliches entspricht. Es ging um einen Wohnblock, der 1937 zu einem symbolischen Zins dem londoner Gemeinderat verpachtet worden war unter der Bedingung, dass die Wohnungen Angehörigen der Arbeiterklasse zu vermieten seien. Die Politiker wollten die Wohnungen meistbietend verkaufen und vertraten die Meinung, der Ausdruck Klasse sei »widerwärtig«, und jene Bindungsklausel sei »verbraucht« und »wirkungslos«. Und war nicht im Wohnungsgesetz von 1925 festgelegt worden, zur Arbeiterklasse gehöre, wer wöchentlich nicht mehr als 3 Pfund verdient? Der Richter ließ sich vom Oxford Dictionary überzeugen, dass eine »Arbeiterklasse« existiert, solange es Menschen gibt, »die gegen Lohn in manuellen oder industriellen Berufen tätig sind«.

6. Dezember 1990

Zu untersuchen, wie das Streben nach Vergesellschaftung zu Verstaatlichung geführt hat.

7. Dezember 1990

Vor einem Jahr formulierte es der Vorsitzende ›meiner‹ Gewerkschaft (GEW), Dieter Wunder (in den Gewerkschaftlichen Monatsheften 12/1989): »Für die Gewerkschaften gibt es keinen Grund mehr, ihren Beschlüssen die Vorstellung einer alternativen Gesellschaftsordnung zugrunde zu legen – es gibt derzeit keine realistische Vorstellung einer wünschenswerten Alternative.« Als wäre in Gestalt der DDR eine solche wünschenswerte Alternative untergegangen! Das ist blanker Opportunismus. Dass es keine realistische Vorstellung gibt, stimmt, galt aber schon zuvor.

Die Rechtskonservativen machten ihr Dezemberheft von 1989 mit einer Grabinschrift auf: »Karl Marx – geboren 1818 – gestorben 1989«. Ich hatte immer geglaubt, er sei 1883 gestorben. Auch sie denken auf Staatsmacht hin.

Wie anders Georges Labica, der in der Zeitschrift »M« vom März/ April 1990 die Frage stellt: »Le communisme enfin possible?« Freilich tappen wir im Dunkeln, sehr weit weg von weitergehenden Hoffnungen auf Umgestaltung. Auch wenn im Kontext unserer Landesgeschichte, wie Ulrich Sonnemann Anfang des Jahres gesagt hat, »eine Volksrevolution, die eine Staatsmacht stürzt, nichts Geringeres als ein Novum von abenteuerlich befreiender Heiterkeit und Brisanz ist« (Diskus 1/90, 9). Jetzt scheint Bier- & Bananenernst an die Stelle getreten.

Auf solcherlei Gedanken komme ich, weil ich auf- und wegräume: das zur Verwendung im Perestrojka-Journal bestimmte Material, das liegen blieb und von immer neuem Material überschichtet wurde. »Eine Zeit des Umbruchs und der Erneuerung des Sozialismus in der DDR« – das waren die ersten Worte des Leitartikels von Gretchen Binus im Januarheft der IPW-Berichte. Blicke zurück, und du wirst zur Salzsäule.

8. Dezember 1990

Niederlage des Denkens überhaupt, wenn die Vorstellung einer Gedachten Gestaltung des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur (Produktion) und untereinander (Distribution) eine Niederlage erleidet.

9. Dezember 1990

Gorbatschow ist vorgestern im Kreml mit 3000 Direktoren sowjetischer Staatsbetriebe zusammengetroffen. Diese Leute anscheinend außer sich vor Zorn über die Perestrojka, die planlos begonnen worden sei und einen zerstörerischen Kurs eingeschlagen habe. Ryschkow bei diesen Personen offenbar anerkannt, Abalkin nicht. Gorbatschow wird vorgeworfen, zwischen den Fronten zu pendeln, statt »wirklich zu regieren«. Von immer mehr Seiten wird der Ausnahmezustand gefordert. Es sieht so aus, als sei die vormalige SU nun in der Hand von Warlords. Laut FAZ rückt Gorbatschow näher an KGB und Armee.

