Kitabı oku: «Jahrhundertwende», sayfa 9
4. November 1990
In Rumänien Unruhen gegen eben jene marktwirtschaftliche Preispolitik, die Jelzin jetzt für Russland vorhat.
5. November 1990
Nun haben sich Gorbatschows Wirtschaftsberater öffentlich die Hände in Unschuld gewaschen: Petrakow, Schatalin u.a. sagen in einem Brief an die Komsomoslkaja Prawda eine Inflationsspirale und den wirtschaftlichen Kollaps voraus. Wenden sich gegen Gorbatschows Plan, desavouieren aber auch ihre eignen Vorstellungen von gestern, die in Gestalt des 500-Tagesplans vor fünf Tagen in Russland in Kraft gesetzt worden sind. Eine politische Organisation hat derweil zur Gewalt gegen Gorbatschow aufgerufen.
7. November 1990
Dass Kohl seinen Vergleich von Gorbatschow mit Goebbels – war es 1987? – heute öffentlich »töricht« nennt, spricht für ihn. Vermutlich kann nur ein Konservativer die Beziehungen mit der SU (oder was sich aus ihr entwickelt) produktiv gestalten.
9. November 1990
Besuch von Thomas Metscher. Hans-Jörg Sandkühler, erzählte er, lehne es neuerdings ab, seine Position »materialistisch« zu nennen, und bezeichne sich als »internen Realisten«.
10. November 1990
Auch an der Bremer Uni, im Streitgespräch mit Franke von der SPD, hat Gysi den Saal für sich gewonnen.
11. November 1990
Gorbatschow zum Jahrestag des Mauerfalls in Bonn von Menschenmengen desto stürmischer gefeiert, als ihnen bewusst ist, wie verzweifelt seine Stellung in der SU wird. Das Glück der Konstellation ist ganz auf die Seite der »Deutschen« (ihrer Herrschenden) übergewechselt: Nationalökonomie und Weltkonjunktur stimmen (momentan) zusammen wie überhaupt Ökonomie und Politik, dazu die Stimmung der Beherrschten mit den Gestimmtheiten der Herrschenden. In der SU geht zur Zeit alles daneben. Nichts kommt rechtzeitig.
Im Film von Max Ophüls über den deutschen Umbruch, einer jede Totalisierung blockierenden Aneinanderreihung von Interview-Stücken mit persiflierenden Einblendungen aus Spielfilmen und Musicals, beeindruckte mich Kurt Masur, den kein Starschauspieler hätte besser darstellen können. Er wies die oberflächlichen Fragen und insinuierenden Bemerkungen dessen, der halt seine Story haben wollte, zurück. Er sprach von einer veritablen »Zerstörung der Seelen« der ehemaligen DDRBürger, die jetzt zu beobachten sei.
Beim Aufräumen auf die August-Nummer von »Sowjetunion heute« gestoßen, wo Gorbatschow als Sieger des 28. Parteikongresses geschildert wird. Aus wachsender Entfernung ändert sich auch mein eignes Bild von jenem Sieg. Was da als »konservatives« Aufbegehren erschien, war wohl bereits ein Echo (ein Weitergeben) der massenhaften Unzufriedenheit mit dem Gang der Dinge. Die Erfahrung der Parteivertreter, nichts Überzeugendes mehr sagen zu können, also der im Einzelnen sich ausdrückende Hegemonieverlust, hatte eine Grenze erreicht, wo sie nicht weiterwussten. Aber Gorbatschow weiß ja auch nicht weiter. Er findet noch rund 20 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, heißt es, und hätte keine Chance mehr, zum Präsidenten gewählt zu werden.
