Kitabı oku: «Jahrhundertwende», sayfa 17
14. April 1991
Swetlana Askoldowa sagte immer wieder: Gorbatschow verliert. Die Leute sind verrückt. Sie verändern sich in ihrem Verhalten zueinander. Gorbatschows unsichere Entscheidungen. Keine greift mehr. Laut Swetlana ist Gorbatschows TV-Verantwortlicher, Krawtschenko, aus dem Journalistenverband ausgeschlossen worden.
Später kam Wim Wenders dazu, die Zigarre im Mundwinkel selbst dann noch, als er seinen Borschtsch vor sich hatte. Vor drei Tagen habe ich seinen Film »Hammett« zum zweiten Mal gesehen.
Achim Engelberg erzählte heute von Heinz Pepperle, der seinen Studenten an der Humboldt Universität rät, jetzt für eine ganze Weile immer wieder Heidegger, Hartmann, Husserl und Cassirer zu lesen. – Pepperle wird weiterbeschäftigt.
16. April 1991
Besuch Rolf Heckers von der MEGA. Am Telefon war er über-höflich, auf eine ganz veraltete Weise, als lebten wir im Absolutismus und als ginge es um eine Audienz bei irgendeiner Durchlaucht. Er kam fein krawattiert, ich war in Jeans. Gefiel mir aber doch, einer gewissen Sorgfalt im Sprachgestus wegen, an dem mich, ebenso wie an seinem Mund, etwas an Werner Haberditzl erinnerte. Berichtete Einzelheiten darüber, wie die MEGA-Redakteure kaputtgemacht werden. Vom Arbeitsamt als »Nullkurzarbeiter« bezahlt, dürfen sie den Tag nicht an ihrem Arbeitsplatz im Institut verbringen. Hecker hat die Unterlagen nach Hause genommen. Bei Dietz liegen zwei Bände druckfertig; aber die Produktion wurde gestoppt. Ein Trauerspiel.
Nachdem ich bislang für sie eine Unperson war, soll ich nun ein Darlehen geben, damit die nächsten beiden Ausgaben ihrer Berichte erscheinen können.
17. April 1991
Otto Zonschitz erzählte von der Besprechung beim neuen Kultursenator, ›unserem‹ Ulrich Rohloff-Momin. Die Theatermanufaktur hat so gut wie alle gegen sich. Eine unentrinnbare Konstellation. Das eigene Theater für Otto zur tödlichen Falle geworden. Wie schon einmal vor einem Jahr schlage ich ihm vor, ein Stück mit dem einfachen Titel Gramsci auf die Bühne zu bringen und Flagge zu zeigen, falls denn der Untergang tatsächlich unvermeidbar sein sollte.
19. April 1991
Von Manfred Wekwerth eine Art Hilferuf. Der Expertenbericht zur Neuordnung der Berliner Bühnen enthält fürs Berliner Ensemble den Kernsatz: »Die Tradition Brechts fortsetzen – die Führung des Theaters als Familienbetrieb beenden.« Er schickt einen Artikel mit seinen Überlegungen zur künftigen Theaterpraxis des BE, den er vor einem Jahr geschrieben hat und der, wie er schreibt, »leider von niemand beachtet worden, also auch nicht veröffentlicht« ist. Er will ihn im Argument veröffentlichen, um es der »Inquisition nicht so leicht zu machen«. Ich finde den Artikel gut, und Frigga veranlasst, dass er noch ins laufende Heft kommt, dass also ein anderer Artikel in letzter Minute wieder herausgenommen wird.
Die derzeitige Lage tut auf bedrückende Weise gleichsam wichtig mit uns. So viele wenden sich jetzt an uns um Hilfe. Frigga fand heute sogar, Argument wäre der richtige Verlag, um die MEGA fortzuführen.
20. April 1991
In der Prawda soll G mit dem »gütigen« Zar Alexander II. verglichen worden sein, der als liberaler Reformer freiwillig auf einen Teil seiner Macht verzichtet hat und schließlich umgebracht wurde.