10. Dezember 1990

Große Ereignisse, wenn endlich eingetroffen, verschwinden in Banalität. Wahrnehmungsschwierigkeiten angesichts der Abrüstung Europas. Unbefangene Wahrnehmung unmöglich, weil die Veränderung von unseren Herrschenden als Landnahme nach einem Sieg praktiziert. Alles mit Zweideutigkeit geschlagen. Der latente Krieg gegen den Irak könnte die Form sein, in der die Vereinten Nationen das Zivilisationsmuster der Staatenbeziehung durchsetzen – oder die Form, in der die USA sich weiterhin (zu verschwendendes) billiges Erdöl verschaffen. Führende Leute der USA haben jedenfalls angekündigt, die Truppen würden auch nach einem Abzug des Irak aus Kuweit in der Region bleiben.

In der FAZ die Ansprache von Herbert Gottwald zur Wiedereröffnung des Historischen Instituts der Jenaer Universität. Der Untertitel definiert die Schuldigen: »Plebejer des Geistes degradierten die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR«. G. nutzt Jaspers Nachkriegsvorträge zur Schuldfrage als Matrix. Die »erzählende und orientierende« Funktion von Geschichte sei zu restituieren, »erzählend in dem Sinne, dass sie die Entzauberung der modernen Welt mit narrativen Mitteln zu kompensieren versucht«. Marxisten seien zu dulden unter der von Golo Mann 1972 formulierten Bedingung, »dass sie auch die Gegenargumente darlegen, als ob es im Augenblick ihre eigenen wären, und dass sie zum Widerspruch auffordern«. (Ich will gerne so verfahren, tue es längst, wüsste aber nicht, dass man mir gegenüber so verfährt.) Gottwalds sonderbar weichgefederte eigene Stellungnahme: »Man mag die sogenannte doppelte Glaubenskrise des Marxismus, wonach einmal der Glaube an den gesetzmäßigen Fortschritt der Geschichte zerbrochen sei und sich zugleich auf der anderen Seite der Glaube an die revolutionären Potenzen der Arbeiterklasse verabschiedet habe, durchaus akzeptieren. All dies ändert aber wenig an dem Tatbestand, dass von den Marxschen Gedanken und Methoden tiefgreifende Impulse für das 20. Jahrhundert im allgemeinen, für die Theorie und Empirie historischer Sozialforschung und insbesondere für die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft ausgegangen sind.«

14. Dezember 1990

Traf mich mit Alexander Filippow, er aus Bielefeld, ich aus Solingen kommend, in Bochum im Café Ferdinand, hinterm Bahnhof. Er ist Friedrich-Ebert-Stipendiat, arbeitet sonst in Moskau unter Juri Dawydow, dessen Entfremdungsbuch ich kenne, und hat sich auf die westdeutschen Konservativen spezialisiert. 1980 habe er als junger Assistent (wie wir sagen würden) einen Bericht über unser »Projekt Ideologie-Theorie« geschrieben. Der Bericht sei indes nicht veröffentlicht worden, weil zu marxistisch. Die zuständige Frau Galzowa, die heute entscheidenden Einfluss bei Nowy Mir ausübe, habe damals ausgerufen: »Armes Russland! Nach 70 Jahren gibt es noch immer Leute, die an Marx glauben!« An jenem Institut für Wissenschaftlichen Kommunismus habe man sich für alles außer für Kommunismus interessiert, sagt F., er selber habe hauptsächlich Weber, Popper und anderes dergleichen übersetzt. 1984 Referat über Orwells Neusprech. Als Habermas im April 1989 in Moskau am Institut für Philosophie auftrat, seien viele, oft gerade die Jüngeren, mit ihm unzufrieden gewesen, weil er zu sehr an Marx angeknüpft habe.

Im Gegensatz zu berühmten »Radikalreformern« stellt F. sich als Opfer des alten Regimes vor: Als Jude, Parteiloser und Unverheirateter habe er drei negative Karrieremerkmale gehabt. Jakowlew sei exemplarisch für Karriere im Zentrum des alten Regimes, sich allenfalls durch Englischkenntnisse von anderen unterscheidend; 1972 habe er die Kollektivierung der Landwirtschaft gefeiert. Ligatschow gehöre dagegen zu den Organisatoren vor Ort. Die Karrieren bedingen anscheinend rivalisierende Gruppen innerhalb der Elite. I. Frolow lese selber und habe »Sinn für Qualität«. Er sei der wichtigste Gate-Keeper zu Gorbatschow gewesen, der Denkimpulse weitergeben oder blockieren konnte.