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Theorie des Stalinismus. – Heft 3/90 (September) der »Gesellschaftswissenschaften« (Moskau) enthält einen Artikel von Grigori Wodolasow über »Das Wesen und die Wurzeln des Stalinismus«. Seine Denkweise mutet zunächst objektivistisch an, unter Gesetzen und sich in Oberflächenerscheinungen ausdrückenden Geschichtsdeterminanten tut er es nicht. Von objektivistischem Standpunkt entsteht der Terrorismus als Subjektivismus. Was nicht gleichsam von selbst kommt, soll demnach mit Gewalt erzwungen werden. Dennoch nicht uninteressant. Wodolasow will zeigen, dass Marx und Lenin die besten begrifflichen Waffen gegen den Stalinismus bieten, falls man in der Lage ist, ihr Denken weiterzuentwickeln zum Begreifen der »sozialen Welt eines anderen Typs«, in der wir heute leben. Auch den Term »Abweichung« lehnt er daher als unangemessen ab. Die drei Merkmale des Stalinismus: die Individuen als »Rädchen« des Mechanismus, die Partei als Kader-Orden und die These von der Zuspitzung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus, die Gewalt unausweichlich machte: »Das ist ein prinzipiell anderes Projekt.« Wodolasow artikuliert dieses Projekt als »links« und ordnet ihm eine soziale Basis in Gestalt der unkultivierten Subproletarier zu und einen interessierten Akteur in Gestalt der diktatorischen Bürokratie. Als System sei der Stalinismus »Diktatur der Bürokratie«, mit einer »antihumanistischen, voluntaristischen Ideologie einer bürokratischen Elite, welche die Gewalt […] verabsolutiert« und die Menschen und das Land wie einen Lehm auffasst, woraus man mit Willen & Disziplin alles formen kann (206).
Wodolasow will zeigen, dass der Stalinismus sich wie eine Krebswucherung immanent gebildet und allmählich und bewusstlos entwickelt habe. Zu den Vorbedingungen gehört, dass alle Rivalen Stalins in den 20er Jahren »ein wenig auf dem ›linken Bein‹ hinkten – sie maßen eine zu große Bedeutung der menschlichen Initiative und Aktivität in der Geschichte bei.« Solcher Linksradikalismus der Führenden gründete in der »Psychologie eines bedeutenden Teils der revolutionären Massen«. W. unterscheidet im Volk der Oktoberrevolution zwei Flügel, einen »revolutionär-realistischen«, demokratischen und einen linksrevolutionär-kasernenkommunistischen, der zur Basis des Stalinismus werden sollte. Dieser zweite Flügel stützte sich auf die am meisten Unterdrückten und Verelendeten, deren »halbasiatische Kulturlosigkeit« Lenin charakterisiert habe (LW 33, 448). Scholochows Nagulnow (aus Neuland unterm Pflug) und Platonows Safronow (aus der Baugrube) seien literarische Repräsentanten dieses Typs. Die verblüffenden Erfolge, »im Oktober und im Bürgerkrieg, als sie nach allen bekannten Gesetzen des Kräfteverhältnisses nicht siegen konnten, aber siegten, festigten in ihnen den Glauben an ihre Allmacht« (211). (W. unterlässt es, auf Lenins hierzu stimmende Charakterisierung des Marxismus als »allmächtig« einzugehen.)
Wo immer möglich, arbeitete Lenin auf Grundlage von Freiwilligkeit und Überzeugung. Aber das war der langsame Weg. Stalin repräsentierte den schnellen Weg. Und er hatte zunächst und immer wieder Erfolge. Wodolasow vergleicht sie mit Leistungen, die durch Doping erzielt werden, worauf ein langer Katzenjammer folgt. Jedenfalls wurde der Stalinismus, der den Begriff der »Volksfeinde« für seine realen oder imaginären Kritiker einführte, zum konzentrierten Volksfeind. Mit Marx (MEW 8, 199) charakterisiert W. die bonapartistischen Züge der Kulakenverfolgung. Bürokratie sei »zur adäquaten sozialen Basis des Stalinismus« geworden, heißt es, den Begriff der Klassenbasis verkürzend, wie es vielleicht ja wirklich der Fall war. Die Theorie wird nun zu einer »sorgfältig durchdachten reaktionären Doktrin«. Interessant die Annahme, »dass der Hauptinhalt des Kampfes und der Repressalien der 30er Jahre (den vielleicht die Teilnehmer selbst nicht ganz erfassten) in der Konfrontation des ›bürokratischen‹ und des ›volkstümlichen‹ Stalinismus bestand.« Den letzteren überwinde man dadurch, dass die Menschen in demokratischen Praxisformen ihre Kraft erführen, wodurch es möglich werde, die Bürokratie zu überwinden, »ohne auf die mythische Kraft einer starken Persönlichkeit zu vertrauen« (219).
Chruschtschows Scheitern wird – ganz in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Kapitel (9.3) meines Gorbatschow-Buchs – herangezogen, um die Notwendigkeit der Entfesselung eines revolutionären Prozesses der Perestrojka gegen absolutistische Vorstellungen zu verteidigen. Die gegenwärtige Krise dieses nun tatsächlich entfalteten Prozesses wird nicht mitgedacht.
