Kitabı oku: «Wenn alles in Scherben fällt», sayfa 2

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3.

„Seit die SS weg ist“, schreibt meine Mutter abends auf das Kalenderblatt vom 27. März, „fragen die Kinder mich, warum wir nicht längst aus Danzig geflohen sind. Warum ich nicht ohne Ernst mit ihnen ins Reich gefahren bin. Im Januar hatten wir Karten für das Flüchtlingsschiff ‚Wilhelm Gustloff’. Aber ich wollte meinen Ernst nicht alleinlassen. Er war verpflichtet, in Danzig zu bleiben. Dann wurde die ‚Wilhelm Gustloff’ torpediert und ging unter – mit Tausenden von Frauen und Kindern. Und alle aus der Verwandtschaft beglückwünschten mich, dass ich im letzten Augenblick die Schiffskarten zurückgegeben hatte.“

In dieser Nacht wird es draußen ruhig, zum ersten Mal, seit im Januar die Offensive der Russen begann. Kein Fliegerangriff mehr. Keine Granaten heulen übers Haus. Keine Luftminen explodieren in unserer Nähe. Nur Gewehrfeuer ist in der Ferne zu hören. Dann verstummen auch die MGs. Die plötzliche, ungewohnte Stille macht uns Angst. Wir sitzen im Luftschutzkeller eng aneinandergedrückt und beten. Plötzlich fällt Klara etwas ein. Rasch schickt sie Diti nach oben. „Schau nach, ob die SS etwas vergessen hat, das die Russen nicht finden dürfen!“

Als Diti wieder herunterkommt, sagt er: „Die haben vielleicht gehaust! Überall stehen leere Flaschen herum! Die müssen total besoffen abgezogen sein! Und die Klos vollgekackt! Die Schweine! Sie haben doch gemerkt, dass kein Wasser mehr läuft!“

Papa fragt: „Hast du meine Uniform gut vergraben?“ Papa hatte zwei Uniformen: die braune SA-Uniform und die feldgraue Wehrmachtsuniform eines Reserveoffiziers. Beide Uniformen hat er seit langem nicht mehr getragen. Schon 1941 ist er vom Wehrdienst befreit worden. Die SA-Uniform hat Diti vor Wochen im Ofen unserer Zentralheizung verbrannt. Die Wehrmachtsuniform hat er vor ein paar Tagen in den Jäschkentaler Wald gebracht und in einen Luftminenkrater geworfen – ein Loch so groß, dass man ein Einfamilienhaus hineinstellen könnte. Zum Vergraben kam Diti nicht mehr. Die Artillerie begann wieder zu schießen, und Diti rannte um sein Leben.

„Soll ich ein weißes Laken heraushängen?“ fragt Diti. „So wissen die Russen gleich, dass aus unserem Haus nicht geschossen wird!“

Davon will mein Vater nichts hören. „Die SS könnte zurückkommen…!“

Warnend hatte der schneidige SS-Mann erzählt: „In der Halben Allee, zwischen Danzig und Langfuhr, hängen die Bäume voll deutscher Soldaten, die die weiße Fahne geschwenkt haben, die kapitulieren oder desertieren wollten…!“

Das Rosenkranzbeten macht uns schläfrig. Einer nach dem anderen verstummt, schließlich schlafen alle, unter Tischen und Stühlen, auf Matratzen, die fast den ganzen Boden des Luftschutzkellers bedecken.

Mitten in der Nacht werden wir aus dem Schlaf gerissen: Auf der Straße fahren schwere Panzer vorbei. Das Haus dröhnt vom Rasseln der Ketten. Fräulein Plasse schaut hinter ihrem Vorhang hervor und ist ganz aufgeregt: „Unsere Truppen kommen zurück!“

Ein wenig später - Schritte über uns. Männer poltern durchs Haus. Zum ersten Mal hören wir russische Stimmen. Die Tür wird aufgerissen, die in den Keller führt. Jemand tastet die dunkle Treppe herab. Wir sitzen auf unseren Matratzen am Fußboden, beten laut und starren voll Angst in den Flur. Eine Pistole mit langem Lauf schiebt sich um den Treppenvorsprung und richtet sich auf uns. Mein Herz klopft so stark, dass ich es im Hals spüre.