Die neuen ›demokratischen‹ Politiker schildert Filippow als gute Redner ohne praktische Fähigkeiten. Die städtische Verwaltung Moskaus sei unter Popow und seinem Stellvertreter Stankijewitsch schlimmer daran als zuvor. Nostalgisch spricht er von den alten »kommunistischen« Verwaltern. In Leningrad sei es nicht anders. Andernorts, wo die alten Chefs in den neuen Strukturen sich haben behaupten können, herrsche zwar weniger Demokratie, sei aber die Versorgung mit Lebensmitteln »normal«, gleiche dem gewohnten Sozialismus mit seinen Mängeln, aber erträglich. In Moskau seien inzwischen nicht mehr nur die Regale leer, sondern es gebe keine Regale mehr. »Gute alte Zeit« unter Breschnew! Eine Wende zur ideologischen Verschärfung habe der Einmarsch in die ČSFR mit sich gebracht. – Die SU, merke ich, ist eben auch bei sich selbst einmarschiert; der Ausnahmezustand der Unterdrückung der andern schlägt unverzüglich auf die Unterdrücker zurück. Breschnew hat die hohen Ölpreise für sozialpolitische Geschenke genutzt, nicht für die Erneuerung der Produktionsstrukturen. Als die Ölpreise fielen, musste ein neuer Chef mit neuer Politik her.

Gorbatschow habe sich ohne jedes Szenario in die Perestrojka gestürzt. Jetzt keine Zeit mehr für neue Ideen, daher der Präsidialrat abgeschafft. Angesichts des Schicksals der ungarischen Reformpolitiker, die alle von der Entwicklung verschlungen worden sind, werde Gorbatschow die Reformen keinesfalls weiterbringen, sondern auf der jetzigen Stufe stehenbleiben und sie zu stabilisieren versuchen. – Hier spricht Filippow BRDSprache, schillert vom Neostalinismus zum Neoliberalismus hinüber. Als Meinung anderer referiert er: Es gehe Gorbatschow um Zeitgewinn, damit die alte Elite die neuen Positionen zu besetzen vermöge, um dann eine Diktatur nach chilenischem Muster einzurichten, auf dem Bündnis von Konzernen und Militär beruhend, dem Land Liberalismus aufzwingend.

F. sagt, er habe meine Gorbatschow-Studie zu einem Drittel gelesen. Ohne sie direkt zu kritisieren, widerspricht er in der Sache, diskreditiert nach Kräften meine Zeugen und unterläuft meine theoretischen Konzepte, zumal das der Zivilgesellschaft. Die SU sei kein Staat im eigentlichen Sinn, sondern ein Imperium, an dessen Bestand die Möglichkeit eines sowjetischen Universalismus (er nimmt meinen Term) gebunden sei.

Wenn das Imperium zerfällt, tritt nicht Zivilgesellschaft hervor, sondern entstehen Staaten, die mit Menschen- und Bürgerrechten wenig anfangen können. Bei F. scheint durch, dass er das Imperium mit Gewalt zusammengehalten haben will. Gleiches schreibt er Gorbatschow zu, der wisse, dass er anders gestürzt würde. Wenn die Union auf dem Spiele stünde, würde Gorbatschow nicht davor zurückscheuen, Blut zu vergießen. In den sezessionistischen Republiken seien jetzt selbst große Teile der russischen Minderheit für die Abspaltung. Der antirussische Nationalismus der dortigen Mehrheit werde sie allerdings binnen kurzem eines bessern belehren. F. anscheinend für neue Diktatur, sieht jedenfalls keinen andern Weg für Russland als den des Zwangs, repressive Daseinssicherung als mögliches Legitimationsmuster. Deutschland und Japan gelten ihm als Beispiele dafür, dass »Liberalismus aufgezwungen werden kann«.