15. November 1990
Das eigne Projekt ›historisch‹ zu betrachten, ist gefährlich. Gefährlich nicht nur für die emotionale Hülle, die nun als Illusionsblase durchschaut wird, sondern wegen der gefährlichen Metastasen des Jetzt. Die »Illusionslosigkeit« gerät zur Illusion zweiten Grades, die das Totenreich auf Erden immer schon vorwegnimmt.
Historisch betrachtet wäre anzunehmen, dass »Marxismus« wie jede andere »Philosophie« nur als Staatsideologie zu dauern vermöchte. Freilich nicht als Ideologie eines bestimmten Staates, sondern als Ideologie einer bestimmten Staatlichkeit, Politik im antiken Sinn. Konkrete Politik würde dann von den Adepten daraus abgeleitet und von den Machtinteressenten damit legitimiert.
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In Thomas von Aquins Summa theologica lesend, diesem in die große Erzählung zwischen Exitus und Redditus eingebauten System aller erdenklichen Zweifel und ihrer definitiven Beantwortung, scheint es mir, dass dieses Genre der Traum der marxistisch-leninistischen Handbuchschreiber und ihrer Auftraggeber war.
16. November 1990
Svetlana und Alexander Askoldow werden sich als Gäste der Akademie der Künste für einige Monate in Berlin aufhalten. Gestern Abend statteten wir ihnen einen ersten kurzen Besuch ab. Der Schrecken und die Angst des sowjetischen Zerfalls sprechen aus ihnen. Schon an der Wohnungstür hörten wir, dass es in Moskau kein Salz und keine Streichhölzer mehr gibt.
Frigga bemerkte die mimetische Sprechweise von Alexander, der mit den Händen gestaltet und nicht nur mit dem Gesicht, sondern mit dem ganzen Körper ausdrückt, was er sagt. Vielleicht desto mehr, als er weiß, dass wir kaum russisch verstehen und auf die englische Übersetzung Svetlanas angewiesen sind.
Sie machen Gorbatschow zum Clown, sagte er. Alles, was Gorbatschow tut, ist von vorneherein durchkreuzt. Die heutige, vom Obersten Sowjet gegen Gorbatschows Willen verlangte Rechenschaft erwarten sie mit hoffnungsloser Verzweiflung.
Jelzin schildern sie als ziemlich üblen Demagogen, der auch im Alltäglich-Mitmenschlichen mies sei, wie im Suff jederzeit herauskomme. Wir verstehen nicht nur Kritik an J., sondern spüren wieder einen Hauch vom heillosen Auseinanderfallen, das derzeit für die russischen Verhältnisse so charakteristisch ist. Die Askoldows deuteten sogar eine Art von »Verrat« seitens Jakowlews an, weil dieser mit Jelzin nach dessen Parteiaustritt gesprochen und ihm die Hand gedrückt habe.
Als ich Alexander das »Perestrojka-Journal« überreiche und erkläre, was ich darin versucht habe, sagt er mehrfach, er hätte ähnliches tun müssen, Theorie und Interpretation aufschiebend, einfach täglich verzeichnen, was geschieht.
17. November 1990
Telefonisch von Irene D. die Nachricht, Michael B. habe sich vor seiner Fakultät als Stasi-Mitarbeiter (seit 1977) offenbart. Lähmungsgefühle.
Gorbatschow scheint eine Woche Aufschub gewonnen zu haben. Sein Schachzug: eine Art Länderkammer (Aufwertung des »Föderationsrates«) als Vorgriff auf einen neuen Unionsvertrag. Er spricht von Machtkampf. Der BBC-Kommentator heute früh sagte, Gorbatschow habe seine Grenze erreicht, bis wohin man mit ihm »Reformen« machen könne. Er sei eben doch ein Kommunist.
19. November 1990
Gorbatschows »Überraschungsmanöver« bestand darin, dass er sich die Unionsregierung unterordnen will, wie das in den USA der Fall ist. Das läuft auf Entlassung von Ryschkow hinaus. Der Föderationsrat soll durch ein interrepublikanisches Komitee unterstützt werden. Der Präsidialrat soll durch einen Sicherheitsrat ersetzt werden. Die alte Idee einer Kontrollbehörde, die in allen Republiken Stützpunkte erhalten und die Verwirklichung von Gesetzen garantieren soll, taucht wieder auf. Eine weitere Sonderbehörde beim Präsidenten soll sich mit Schwarzmarkt und Kriminalität befassen. Die Rede, in der Gorbatschow dieses Konzept vorstellte, dauerte nur 10 Minuten, im Gegensatz zu der anderthalbstündigen Eröffnungsrede, worin er nichts Neues gesagt hatte.