Ich sitze der Tür gegenüber, die in den Flur und zur Treppe führt. Auf mich kommt der Russe zu, die Pistole in der Hand, den Finger am Abzug – mich wird er als ersten niederknallen… Aber der russische Soldat schießt nicht. Er schaut sich überrascht im Luftschutzkeller um: So viele Frauen, Kinder und alte Leute auf so engem Raum! Fröhlich ruft er: „Guten Tag! Gitler kaputt!“

„Gitler“ klingt so komisch! Dass bisher keiner auf die Idee gekommen ist, unseren geliebten Führer ‚Gitler’ zu nennen. Wir brechen in befreiendes Gelächter aus, lachen unsere Todesangst weg, und der Russe lacht mit.

„Sind hier Faschisten? Soldaten?“ fragt der Rotarmist.

„Nein! Keine Soldaten!“ rufen wir alle.

Der Russe steckt die Pistole in die Ledertasche, die an seinem Gürtel hängt, und greift nach dem Glas Wein, das Papa ihm zur Begrüßung reicht. Doch beim ersten Schluck verzieht der Soldat das Gesicht und flucht. Gleich ist bei uns die Angst wieder da. Was hat Papa falsch gemacht? Er hat die Flaschen verwechselt - versehentlich hat er dem Russen Wasser eingeschenkt. Schnell öffnet Diti eine Weinflasche. Diesmal schmeckt es dem Russen, er strahlt. Aus seiner Feldflasche bietet er Papa einen Schluck an, und Papa trinkt. „Wodka!“ sagt Papa anerkennend, ehe er die Feldflasche dem Russen zurückgibt.

Andere Soldaten kommen herunter, drängen sich im engen Keller, schauen neugierig, freundlich zu uns herein. Auch sie wollen einen Begrüßungsschluck – und kriegen ihn.

Ein Russe schlägt den Vorhang beiseite, hinter dem sich Fräulein Plasse versteckt. Verlegen lächelnd kreuzt sie die Arme vor der Brust. Dabei wird ihre Armbanduhr sichtbar. Der Russe bedeutet ihr, sie abzunehmen. Fräulein Plasse reicht ihm die Uhr, und er geht.

Der Russe, der nach ihm kommt, zerrt Fräulein Plasse aus ihrer Ecke. Sie hat das Unglück, der Tür am nächsten zu sitzen. Papa stolpert über die Matratzen, um Fräulein Plasse zu Hilfe zu kommen. Begütigend redet er auf den Russen ein. Der stößt ihn weg, zerrt weiter an Fräulein Plasses Arm. Wir schreien durchdringend. Fluchend geht der Russe aus dem Keller.

„Die Frauen nach hinten“, sagt Papa, „hinter die Pfeiler, schnell!“

Von unserem Geschrei alarmiert, kommt ein russischer Offizier die Treppe herunter, ein kleiner drahtiger Mann mit tadellos gepflegter Uniform voller Ordensspangen.

„Warum habt ihr geschrien?“ fragt er auf Deutsch. Weinend zieht Fräulein Plasse in die dunkelste Ecke des Kellers um. „Ich bin Kommandant! Ihr könnt mich immer rufen! Ich wohne oben! Wenn meine Soldaten sich schlecht benehmen…“

In dieser Nacht rufen wir ihn ein paarmal. Er kommt zwar nicht herunter, aber das durchdringende Geschrei von zwölf Kindern schlägt die Russen, die den Keller auf der Suche nach Uhren und Frauen durchstöbern, in die Flucht.

Am Morgen wage ich mich hinter Diti hinaus in den Garten. Wo vorher die Raupenfahrzeuge der SS standen, sind jetzt Panjewagen der Russen, leichte, zerbrechlich aussehende Leiterwagen, und kleine Pferde mit dreckigem Fell und struppiger Mähne sind an unsere Obstbäume gebunden und fressen Hafer aus einem Sack, der ihnen um den Hals hängt.

„Wie sind die Russen auf diesen Wägelchen den weiten Weg aus Russland gekommen?“ frage ich Diti.

„Sie haben unsere Hühner geschlachtet“, stellt Diti fest.

