Kitabı oku: «Jahrhundertwende», sayfa 18
3. Mai 1991
Helmut Gollwitzer am Telefon: »Ich will nicht mehr leben. Ich kann ohne Brigitte nicht leben. Das hat sich nun herausgestellt.« – Plötzlich der unendliche Schmerz.
6. Mai 1991
Die letzten beiden Tage im PDS-Milieu verbracht. Gastvortrag auf der Programmkonferenz. Das Übergewicht der Rentner. Das gebrochene Selbstbewusstsein. Der ehemalige Philosophieprofessor von der Humboldt-Universität, der sich mir gleich zweimal hinter einander als »abgehalfterter Philosoph« vorstellt. Seelsorge notwendig. Aber mit meinen Ideen von einem Neuanfang komme ich mir exotisch vor.
Abends bei einer Marx-Geburtstagsfeier des »Anti-Eiszeit-Komitees«, nominell wie vor einem Jahr, aber real welch ein Unterschied! Gysi erscheint nicht, ebenso wenig Altvater. Eine Psychologin, Martina Schönebeck, springt für den angekündigten Hans-Joachim Maaz (»Gefühlsstau«) ein, aus dem Publikum wird Käthe Reichel hochapplaudiert. Immerhin sitzt neben mir Ilsegret Fink, eine vorzügliche Pastorin, Heinrich Finks Frau, mit der ich die historisch-staatlichen Persiflagen vergleiche, die sich auf Christus bzw. auf Marx berufen. Sonst eine immer wieder versackende Diskussion. Es überwiegt das Bedürfnis, die derzeitige Misere auszudrücken, ja dem verlorenen Schutz nachzutrauern. Käthe Reichelt, die so oft gute Texte gut gesprochen und gespielt hat, verblüffte mich damit, welchen hilflosen Text sie nun mit der gleichen Leidenschaft vortrug. Sie sprach aus der geistigen Welt des Erich Honecker, eine Armenpolitik, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, und ich sagte ihr das. Nachher war sie plötzlich weg, und ich bereute, nicht noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.
Übrigens soll die Ost-CDU jetzt für ehemalige SED-Mitglieder geöffnet werden.
In der FAZ ein Bericht von Petra Kolonko aus Pjöngjang, worin ich einiges aus meiner Erinnerung wiederfinde. Aber fahrlässig und bewusstlos eingenommene Imperialperspektive. Und Kolonko muss übertreiben: »Schulkinder sieht man in Pjöngjang gruppenweise im Stechschritt durch die Straßen laufen und dabei Marschlieder singen.« – Sie sollte mal selber den Stechschritt üben, um den Unterschied zu merken.
Anscheinend geht der Umbau der SU weiter und zwar mehr in Richtung auf einen Staatenbund als auf einen Bundesstaat. G wie ein vielseitig belagerter Moderator des Prozesses. Russland (und damit Jelzin) kriegt nun als Lohn fürs Einschwenken auf einen Kompromisskurs einen eignen Geheimdienst. Schewardnadse gibt G noch drei Monate. Entweder gelingt bis dahin die Weichenstellung für eine Rekonstruktion des gesellschaftlichen Lebens – oder G muss abtreten.
7. Mai 1991
Versprecher, den ich bei der Marx-Diskussion in der Humboldt-Universität aufschnappte: »die früheren Menschen der DDR«. Vielleicht gewollt, jedenfalls kennzeichnend für eine Stimmung.
8. Mai 1991
Michael Stürmers FAZ-Leitartikel ist »Der Kreml nach dem Golf« überschrieben, meint aber »Der Kreml nach Gorbatschow«. Der Historiker benützt bereits den raunenden Imperfekt des Erzählers: »Die erste Perestrojka kam, einschließlich Michael Gorbatschow, aus der Einsicht, dass ohne durchgreifende Modernisierung von Staat und Gesellschaft die Sowjetunion als Weltmacht abdanken müsse.« Hat die SU den Golfkrieg verloren? Ja, sagt Stürmer, mit »ihrer Technik von gestern« und ihrem Versuch, mittels eines diplomatischen Kompromisses den Krieg zu verhindern. Kurz, der Golfkrieg ist den Russen und diese sind der Welt damit auch vor-geführt worden, um zu zeigen, wer der Herr ist. Stürmer gibt sogar zu verstehen, das Abkommen zur deutschen Einheit sei vom Obersten Sowjet nur deshalb ratifiziert worden. Die BRD hat den Krieg gewonnen, auch diesen. Das Ganze läuft auf die Prognose hinaus, die militärische Niederlage werde, wie immer in der russischen Geschichte, »noch einmal in die Modernisierung von oben führen«.