Jetzt wird anscheinend spekuliert, dass Sobtschak eine führende Stellung in der neuen Exekutive bekommen soll.
Gestern am ehemaligen DDR-Fernsehen, jetzt DFF 1, zufällig eine Diskussion über Anna Seghers gesehen, offenbar ausgelöst durch eine Bücherverbrennung, der ihr Werk zum Opfer gefallen war und durch Kampagnen zur Umbenennung von Straßen usw., die ihren Namen tragen. Verzweifeltes Aufbäumen der DDR-Schriftsteller, den Platz ihrer Literatur verteidigend. Die Frage, warum die Seghers im Janka-Prozess geschwiegen hat. Es wurde angedeutet, dass unter Angst. Eine Sendung, die bereits wie aus einer anderen Zeit wirkt und gewiss nicht mehr lange erlaubt sein wird. Zeigt eine tiefe Verletzung.
23. November 1990
Rundfunkdiskussion (in DS Kultur) mit Träder und Kapferer, moderiert von der wackeren Ulrike Bürger. Ob der Marxismus eine Sackgasse der Menschheitsentwicklung. Man müsste so viele Gleichungen des Tages aufsprengen: Marx = Marxismus, Marxismus = Marxismus-Leninismus, diktatorischer Staatssozialismus = Sozialismus.
Ich habe ja Marxismus gleichsam in der Fernuniversität studiert, nämlich auf Distanz bei Abendroth, Adorno, Benjamin, Bloch, Brecht, Gramsci, Horkheimer, Lukács.
Träder (von Buhrs Institut) hat in Leipzig bei Wittich studiert. Das Argument und das Wissen, dass es im Westen eine lebendige marxistische Tradition gab, habe eine »belebende Wirkung« für sie gehabt. Er sprach es sächselnd: »belehmnd«, sodass ich zunächst »lähmende Wirkung« verstand. Buhr schildert er als gespalten. Er sei halt auch Philosoph.
Vom Sender in der Nalepastraße mit einem klapprigen Taxi, dessen Türgriff beim Zuziehen abging, über Köpenick nach Friedrichshagen, in einem immer noch fremden Land. An Michael Bries Wohnungstür steckte ein Zettel: »Bin kurz zum Arzt, 11h30«, und es war erst kurz danach. Ein kalter Regen ging nieder. Nachdem ich eine Weile fröstelnd den verhangenen Müggelsee und die riesigen Weidenbäume, die sich über ihn beugten, betrachtet hatte, flüchtete ich ins Treppenhaus, mit zweifelnden Gedanken an den, der mich doch herbestellt hatte. Etwas später erschien ein kleiner Junge, der artig Guten Tag sagte und die Tür inspizierte, bis er den Zettel entdeckte. Das war der achtjährige David Brie, dessen Schulklasse jetzt Schwimmen hatte, wovon er aber befreit war wegen seiner Hand. Er schob den Verband zurück, zeigte Verbrennungsnarben und erzählte den Hergang, wie er Rühreier hatte machen wollen und wie beim Einschlagen des Eis das siedende Öl auf die Hand spritzte, worauf er die Pfanne fallen ließ. Er bat mich herein, und ich durfte die von der glühend heißen Pfanne hinterlassenen Brandkerben auf dem Küchenfußboden besichtigen. David ließ sich nicht zweimal bitten, mir einen Kaffee zu brühen. Dann begann er, Schulaufgaben zu machen, während ich meine Zeitung las, verblüfft ob so viel Bravheit.
Eine halbe Stunde später sah ich durchs Fenster, wie Micha Brie aufs Haus zuging, das Gesicht gotisch-holzgeschnitzt, momentan meinte ich den Schädel darunter zu sehen. Dann sitzt er mir gegenüber, und die Ausstrahlung ist wieder da.
»Rein sachlich«, sagt er, sei seine Mitwirkung in der SED viel einflussreicher gewesen und belaste ihn viel mehr als die Mitarbeit bei der Staatssicherheit, zu der er sich 1976 oder 1977, er entsinnt sich nicht genau, nach Rückkehr aus der SU schriftlich verpflichtet hat. Er hatte so etwas wie Gutachten über Ausländer abzugeben, die Studienaufenthalte in der DDR absolvierten. Er habe nie jemandem geschadet, auch niemals über andere Personen aus seiner Umgebung berichtet, nie etwas gegen sein Gewissen getan, sei übrigens auch nie dazu angehalten worden. In den letzten Jahren habe er nur mehr seine eigene Sicht der Dinge mitgeteilt in Gestalt seiner Artikeltexte oder Redemanuskripte, die er – nachträglich – zur Kenntnis gab.