Niemand kommt bei Filippow schlechter weg als die »liberalen Elitären«. Tatjana Saslawskaja etwa, die für Preiserhöhung bzw. für Freigabe der Preise spreche und dies durch Sozialpolitik ausgleichen zu können glaube, obwohl es doch hierfür vorerst weder Ressourcen noch Institutionen gebe, habe sich von der alten Administration benutzen lassen und sei jetzt bei breiten Schichten zu recht in Misskredit.

Nebenbei erfahre ich von F., einer seiner Freunde habe in der Prawda gelesen, Mamardaschwili sei gestorben. Ich glaube nicht daran.

15. Dezember 1990

Immer wieder sehe ich Merab, wie er genießerisch am Strand sitzt, seinen Leib der Sonne entgegenhält, ab und an provozierend Metaphysisches von sich gebend. Er muss leben! Er lebt in meiner Erinnerung, und wie!

*

Die gestrige Lesung im Alten Bahnhof Bochums ging gut. In der Diskussion sprach einer davon, dass in den vormals »sozialistischen« Ländern heute zum ersten Mal in der Geschichte der Kapitalismus zu einer Utopie geworden ist, also an die Stelle gerückt ist, an der bisher unsere Visionen von Sozialismus standen. Die Entwertung der »Trabis« als Bewusstseinstatsache. Wie schon in Solingen werde ich nach dem »neuen Grund« gefragt, von dem im Titel die Rede ist. Viele verstehen nicht, dass das Ausloten der Katastrophe, die Verständigung über den Konstruktionsfehler des befehlsadministrativen Systems und die Arbeit an einem neuen Common Sense der Linken derzeit das Wichtigste.

Einer scheint es unanständig zu finden, ein »Tagebuch« zu veröffentlichen. So was erscheint nach dem Tod. In Solingen ein blutjunger Praktikant der lokalen Zeitung; er schien es egoistisch zu finden, andern die Lektüre eigner Eindrücke anzudienen. Im Publikum versprengte Veteranen von ’68, alten zerschlissenen Sofas gleichend, die von mir zuletzt die Kritik der Warenästhetik (1971) gelesen haben.

Die Jüngeren beginnen sich zu spalten (vorerst ohne es zu merken) in solche, die vom Neoliberalismus überzeugt werden und solche, bei denen der Diskurs der neuen radikalen Linken greift. Zwischen diesen Fronten habe ich es schwer.

*

Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank, Wilfried Guth: »Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs […] ist auch die vom Westen losgelöste Existenz Osteuropas beendet.« Feiert die neuen Nationalismen im Osten als »eine entscheidende Triebkraft für den fundamentalen Umschwung«. Treibt einen Keil zwischen die europäischen und die außer-europäischen Republiken der SU, indem er den ersteren die Assoziierung an die EG anbietet. Weiß aber, was er an G hat, und bietet folglich den Sezessionisten nur Vages. »Es wäre daher allzu spekulativ, heute darüber nachzudenken, ob zum Beispiel die baltischen Republiken in Zukunft ein so hohes Maß an politischer Souveränität bekommen werden, dass ihr Einschluss in die EG ernsthaft erwogen werden könnte.« Rückblick: »Während der letzten zwölf Monate waren wir vorrangig Beobachter, Zeugen einer kaum fassbaren Bewegung politischer Befreiung«. Diese Zeit sei vorbei, und Banker sowie Unternehmer sollen nun anpacken. Natürlich geht es ihnen um eitel Gemeinwohl.

16. Dezember 1990

Eine Gleitlandung von Ideen auf dem Boden von Tatsachen –

Wie Botschaften aus dem Jenseits gelangen jetzt Besprechungen aus der vormaligen DDR an mich, in denen meine Arbeiten zum ersten Mal ernst genommen werden. So über das Gorbatschow-Buch im »Referateblatt Philosophie« 26 (1990) 2: »Angesichts der notwendigen revolutionären Erneuerung des Sozialismus in unserem Land ist die Lektüre der haugschen Arbeit dringend zu empfehlen.« Als das gedruckt wurde, war das bereits vergangen, abgetriebene Zukunft in der Vergangenheit.