13. Mai 1991
Gestern im Gorki-Theater »Mein Kampf« von Tabori. Unterhaltend, weil oft witzig und manchmal anrührend. Aber Tiefeleien ohne Tiefe; der Nazismus als Quatsch aus dem Männerasyl. Endlich Lösung vom Makel, der etwa noch am Kapitalismus haftete. Und fürs heutige Israel hochbequem, weil Juden als gewaltfreie Erben der Weisheit der Völker. »Schuhplattler zu Donner«. Großartig gespieltes – Studentenkabarett.
Nach der Vorstellung trafen wir uns mit Ernst Schumacher in der Kantine. Er beschwor uns, irgendetwas zu tun für die DDR-Intelligenz, der man jetzt ihre Renten unter die Armutsgrenze drücken will. Sie haben den Kalten Krieg verloren.
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Zu meiner Verwunderung hat Dieter Claessens mir einen Korb erteilt, als ich ihn um Unterzeichung des Aufrufs für die MEGA anging. Er habe die MEGA nie in die Hand genommen und werde es auch künftig nicht tun. – Merkwürdig private Einstellung zu einem gewaltigen Stück theoretischer Weltliteratur.
14. Mai 1991
Von einer »reaktionären Wende« Gorbatschows spricht der Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOST), Heinrich Vogel. Das ist die Perspektive jenes fiebernden und widersprüchlichen Gemischs, das sich rechts von sozialistischen Reformperspektiven formiert hat. Hinter der vermeintlichen »Wende« Gorbatschows verbirgt sich dessen Verlust der Balance. Das zentristische Spielen mit und zwischen rivalisierenden Kräften war irgendwann zu Ende. Vogel hält eine Konsolidierung der Umgestaltung für unmöglich.
16. Mai 1991
Leonid Luks, Chef der Osteuroparedaktion der »Deutschen Welle« erklärt in der FAZ (»Droht der Sowjetunion ein Bürgerkrieg?«) Gorbatschows »Inkonsequenz« zum »Geheimnis seines Machterhalts, seiner Verwandlung in einen eigenständigen politischen Faktor, ja in eine Institution«. Dem liege »das labile Gleichgewicht« ganz heterogener Kräfte zugrunde, die nicht mit einander können und deren keine stark genug ist, die andere unterzukriegen: Gorbatschow der »Puffer«. Stärken und Schwächen sind demnach kontrapunktisch verteilt: die KPdSU und ihr Apparat halten effektive Verwaltungsmacht, aber kaum nennenswerte Konsensmacht (nur noch 6 Prozent sollen sie stützen); die »Demokraten« sind insofern Erben der Dissidenten, als sie den Massen misstrauen, eine These, der Jelzins Populismus zu widersprechen scheint. Jede der antagonistischen Formationen hält laut Luks die Perestrojka von ihrem Standpunkt für gescheitert. Die Krise des Landes scheint dem recht zu geben. »Das zerfallende Kommandosystem und die im Entstehen begriffene zivile Gesellschaft funktionieren nach völlig unterschiedlichen Mustern und lähmen sich gegenseitig.« Aber man solle sich vom »immer weiter voranschreitenden Zerfall der wirtschaftlichen und politischen Mechanismen« nicht täuschen lassen: »Dennoch handelt es sich hier wohl um ein schöpferisches Chaos, in dem sich die Verwandlung der sowjetischen Gesellschaft von einem Objekt in ein Subjekt der Geschichte vollzieht.«
Ich stelle mir vor, wie Georg Fülberth höhnen würde, wüsste er, dass ich die Dinge nicht in jeder Hinsicht anders sehe. Aber kann es noch die sowjetische multinationale Gesellschaft sein? Kann es sie überhaupt geben, nachdem sie als solche im befehlsadministrativen System keine Rolle eigenen Rechts spielte?