Die offizielle DDR existierte auf drei Ebenen, mit denen, wer immer Verantwortung übernahm, unvermeidlich in Berührung kommen musste: die des Staates, die der Partei und die der Staatssicherheit. Sonderbare Verdreifachung aller Vorgänge. Spaltung und Selbstzweifel liefen quer zu diesen drei Ebenen durchs gesamte Gefüge, vor allem seit in der SU mit der Perestrojka begonnen wurde und sich herausstellte, dass die DDRFührung Reformbestrebungen zurückwies.
Sachlich magst Du recht haben, ich glaube Dir jedenfalls, sage ich zu Brie, aber nach den groben Gesetzen von Politik und Medien ist Stasi-Mitarbeit ein Stigma, politischer Aussatz gleichsam. Hast Du nicht diejenigen gefährdet, die, wie Heinrich Fink, Deine Berufung zum Professor gefördert haben, dazu all die Gruppen, mit denen Du Dich seither eingelassen hast? Wie gehst Du damit um, frage ich, und ich frage gleichsam stellvertretend für solche Gruppen wie die Volksuni, nicht als moralischer Richter. M. wiederholt, der Sache nach seien seine Stasi-Aktivitäten harmlos gewesen. Er war vier Jahre im Hochschul-Ministerium tätig und kann nur sagen, dass nicht nur die drei Ebenen der Macht ineinandergriffen, sondern auch allein auf der staatlichen Ebene des Ministeriums viel bedenklichere Dinge sich abspielten. Im Übrigen habe er sich in dem Moment selbst angezeigt, als er für ein akademisches Amt vorgeschlagen wurde. Wichtig ist für ihn, dass seine eignen Studenten sich keineswegs von ihm abgewandt haben. Er möchte nun seinen Fall exemplarisch vor dem Ehrenausschuss der Universität behandelt haben. Der ASTA war schon bei ihm und wird sich in das Verfahren einmischen. Irgendwie muss die Universität, muss der gesamtdeutsche Staat mit der Stasi-Vergangenheit umzugehen lernen. »Du bist gut beraten«, schärft er mir ein, »wenn Du bei allen einigermaßen interessanten akademischen Intellektuellen jüngeren Alters entsprechende Aktivitäten unterstellst«, und ich beginne zu ahnen, wen er meint, ohne ihn zu nennen. Stattdessen nennt er J., der Ende der siebziger Jahre in Leipzig von der Stasi verhört wurde und dem sie so übel mitspielten, dass er von da an über sein oppositionelles Intellektuellenmilieu an sie berichtete. Sein eigner Fall ist dagegen viel leichter. Er ist überzeugt, der Hochschulminister Meyer habe von seiner Stasi-Aktivität gewusst, als er ihn ernannt hat.
24. November 1990
Im letzten »Freitag« spricht Katja Maurer skeptisch-bewundernd vom genialen Trick, mit dem Gorbatschow seine Umbauvorschläge (Präsidialregierung in einem Föderalstaat), die er vermutlich schon des längeren in der Tasche gehabt habe, just in dem Moment hervorzog, als er selbst verloren schien. Sie stellt es so dar, dass selbst Jelzin und andere Gegner nun wieder auf einmal nur von ihm erwarten würden, die nötigen Maßnahmen zum Durchstehen dieses Winters zu ergreifen.
In derselben Nummer schreibt Thomas Rothschild über seinen »Akt« bei der österreichischen Staatssicherheit und über die Nachteile, die ihm daraus erwachsen sind. Gegen die öffentliche Heuchelei im Zusammenhang mit der Stasi. Gestern Abend eine ungewöhnlich offene, improvisierte, unkonsumistische Fernsehdiskussion, vom NDR in Leipzig organisiert, die sich u.a. damit befasste. Die kluge und humane Trauer der Revolutionäre vom Neuen Forum, die ihre Revolution verloren haben. Sie wissen auch, dass sie nicht die Urheber, sondern die Vollzieher waren.