Wendezeitgeist. – Im FAZ-Feuilleton kriegt Antje Vollmer drei Spalten, wo sie den »Abschied von einem Traum von Gerechtigkeit durch Gleichheit, der in Wirklichkeit immer missionarische oder totalitäre Züge trug«, ausruft: »Abschied vom sozialdemokratischen Jahrhundert«. Die Grünen als »Spürhunde« der großen neuen Themen, als Laboratorium, dem die großen Parteien ihre Ideen entnommen haben. Die grüne Partei »stellt sich zunehmend als ein Epochenprojekt zur ›Abwicklung‹ alter Ideologien […] dar«. Sonderbare Vorstellung von Politik, die »Abwicklung« ins Wappen der Grünen zu schreiben. Ernst Nolte kriegt Zucker für sein Hochhalten des Nationalen und die Wiederentdeckung des Bürgers. Ich habe den Eindruck, das Bürgertum will Antje, die jetzt aussichtsreich für den Vorsitz der Grünen kandidiert, benutzen, um die PDS wegzukriegen. Oder wäre es so, dass die Rechtswendung der Grünen den Linken nichts anderes übriglässt als die PDS zu wählen?
Otto Zonschitz lud uns gestern in eine Vorstellung des Wiener Jura-Soyfer-Theaters: »Astoria«, inszeniert von Ilse Scheer. Eine Entdeckung! Hašek und Brecht lassen grüßen, ein aufklärerischer Jux mit dem Staat. Weiß aber nichts von einer hintergründigen Dialektik von notwendiger Utopie und Staat, liefert indes, wenngleich verständnislos, die Anschauung dazu.
Die Theatermanufaktur in verzweifelter Situation. Angesichts der Hoffnungslosigkeit hat Zonschitz, gegen seinen ursprünglichen Vorsatz, von dem Gramsci-Projekt erzählt. Die Idee zündete sofort, nun ist es beschlossen.
21. April 1991
Gestern Abend von Tabori »Weißmann und Rotgesicht«. FH hält das für ein Randgruppenstück bzw. eines über Verlierer, weil ein Jude, seine spastische Tochter und ein Indianer die Akteure sind. Ich finde das Stück absurdistisch.
Situation: in der Irre, in der Wüste, unterm wartenden Geier. Aber es gibt einen Ausweg auf dem Muli, und am Schluss reitet der Indianer mit dem Mädchen davon (freilich in eine Welt, von der wir spüren, dass sie nur die Verlängerung dieser Szene sein wird).
Konstellation: der Indianer, der ein Weißer sein will und die Juden hasst; der Jude, der die Asche seiner verstorbenen Frau (versprochenermaßen und blödsinnigerweise) nach New York bringen und dort in einem Park verstreuen will (nicht ganz blödsinnigerweise, weil die Verstorbene dort kurzzeitig glücklich war, mit einem andern); das Mädchen, das einen Mann will, aber eine Pflegerin braucht, sodass bisher kein Mann sie wollte.
Handlung: Agon zwischen dem Juden und dem Indianer; die Spastikerin als Schiedsrichterin und Prämie in einer Person. Erinnert an Brechts Dickicht der Städte. Gekämpft wird nach der Regel, wer verliert, gewinnt. Gottlose Frömmigkeiten. Ein Endspiel ohne die Konsequenz und Geometrie des beckettschen. In dieser Wüste gibt es Wasser. Macht den Eindruck des witzig Hingekitschten. Das Material nicht richtig verwendet.
Lustprämien: Blasphemie, Sexvokabular, aber ohne Spaß. Was alles Sagbar wird. Projektionsfläche (nicht Identifikationsfiguren): in kosmischer Ausgesetztheit konfrontiert mit dem, was »letztlich« jeder allein angehen muss. Letztlichkeit (das Ultimative des Daseins). Momente der Wahrheit, zugleich saurer Kitsch: Ontologisierung durch Vermittlungslosigkeit. Und alles das auch wieder nicht. Aufgeweichter Beckett, konsumierbar – längst Rezeptions- und Geschwätzgewohnheiten.
Henning Schaller, von dem das Bühnenbild stammt, erkannte mich nicht wieder. Er hatte die Veranstaltung im Friedrichstadtpalast vom Dezember 1989 geleitet.
Dario Fos Lieblingszitat: »Wenn du nicht weißt, woher du kommst, wirst du schwerlich verstehen, wohin du gehen wirst.« (Gramsci) Fo!