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Einen Packen Theaterkritiken zu Zonschitz’ Aufführung der Schatten gelesen. Totschlag mit Worten. Ich wundere mich, dass Otto das überlebt. Roland Wiegenstein vom WDR von allen der Fahrlässigste. Widerwärtig. Insgesamt muss, da wohl keine Verschwörung, ein struktureller Effekt vorliegen, den ich nicht begreife. Es muss etwas mit der Gesamtsituation der Theater in dieser Doppelstadt zu tun haben, wobei sich das Unheil ausgerechnet über der Theatermanufaktur entlädt, die das Pech hat, in dem Haus zu spielen, aus dem die Schaubühne!! hervorgegangen ist.
Detlev Albers äußert sich »entsetzt« über Friggas Beitrag zur Situation der Linken im vereinten Deutschland in der Märznummer von »Z«; er habe daran gemerkt, »in welch verschiedenen Welten wir inzwischen leben«. Ich rätsle, was den Anstoß gegeben haben könnte. Ist es, weil Frigga den westdeutschen Linken nahelegt, »sich mit den verbleibenden Linken aus der ehemaligen DDR zu verbinden«? Ich merke daran, dass die Sozialdemokratie sich weiter nach rechts bewegt haben muss.
17. Mai 1991
In der SU Zeichen der Politikfähigkeit, wieder auf Grundlage der sich zusammensetzenden Republikführungen unter Moderation von Gorbatschow: 13 von 15 Präsidenten haben sich mit der Sowjetregierung auf ein Antikrisenprogramm geeinigt. Georgien und Estland blieben weg. In den USA soll sich Schewardnadse für die Einschaltung der UNO zur Beilegung regionaler Konflikte in der SU ausgesprochen haben.
Kathrin am Telefon: ist glücklich, die Russischprüfung mit drei bestanden zu haben, war einen Monat »krankgeschrieben«, kommt jetzt nach Berlin und – ich falle aus allen Wolken, wie ich das höre – beabsichtigt eigentlich nicht, zur Volksuniversität zu kommen, weil sie vormittags schlafen muss, nachmittags nicht so recht weiß. Ich finde das ›vollkommen unmöglich‹, wie man so schön kontrafaktisch sagt. Banges Vorgefühl, ob die VU in Ostberlin ankommt. Das Risiko scheint größer als gedacht.
21. Mai 1991
Der Jurist Friedrich-Christian Schroeder von der Universität Regensburg verlangt in der FAZ, die PDS für Umweltschäden in der vormaligen DDR haftbar zu machen. Will auf Enteignung hinaus. Merkwürdig das Eventualargument, »dass die PDS illegale Ersatzorganisation einer verbotenen Partei« sei. Phantasiert er ein Verbot herbei? Das von ihm aufgemachte Schadensbild lässt sich auf jede Regierungspartei einer Industriegesellschaft anwenden. Die Begründung der Schäden im einzelnen nach der Logik des Hexenhammers. Ausgerechnet die SED mit ihrem Erbepathos soll die historische Vergangenheit auszulöschen versucht haben. Dass vieles abgerissen wurde, steht auf einem andern Blatt. Von vielen westdeutschen Städten weiß man, dass die Bomben des Zweiten Weltkriegs nicht so viel an alter Stadtsubstanz zerstört haben wie die »Sanierungen« der Wohlstandsjahre. Und sind in der BRD etwa nicht auch »schwerste Umweltschäden eingetreten«? Müssen die Regierungsparteien fürs Waldsterben aufkommen? Schroeder argumentiert mit der Generalkompetenz des Politbüros, das über der Regierung stand. Das ist tatsächlich ein gewaltiger struktureller Unterschied zur bundesdeutschen Machtstruktur. Aber man kann dieses Faktum (und viele haben das getan) auch als Verstaatlichung der Partei auslegen. Nicht die Partei regierte, sondern in der Partei wurde regiert. Der beherrschte Staat beherrschte die Partei. Er war in der Partei wiedergekehrt. Schroeder ruft nun nach Prozessen gegen die PDS, in denen irgendwie Geschädigte Schadensersatz einklagen. Er verheißt Finanzierung ihrer Prozesskosten.