25. November 1990
Gestern Besuch von Paulin Hountondji, der inzwischen Kultusminister seines Landes geworden ist. Er spricht von einem wilden Antisozialismus. Man schüttet jetzt das Kind mit dem Bade aus. Meine Formulierung, dass nun im Prinzip die Möglichkeit wiedergeöffnet sei, gefällt ihm. Er habe mich seinerzeit benutzen wollen, meine Marx-Interpretation gegen die herrschende ML-Ideologie ausspielend. Jetzt völlig unmöglich, Marx eine Ware, die niemand mehr kauft.
27. November 1990
Seit Sonntagnacht streiken die Reichsbahner; Frigga hatte größte Mühe, von Berlin wegzukommen. In der Berichterstattung ein auffallender Gegensatz zwischen den westlichen und den östlichen Medien. Im Westen wird die Erklärung der Regierung übernommen, aus der man den Eindruck gewinnen muss, bei der Reichsbahn werde im Vergleich zur Bundesbahn ein halb so großes Schienennetz von doppelt so viel Menschen betreut. In Wirklichkeit sind die Belegschaften nicht nur etwa gleich stark (je rund eine Viertelmillion), sondern es werden bei der Reichsbahn die gesamten Produktions- und Reparaturbetriebe mitgeführt, die man bei der Bundesbahn längst privatisiert hat und hier nun eben gleichfalls privatisieren will. Auch wird im Fernsehen verbreitet, die Reichsbahner verdienten eh schon mehr als die andern. Es wird kaum gesagt, dass dieses »Mehr« von Löhnen ausgesagt wird, die maximal 1500 DM betragen. Davon kann eine Familie in diesen Zeiten der Privatisierungen und Preiserhöhungen nicht annähernd normal leben, das ist unter der Armutsgrenze. Ich verstehe, dass es riesige Menschengruppen in der vormaligen DDR gibt, denen es noch schlechter geht. Aber hier hat sich zum allerersten Mal eine große Gruppe gewehrt, hat das angstschlotternde Sich-Anpassen unterbrochen. Man hielt es nicht mehr für möglich. In fast allen anderen Bereichen herrscht seit Monaten das Rette-sich-wer-kann. Nein, der Streik ist ein Glück, ein Zukunftsvitamin, das Beste, was seit den Demonstrationen vom letzten Herbst und den Runden Tischen passiert ist. Er kommt wenige Tage vor der Wahl. Und die Reichsbahn ist die einzige Branche in der vormaligen DDR, die gebraucht wird, deren Betreiber also überhaupt die Macht haben, wirklich zu streiken. Berlin ist jetzt auf dem Schienenweg abgeschnitten, wie seit der Blockade nicht mehr. Noch verkehrt die S-Bahn.
Achtzigtausend sollten fürs Erste entlassen werden, und statt sich zu desolidarisieren, hoffend, es werde andere treffen, haben die Eisenbahner mit 97 Prozent für den Streik gestimmt, also für die kollektive Verteidigung: Die erste Forderung betrifft den Kündigungsschutz, der dem bei der Bundesbahn Üblichen angeglichen werden soll. Das verunmöglicht keineswegs Entlassungen, schützt nur die dienstälteren Kollegen, die auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chance mehr haben. Erst die zweite Forderung gilt dem Lohn und ist sehr maßvoll: hier will man die Hälfte der Bundesbahnlöhne erreichen. Solche Informationen muss man sich mühsam herausfiltern.
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Laut Gorbatschows Vorschlag eines neuen Unionsvertrags wird UdSSR künftig »Union der souveränen Sowjetrepubliken« bedeuten. Das Sozialistische verschwindet aus dem Namen. Der Kongress der Volksdeputierten wird in dem Entwurf nicht erwähnt; daraus schließt Werner Adam ein bisschen sehr schnell, dessen derzeitige Sitzung könne die letzte gewesen sein. Außer Militär- und Außenpolitik soll die Unionsregierung »gemeinsam mit den Republiken die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und die Schaffung von Bedingungen zur Entwicklung eines unionsweiten Marktes auf der Grundlage einer gemeinsamen Währung« betreiben. Ein ungeheuer kompliziertes Mächtegerangel zwischen Republiken und Union zeichnet sich ab. Die Union verfügt noch nicht einmal über einen eigenen Unionsdistrikt wie die USA. Ein Verfassungsgericht soll die Konflikte schlichten. In den USA ist die heutige Struktur aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen. Ob ein neuer Bundesstaat ohne eine derartige Kriegsgeburt zur Welt kommen kann? Aber hier gibt es – vielleicht außer der Armee, deren Belastbarkeit aber höchst ungewiss ist – keinen Akteur, der den Nordstaaten entspräche.