17. Dezember 1990

Die USA auf dem Weg in die Wirtschaftskrise. Beschweren sich, dass ihre Verbündeten zu wenig für die Kriegsvorbereitung spendieren. Kosten weit über 35 Mrd USD.

18. Dezember 1990

Über 60 Prozent der Bevölkerung in der ehemaligen BRD halten die Wirtschaftslage für gut, 3 Prozent für schlecht. In der ehemaligen DDR halten über 60 Prozent sie für schlecht, 2 für gut. Das ist schlagend komplementär. Die Lage ist indes stabil, weil in der vormaligen DDR 60 Prozent daran glauben, dass es besser wird.

Gewinner des Umbruchs ist zumal die Automobilindustrie (bzw. das Finanzkapital, soweit es jene kontrolliert). 1990 sind schon jetzt 1 Mio PKWs in die DDR verkauft worden, davon 1/5 Neuwagen; ich schätze, dass dadurch mindestens 12 Mrd DM in den Westen abgeflossen sind. Nun will VW 5 Mrd investieren bei Zwickau, während Mercedes mit 1 Mrd das Ifa-Werk in Ludwigsfelde bei Berlin zu »einer der größten und modernsten« Stätte für Lastwagenproduktion ausbauen will; BMW baut Karosserieteile in Eisenach; ebenda hat Opel die Produktion von 16 000 »Vectra« pro Jahr aufgenommen, investiert zusätzlich eine Mrd in ein neues Werk, das (mit 2600 Arbeitsplätzen) jährlich 150 000 PKW bauen soll, vorwiegend »Corsa« und »Kadett«. Schon jetzt unterhält Opel 350 Verkaufsstellen mit 9000 Angestellten in der DDR.

Frontberichte in einer zügigen und enormen Eroberung: Die Deutsche Bank hat das Filialsystem der ehemaligen Staatsbank übernommen, wie die Großkaufhäuser die »Centrum-Warenhäuser«, BASF die Synthesewerke Schwarzheide. Unilever lässt in 7 Werken zu Lohnverhältnissen fertigen und möchte die Margarinewerke Pratau und Chemnitz übernehmen. Coca-Cola hat die Weimarer Getränke übernommen, Binding die Radeberger Brauerei sowie die Brauerei Krostitz bei Leipzig und über die Binding-Tochter Berliner Kindl die Potsdamer Brauerei und die Bürgerbrauerei in Berlin. Reemtsma übernahm VEV Tabak Nordhausen, Philipp Morris und Reynolds die andern beiden Zigarettenfabriken.

Das Stasi-Stigma wirkt im Sinne der Übernahme. Man muss seine Wirkungsbedingungen und Effekte studieren.

In England Stagflation: über 10 Prozent Inflation, »unternormaler« Auftragsbestand bei 54 Prozent der Firmen, steigende Arbeitslosigkeit.

Bei uns werden anstelle von Steuererhöhungen allerlei Abgaben eingeführt (vor allem eine Straßenbenutzungsgebühr) sowie das Telefonieren verteuert.

19. Dezember 1990

Wieder einmal lugt ein Stückchen Wahrheit durch, gleich wieder verdeckt von taktischen Macht- und Meinungsspielen: »Denn so urgewaltig sich die Wende im letzten Herbst auch vollzogen haben mag, ohne die stillschweigende Duldung gerade dieser Kreise der Staatssicherheit wäre sie wohl kaum zu diesem glücklichen Ende gekommen.« (J. M. Möller im Leitartikel der FAZ) Die Rede ist von Leuten wie Markus Wolff. Es ist die Verdichtung von Wut gen gestern und Verzweiflung gen morgen, die sich unseren Herrschaften als Vehikel anbietet, um die DDR-Bevölkerung zu desartikulieren. Bei Möller taucht dieses Potenzial als »tiefer Pessimismus« auf, »der die Menschen in den neuen Bundesländern schon seit längerem erfüllt und der sie mittlerweile fast alles glauben lässt, was ihren düsteren Eindruck bestätigt«. Diese ins Negative sich stürzende Leichtgläubigkeit ist es, woran man das DDR-Volk jetzt vor allem hebelt.

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