22. Mai 1991
Kathrin erschien tatsächlich nur kurzzeitig, ihr Freund überhaupt nicht, er wollte Fallschirmspringern zusehen. Aber die VU »kam an« in Ostberlin. Von mir habe ich freilich (wie zumeist) das Gefühl, dem historischen Moment nicht genügt zu haben, ein alterndes Füllen, stets bereit, loszusprengen, natürlich nicht in irgendeine Richtung, sondern schon in eine der »richtigen«, aber einseitig: wenn ich die Suppe fad finde, würze ich sie, das sieht dann für manche so aus, als böte ich Würze statt Suppe.
Reinhart Mocek fragte nach dem »Gedankensystem« von Marx (fragte also unverändert marxistisch-leninistisch. Ohne Rede von der historischen Mission der Arbeiterklasse sei Marxismus oder auch nur marxistische Theorie sinnlos. Er hat Brechts vernichtende Kritik an dieser Figur nie zur Kenntnis genommen. Seine weiteren Kriterien sind: Geschichtsgesetze, Materialismus, Dialektik (letztere sieht er in Selbstorganisations-Forschung weiterverfolgt). Die Diskussionsanordnung erlaubt keine Bearbeitung der von Mocek genannten Fragen. Mir fehlt es an gesammeltem Überblick und kalkulierter Argumentation. Ich lege los bei Agnolis (Mocek nennt ihn Avinieri) Kriterien der Absage an Rechtsstaat und Markt und Stamms kulturrevolutionärem (intellektuellenfeindlichem) Gestus.
Mocek sieht blass und fast verhärmt aus, anders als noch in Frankfurt. Wir Westmarxisten seien »auf dem besseren Pferd«. Er unterscheidet mit gewissem Recht den »Popular-ML« vom wissenschaftlichen. In den akademischen Institutionen habe es kein Nachplappern gegeben. Habermas hat sich jetzt erinnert, bei seinem Besuch in Halle (auf Einladung Moceks) sei Erich Hahn als Aufpasser dabeigesessen; in Wirklichkeit habe Habermas darum gebeten, weil es um eine gemeinsame Veranstaltung beim Weltphilosophenkongress ging.
Jan Vogeler, auf den ich mich gefreut hatte, entpuppte sich als wahre Kongressplage. Zog von Veranstaltung zu Veranstaltung mit immer derselben Litanei. Die ersten beiden Male hörte man sie noch wohlwollend an, bis man begriff, dass seine rituell wiederholte Versicherung, er sei ein sowjetischer Kommunist, gekommen um zu lernen, die Tatsache maskierte, dass er überhaupt nicht zuhörte und schon gar nicht lernte. Am schlimmsten sein Auftritt beim Perestrojka-Workshop des letzten Tages, wo er nicht nur seinen unthematischen Sermon endlos wiederholte, sondern auch noch alle übrigen gröblich missverstand. Als ich Michael Stürmer zitiert hatte, hielt er mich für dessen Anwalt. Eine dumme Propagiererei, totalitär, aber nun als angestrengte Zahnlosigkeit. Ein Jesuit einer Revolution, die es nicht mehr gibt. Seine Wirklichkeitsbehauptungen: Dreiviertel der sowjetischen Bevölkerung stehen unerschütterlich hinter Gorbatschow; in Moskau sind die Geschäfte leer, die Kühlschränke aber voll – und zwar für sechs Monate im Voraus. G habe niemals von sozialistischer Marktwirtschaft gesprochen, immer nur von Marktwirtschaft sans phrase. Ich schließe daraus auf eine neuerliche Wende, die in der alten Struktur erfolgt und daher ihr Immer-Schon hinter sich wirft und so als Erbin der ideologischen Ewigkeit auftritt. – Eigentlich war er für gestern Abend auf Besuch bei mir angesagt, blieb aber zu meiner Erleichterung ohne Entschuldigung aus.
Hans Mottek scheint nun der ›chinesischen Variante‹ den Vorzug zu geben.