22. April 1991
Die Friedrichstadt-Passage soll abgerissen werden. »Wenn 1,4 Milliarden Mark auf teurem Grund investiert werden sollen, sind 85 Mio Mark Gebäudewert und 25 Mio Mark Abrisskosten nur ein untergeordneter Posten in der Kalkulation.« (FAZ) – Herrensprache.
23. April 1991
Die Sojusgruppe forderte am Wochenende Ausnahmezustand mit Parteien- und Streikverbot, widrigenfalls soll Gorbatschow abgesetzt werden. Aber inzwischen weiten die Streiks sich aus. Für heute ist ein Generalstreik in Weißrussland angekündigt, mit Gorbatschows Rücktritt als Streikforderung. Die Leute sollen nur mehr lachen beim Namen G, und zwar böse. So habe ich selbst es schon vor einem Jahr auf dem Polizeirevier des Arbat gespürt.
Kohl, der große Vereinigungskanzler, zahlt jetzt die Rechnung, die Lafontaine verfrüht präsentiert hatte. Die Sozialdemokraten reden von Regierungswechsel.
24. April 1991
Wechselbalg-Waren. – Als Indikator für die Fäulnis der sowjetischen Gesellschaft berichtet Kerstin Holm (keine unverdächtige Zeugin), dass es auf einem Moskauer Markt kaputte Glühbirnen zu kaufen gibt, das Stück zu 1 Rubel, deren »Gebrauchswert« darin besteht, dass man sie am Arbeitsplatz in eine Lampe schraubt und die funktionierende mitgehen lässt.
Der schlingernde und schwindende Gorbatschow hat wieder einmal einen Kompromiss schließen können: sein Antikrisenplan ist, mit Zugeständnissen versehen, von acht Republikchefs, darunter Jelzin, unterzeichnet worden. Noch immer beim Umstellen von der Befehlsadministration auf eher horizontale Vereinbarungen, die von beidseitigem Vorteil sind. Marx war zu schnell mit seinem Spott über Bentham. Gewiss fangen nun alle Probleme des Marktes wieder von vorne an, aber die Probleme der Despotie lauerten im blinden Fleck von Marx, dem Wie einer nicht marktförmigen großräumigen Vergesellschaftung der Produktion.
Merkwürdigerweise stiegen zur Zeit des Anschlusses der DDR die deutschen Auslandsinvestitionen, während ausländische Investitionen in Deutschland sanken. An der DDR wurde verdient, aber (noch) nicht dort investiert. Die Vorbereitungen für den »gemeinsamen Markt« gingen vor. Ende 1989 waren es 185 Mrd DM Direktinvestitionen westdeutscher Unternehmen im Ausland, vor allem in Frankreich und Großbritannien. In Osteuropa 1/2 Mrd. Europäisches Kapital übertraf erstmals mit 45 Mrd DM das amerikanische (40 Mrd DM).
In der FAZ schimpft Barbier auf die FDP, die, wohl als Reaktion auf den politischen Gegenwind, den Ausdruck »soziale Offenheit« in ihre Phraseologie aufgenommen hat: »Die Botschaft einer liberalen Partei müsste doch lauten: ›Nichts sichert das Soziale so sehr wie eine marktwirtschaftliche Politik.‹ Nur für diese Botschaft wird die FDP auf Dauer gebraucht.« – Ob »soziale Offenheit« ein Wink an die SPD ist, also die Koalitionsfrage mit dieser aufmacht?
Kohl, der Sieger von 1989/90, sieht nicht mehr gut aus. Im Osten wirkt der kapitalistische Marktkult verheerend. In der FAZ dekretiert diese Ideologie heute: »Im Vergleich zu Westdeutschland werden in den neuen Bundesländern zu viele Menschen beschäftigt.« Sartres Zuvielsein kriegt Bedeutungszuwachs. Dabei wird mitgeteilt, dass die Zahl der Erwerbstätigen in der ehemaligen DDR vom ersten Quartal 89 bis Ende 90 um 1,7 Mio zurückgegangen ist. Könnte es sein, dass dieses »Verschwinden« von Arbeitsbevölkerung bereits aus den Arbeitslosenzahlen herausgerechnet ist? Der Durchschnittsbruttolohn lag Ende 90 bei 1357 DM oder bei knapp 37 Prozent des westdeutschen. Die Produktivität wird mit 28,5 Prozent der westdeutschen angegeben.
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Gestern die Überarbeitung des Sartre-Buchs abgeschlossen. Nur das neue Vorwort steht noch aus. Es müsste gelingen, die Weise zu bestimmen, wie der Absurdismus in die geistige Situation nach dem Zusammenbruch des Sozialismus neu eingeschrieben ist. Wenn es keine Alternative (oder keinen Glauben an eine mögliche Alternative) mehr gibt, dann sind viele dagegen, ohne ändern zu wollen. Muss nicht das wie ein Generator des Absurden wirken?
26. April 1991
Gestern und heute mit Gerhard Scheumann einen Aufruf »Rettet die MEGA« besprochen und schließlich geschrieben. Scheumann, der als »Schnauze des Regimes« abgestempelt wird, deshalb letztes Jahr aus der PDS ausgetreten ist und auch das Kapitel Film in seinem Leben beendet hat, ein Musterbeispiel freigesetzter Kraft. Von ihm lerne ich, dass die DDR-spezifischen Anoraks, neben den Jeans die wahre Volkskleidung, »Frischhaltebeutel« genannt wurden.
Unser Kultursenator Rohloff soll Wekwerth zum Rücktritt von der Intendanz des BE aufgefordert haben. Der aber widersetzt sich, schon weil er dann nicht einmal Arbeitslosengeld kriegen würde. Wekwerth inszeniert übrigens gerade den Schwejk. Bin neugierig darauf.
Vor einigen Tagen habe ich gehört, dass Ehrenfried Galander, der einen Teil der ökonomischen Manuskripte im Rahmen der MEGA betreute, jetzt Gebrauchtwagenhändler ist. Es verschlägt mir die Sprache. Klaus Schulte, der mich heute besuchte, rechnet damit, dass die vorenthaltene machbare Verarbeitung von Geschichte und Zusammenbruch des Sozialismus durch seine bisherigen Träger »fürchterliche Spätfolgen haben wird, moralische Schäden größten Ausmaßes«.
27. April 1991
Im Septemberheft 1989 von »Sinn & Form« eine Rede Werner Mittenzweis auf Jürgen Kuczynski lesend, finde ich lauter Eigenschaften als notwendig gelobt, die mir abgehen: sich beim Schreiben von Büchern nie in Klausur begeben, Kritik richtig dosieren, sich nie ins Abseits drängen lassen.
2. Mai 1991
Vor der Vereinigung hat eine öffentliche Diskussion Biedenkopfs mit DDR-Intellektuellen stattgefunden, eingeleitet von Christa Wolf. »Sinn und Form« hat eine schriftliche Fassung abgedruckt, die sich rückblickend fast wie eine Anhörung liest, durch die Konsens für eine politische Kandidatur beschafft wird. Ich lese sie zur Vorbereitung eines Referats bei der PDS.
Biedenkopf erklärt, »eine elementare Bedingung […] der Existenz menschlicher Gesellschaft, nämlich ihre Zukunftsfähigkeit, [ist] selbst zur Utopie geworden«, nachdem er im Satz zuvor die »Notwendigkeit utopischer Zielvorgabe« betont hat. Geben wir also, mag er sich sagen, den Leuten als »utopisches Ziel« ihr Überleben vor. Da ist die Utopie in sich selbst zurückgefesselt, vom Guten Leben aufs Leben schlechthin. Der Konsumismus wie eine Katastrophe, die man den Vielen doppelt vorhält: ihr Verlangen nach Gütern wird ihnen als Treibsatz der Katastrophe erklärt, und ihr Verlangen nach Mitbestimmung als das, was die Rettung blockiert. »Eine Hauptursache fand ich in der Schwierigkeit, unter demokratischen Bedingungen in bestehende Besitzstände einzugreifen.«
Solche Diskurse sprechen zumal durch ihr Schweigen. Dieser verlangt stillschweigend undemokratische Bedingungen, um auf eine nachhaltigere Wirtschaftsweise umsteigen zu können. Dabei war es doch gerade eine Blockierung realer Demokratie, die in der Geschichte der BRD wie in anderen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften überschüssige Energien in den quantitativen Verteilungskampf umlenkte.