26. Mai 1991
Vor drei Tagen ist in Leningrad eine Börse aufgemacht worden. Am ersten Tag soll es zu 150 Transaktionen im Wert von rund 50 Mio Rubel gekommen sein. Unklar, was da umgesetzt wurde. Im Juni soll darüber abgestimmt werden, ob Leningrad in St. Petersburg rückbenannt wird.
28. Mai 1991
Die »Neue Gesellschaft« (Sonderheft 2: Der Sozialismus der Zukunft) druckt einen Text von Jean Elleinstein unter dem programmatischen Titel: »Der Marxismus stirbt, der Marxismus ist tot, es lebe der Sozialismus!« »Wir sind in Westeuropa nicht mehr in der […] kapitalistischen Phase«, meint er. Die Geschichte habe »zugunsten des demokratischen Sozialismus entschieden, der die Hauptkraft in Europa ist«. Er sei »nicht mit einer Produktionsweise zu verwechseln«, sondern soll sich offenbar damit bescheiden, als politischer Diskurs in der kapitalistischen Produktionsweise ein Element von deren Regulation zu sein. Vielmehr nicht einmal das: »Bei der Komplexität der heutigen Welt müssen wir wissen, dass wir es mit etwas durch und durch Neuem zu tun haben«, jedenfalls nicht mit dem »von Marx beschriebenen Kapitalismus«. Den Tod des Marxismus bemisst er an unserem Entferntsein »von der Revolution, von der Diktatur des Proletariats und vom Klassenkampf, auf den allein man die Geschichte nicht reduzieren darf, so wichtig er auch gewesen (!) ist« usw.
Nur konvertierte Kommunisten können so sprechen. Sie liefern der rechten Sozialdemokratie den ideologischen Zement.
2. Juni 1991
Das Ende der DDR eine »Implosion« (Kossok).
Der konstanzer Jurist Bernd Rüthers (»Im Zwischenreich der Gleichen«, FAZ, 18.5.91) denkt über die »Verbände« (die Interessengruppen) nach, deren »Herrschaft« Theodor Eschenburg in den 50er Jahren angeprangert hat. Barbier im Vorspann dazu (und ich stelle mir vor, wie der Analytiker des »integralen Staates«, Gramsci, das gelesen haben würde): »Mit den polaren Begriffen ›Staat‹ und ›Bürger‹ ist die Mechanik der politischen Willensbildung […] nicht zu fassen« (einigen Schmu lasse ich weg). »Die gelebte Verfassung stützt sich auf Elemente und Verbindungsstücke zwischen diesen Polen – auf Information und Wissensübertragung, auf informelle und formalisierte Methoden der Abstimmung, auf die Tuchfühlung von Kollektiven, die […] den Bürgern Gelegenheit bieten, im Vorraum der Politik ihre Interessen zu bündeln.« Auch wenn er die Gewerkschaften mitmeint: »Bürger« kommt hier zu seinem kategorialen Recht, denn eigentlich spricht er über Lobbys, und »Vorraum der Politik« ist längst über das Antichambrieren hinaus. Für Barbier sind die Verbände eine funktionale Notwendigkeit, um »das bisweilen chaotisch wabernde Willensgeflecht der Menge aller Bürger« in Richtung auf ein »als halbwegs geordnete Zielfunktion artikulierbares Wollen der Gesamtheit« vorzustrukturieren (für hegemoniefähige Positionen in Stellung zu bringen). Dabei beschränken sich die Verbände nicht auf die Funktionen von »Filtern oder Verstärkern«, sondern »sie selbst sind Generatoren zusätzlicher Wünsche und Forderungen. Sie kanalisieren Widersprüche, aber sie beseitigen sie nicht im Sinne der Ermittlung eines allgemein akzeptierten Nullsaldos der Verteilungsansprüche in den Kategorien der Macht oder des Geldes.«
Rüthers hält die »staatsfreien Verbände« für eine Besonderheit liberaler Verfassungsstaaten und behauptet: »Autoritäre und totalitäre Systeme beseitigen ausnahmslos alsbald die lästige Konkurrenz außerstaatlicher Machtzentren«. Verkennt in dieser Allgemeinheit völlig die Herrschaftsstruktur autoritär-kapitalistischer Staaten, selbst faschistischer. In der BRD gebe es rund 15 000 Interessenverbände. Für den Erfolg eines Verbandes sei entscheidend »die Überzeugungskraft seines strategischen Langzeitkonzeptes«. Personifiziert sei sie in ihren »heute meist akademisch gebildeten Führungseliten« bzw. »akademischen Stabseliten«. Gleiches gelte für die Gewerkschaften. Fähigkeit zur Selbstkritik nennt Rüthers als weitere Erfolgsbedingung. »In ihrer Vielfalt streben die organisierten Interessen der Gesellschaft zu den Hebeln politischer Macht […]: im Parlament, in den Parteien, von der Exekutive und von der Justiz.« Die Instrumentarien ihrer Einflussnahme sind »unvorstellbar vielfältig«. Öffentlich vertreten sie zumeist »nicht die höchst materiellen Verbandsziele«, sondern »etikettieren und propagieren dieses sehr partielle Eigenwohl gern als Gemeinwohl«. Intern müssen sie aus Interessenvielfalt und Konkurrenzen ein »vertret- und durchsetzbares ›Gesamtinteresse‹ destillieren«, um sie »operationabel« zu machen.