Die enorme Dynamik entsteht aus der Überlagerung zweier Dynamiken: der des kapitalistischen, über den Weltmarkt vermittelten Mechanismus und der politischen der Konsensbeschaffung durch Klassenkompromisse, wobei bis 1989 der Kompromissdruck auf die Kapitalseite durch die Systemkonkurrenz verstärkt wurde.
Das schwarze Loch in Biedenkopfs Diskurs ist der Kapitalismus, der gegenwärtig, auf hochtechnologischem Produktivkräfteniveau, die Organisationsform des transnationalen Kapitalismus angenommen hat. »Weltmarkt« hat unter diesen Bedingungen eine neue Stellung bekommen. Er ist nicht mehr nur gleichsam der Zwischenraum nationaler Volkswirtschaften, sondern diese sind zu bedrängten Nischen in ihm herabgesunken. In diesem Prozess hat u.a. auch die DDR ihre ökonomische Basis in Gestalt ihrer Akkumulationsfähigkeit verloren, lange vor dem Verlust ihrer staatlichen Existenz.
Biedenkopf kennt nur mehr soziale Marktwirtschaft, deren staatlich vermittelten Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital er im Sinne der Sozialbindung des Eigentums als »normative Durchdringung des Ganzen« fasst. »Das unterscheidet die Marktwirtschaft vom Kapitalismus«. Sie beruhe darauf, »dass eine Koordination der gesellschaftlichen Subjekte untereinander im Rahmen bestimmter Spielregeln wesentlich leistungsfähiger ist als die Planung weniger für viele«.
Wo Biedenkopf diese Leistungsfähigkeit konkretisiert, spricht er auf einmal doch von Kapitalismus, und sagt, in diesem würden »wie im Sozialismus« die Bedürfnisse als »grenzenlos« definiert, und im Ziel gebe es »zwischen den beiden Systemen keinen Unterschied«: »Die Steigerung selbst ist das Ziel.« In der Steigerung aber, der Akkumulation, erwies der Kapitalismus sich als leistungsfähiger.
Das scheint im Resultat zu stimmen, und doch kann man die Erklärung so nicht stehen lassen, denn die »Akkumulation um der Akkumulation willen« (Marx) ist die systemische Bewegungsform des Kapitalismus; in jeder Spielart von Sozialismus würde sie als Widersinn wirken. Von Kapitalismus ist also nur dort die Rede, wo seine Überlegenheit behauptet wird.
Infolge dieser Diskursstrategie werden die unleugbaren Effekte der Grundmechanismen des Kapitalismus nie anders als geistig hergeleitet. Und Biedenkopf sieht diese Effekte! Das verselbständigte exponentielle Wachstum des westlichen Akkumulationstyps zerstört jedes Gleichgewicht, sagt er. Er spricht sogar die – für west-ideologische Ohren – Ungeheuerlichkeit aus, dass in der gegebenen Weltwirtschaftsordnung »die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden«, dass das hegemoniale Muster dieser Ordnung »nicht verallgemeinerungsfähig« ist und folglich die Menschenrechte im Verhältnis der Akkumulationszentren zu ihren Armutsperipherien ad absurdum führt (1046f).
So ist es nicht weniger als ein Untergangszenario, was er entwirft. Und wieder fällt seine Erklärung, mit Brecht zu reden, »nie unter ein geistiges Niveau hinunter«, weil er die herrschenden Interessen ungeschoren lässt. Die Katastrophe der Menschheit erfolge unterm »Einfluss von Aufklärung und Industrialisierung« (1038). Mit andern Worten: »Eine wesentliche Ursache für diesen scheinbaren Zwang zum exponentiellen Wachstum sehe ich im Zusammenwirken von technisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung, Säkularisation und modernem wissenschaftlichem Denken.« (1041) Keine Rede von der Jagd nach Profit und Extraprofit; auch nicht davon, dass den Profitjägern ihrerseits Krisengefahren und Untergangsdrohung im Nacken sitzen. Die kapitalistische Akkumulation ist grenzenlos; wo ihre Resultate, vor allem in Gestalt der Überproduktion von Kapital, ihr selbst zur Grenze werden, stürzt sie die Wirtschaft in die Krise. Militärkeynesianismus (mit und ohne Krieg) und andere Formen der Kapitalzerstörung bilden Standardauswege. Technologie und Wissenschaft sind Material solcher Prozesse, nicht das Maßgebende.
Biedenkopf scheint zu vergessen, dass die faktisch zur Geltung kommenden »Bedürfnisse« nicht Ausgangspunkt sind, sondern Resultat eines Prozesses von Versagungen und Kompensationen. Sieht er denn nicht die systembedingte Abdrängung des menschlichen Wesens ins Konsumtive, weg aus Kommunikation und sozialer Gestaltung, bei gleichzeitiger »Monetarisierung« der Bedürfnisbefriedigung und kulturbildender Macht der Warenästhetik? Was die vermeintliche Unheilsrolle der Erkenntnis betrifft, stößt Biedenkopf immerhin auf die »Frage der gesellschaftlichen Verwertung des Wissens«. Schreckt aber sofort zurück vor dem Unaussprechlichen, der kapitalistischen Produktionsweise, deren Mechanismen, Instanzenspiel und Kräfteverhältnisse den Ausschlag geben. Bemüht, sich wechselseitig den Schwarzen Peter der Arbeitslosigkeit und der Strukturkrise zuzuschieben, überstürzen die nationalen Regierungen unter dem Deckwort der Modernisierung die kapitalistische Binnen-Ökonomisierung, die eine ins Gigantische wachsende Außen-Verschwendung mit sich führt. Auf den Ruf, »die Japaner kommen«, reagieren sie mit dem Niederreißen kultureller Schranken. Biedenkopf weiß das und muss sich das Wissen zugleich verbieten.
Der vom wirklichen Kapital schweigt, beschwört metaphorisch das »ökologische ›Kapital‹, das die Erde angesammelt hat, vor allem das Energiekapital, und unsere Unfähigkeit, dem Verzehr dieses Kapitals zu widerstehen« (1044).
Wie die Marktwirtschaft funktioniert, müsse man ebenso wenig begreifen, wie die Funktionsweise eines Rechners oder Fernsehers. Es genüge zu wissen, dass sie funktionieren.
Vollends hübsch: »Wozu braucht man Eigentum? Das ist eine der kompliziertesten Fragen, die es gibt. […] Man weiß nicht, wie es funktioniert, aber man weiß, was man damit machen muss.« (1055).
Missionar, der kontrafaktisch von einem Wunder redet, das nicht eintritt. Dies ist die wirkliche Utopie, die er den DDR-Bewohnern gibt. Unerklärlichkeit der Marktwirtschaft, des Eigentums, Bewusstlosigkeit der darin Befangenen (Marx: »Sie tun es, aber sie wissen es nicht.«), Glaube an ihr Funktionieren.
Es bedarf einer Sprache, um das Schweigen zu brechen, auf dem dieser Diskurs beruht. Diese Sprache, die sich den Sachen selbst anmisst und in der sich die bis gestern Verstaatlichungsgeschädigten und nun Privatisierungsgeschädigten über eine Analyse der Verhältnisse und solidarische Alternativen verständigen können, wird künftigem kritischen Denken seinen Atem geben. Nostalgie wäre tödlich, Eschatologie verlöre den Boden unter den Füßen. Kritik und Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit, in der wir heute leben (dämmernd oder dahintaumelnd oder unseren Chancen der Selbstverwirklichung nachstrebend), die theoretischen Denkmittel neu aneignend und durch den Filter einer radikalen Kritik am befehlsadministrativen Regime treibend, legen den Boden frei für Solidarität und alternative Handlungsfähigkeit. Im Praktisch-Politischen schließt eine solche Kritik Berührungspunkte mit einer aufgeklärt konservativen Politik wie der eines Kurt Biedenkopfs nicht aus. Es gibt heute keine Alternative zu sozial-ökologischem Reformismus. Wie dieser aussehen kann, darum wird zu ringen sein. Verträgt sich Reformismus mit marxistischem Denken? Dies wird auszuprobieren sein. So viel scheint klar: Das Denken wird nichts wert sein, wo es keine Politik erhellt; und der Reformismus wird versacken im Filz, wo er den klaren Blick einbüßt, den nur eine im Ernst kritische Theorie dieser Gesellschaft scharfzuhalten erlaubt.