Das Korporative als »eiserne Grenze« sowohl der Individualitäten als auch der Anwandlungen zu wirklicher Allgemeinheit. Rüthers entwirft ein Bild des »Hauptgeschäftsführer« als des kunstvoll-diskreten Herrschers im Verband. Dieser Abschnitt (der längste) eigentümlich fad und rührselig, als habe er ihn für einen imaginären Verband solcher Hauptgeschäftsführer geschrieben.
4. Juni 1991
Helga Grebing hält die Fahne des »demokratischen Sozialismus« hoch (»Warum Sozialdemokraten am Sozialismus festhalten müssen«, FR, 26.4.). Auf diese Orientierung zu verzichten, »käme einem Verrat der Sozialdemokratie an ihrer Geschichte gleich« und hieße »zuzugeben, dass man insgeheim dann doch wohl das kommunistische Regime […] für den eigentlichen Sozialismus gehalten hat«. Sie weist die Bezeichnung »Sozialismus an der Macht« für das Untergegangene zurück und spricht vom »totalitär-bürokratischen Kommunismus«. Die Sozialdemokratie habe mit den Kommunisten ein »ökonomistisches Paradigma« geteilt, das jetzt erledigt sei. Auch »das ökonomische System, das sich auf einen einseitig interpretierten Marxismus-Begriff gründete, ist gescheitert; Sozialismus kann offensichtlich in kapitalistisch noch nicht voll entwickelten Gesellschaften […] gar nicht möglich sein.« Auch wenn bei uns ein »sozial erheblich temperierter Kapitalismus« herrsche, bleibt »die ökonomische Grundstruktur der Gesellschaft eine kapitalistische«, auch gebe es »noch keine Alternative zu einer mit Marx’ Ideen gesättigten Kapitalismus-Kritik«. Demokratischen Sozialismus artikuliert Grebing als regulative Idee möglichst allseitiger Demokratisierung. Mit Gorz unterscheidet sie Abschaffung von Aufhebung des Kapitalismus. Ihre Haltung nicht schlecht. Darauf zurückzukommen.
Bei Aufräumversuchen stoße ich auf einen Artikel von Peter Scherer (Sozialismus 10/1990), der »eine neue politische Eiszeit ankündigt: Die bipolare Welt verändert sich zur polaren.« Er sieht einen »Arktischen Block« zwischen USA und SU kommen, dessen Dimensionen »sowohl Japan als auch Europa zu einer Art gewerbefleißiger Stadtstaaten heruntersinken« lassen würden. Die (wenig rosige) Alternative dazu wäre, dass »der westeuropäische Imperialismus dem Osten des Kontinents sich in ähnlicher Weise ›anschließen‹ kann, wie es das westliche Deutschland derzeit mit dem östlichen tut«. – Ein Zeugnis für den Schock, den der Zusammenbruch des Ostblocks bewirkt: der als instabil erfahrenen Welt wird alles Mögliche zugetraut.