Auf der Wiese haben die Russen ein Lagerfeuer gemacht. Am Spieß über dem Feuer braten Hühner. Die Russen, die um das Feuer herumsitzen, springen auf, als ein Panjewagen, der Kisten, Säcke und Fässer geladen hat, in den Garten fährt. Jeder bringt einen Eimer, eine Schüssel herbei – einer hält den riesigen Meißener Teller hoch, auf dem Klara immer das Obst servierte.

„Sie haben unsere Küche geplündert!“ schimpft Diti.

Der Soldat auf dem Panjewagen verteilt Mehl, Butter und Eier. Eine gewaltige Bratpfanne wird herbeigebracht.

„Die machen Pfannkuchen!“ sagt Diti. „Das muss ich sehen!“

„Ob die uns was abgeben?“ frage ich. Doch bis die Pfannkuchen gebacken sind, kann Diti nicht warten. Auf dem Johannisberg fahren Panzer vorbei. Die will er von nahem sehen. Aber auch die Panzer interessieren Diti nicht mehr, als ein kleiner Trupp russischer Soldaten mit einer Kuh aus dem Jäschkentaler Wald kommt. Mitten auf der Straße, gegenüber unserem Haus, erschießt ein Soldat die Kuh mit seiner Pistole. Ein anderer sticht mit einem langen Messer in ihren Hals und fängt das Blut in einem Eimer auf. Im Nu ist die Kuh abgehäutet. Einer der Russen hat einen großen Kugelkessel aus blankem Kupfer herbeigeschafft. Den stellt er auf einen Dreifuß und macht Feuer darunter. Jemand bringt einen Eimer Wasser und schüttet es in den Kessel. Kaum ist die Kuh ausgenommen, säbelt einer der Russen große Stücke herunter und wirft das Fleisch ins Wasser, das schon zu dampfen beginnt. Er gibt uns zu verstehen, wir sollen hierbleiben, gleich würden wir eine Kostprobe kriegen. Als er sich eine Zigarette dreht, will Diti es ihm nachmachen. Beim ersten Mal klappt es nicht, und der Russe lacht. Er dreht Diti eine Zigarette und flucht, als Diti den Tabak, der aus Krümeln und Stängeln besteht, zur Hälfte verschüttet. Wir hocken uns am Feuer nieder; der Duft, der aus dem Kupferkessel steigt, macht uns hungrig.

Dorothee, meine neunjährige Schwester, kommt aus dem Haus und zieht Diti aufgeregt am Arm. „Du musst schnell kommen!“ sagt sie ängstlich.

Wir laufen zurück ins Haus und schauen uns in den Zimmern um. Die Jalousien, die durch den Luftdruck einer Bombe aus ihrer Verankerung gerissen wurden, hängen schief vor den Fenstern. Daher ist es in den Räumen ziemlich dunkel. Russen stapfen über Berge von Büchern, über zerbrochenes Geschirr, Scherben von Kristallgläsern, über Gemälde, die von der Wand gerissen sind, über Tischdecken, Bettzeug, Fotoalben, Matratzen und Teppiche und stochern in alldem mit ihren Gewehren herum. Ein Soldat reißt Hemden, Pullover, Strümpfe und Hosen aus einem Wäscheschrank, auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Um im halbdunklen Zimmer besser sehen zu können, zündet er ein Streichholz an und hält es so lange, bis er sich die Finger verbrennt, dann lässt er es fallen. Sofort entsteht am Boden ein kleines Feuer. Diti tritt es aus. Der Russe geht nach nebenan und durchwühlt einen anderen Schrank, in dem vor ihm viele herumgestöbert haben.

„Geht hinter ihm her!“ sagt er zu Dorothee und mir, und als wir zögern, weil wir Angst vor den Russen haben, schreit er uns an: „Schnell! Ihr seht doch, gleich brennen sie uns das Haus ab! Tretet die Streichhölzer aus!“

Also trampeln wir hinter dem Russen her und treten auf brennenden Papieren und Stoffen herum. Immer neue Russen kommen herein. Unser Haus lockt ganze Kompanien an, sie scheinen bei uns sagenhafte Reichtümer zu vermuten.

„Barbaren“, nennt Diti die Russen, „kulturloses Pack!“, weil sie Bücher aus den Regalen reißen und zu Boden werfen, weil sie auf Ölgemälden herumtrampeln. Aber wenn einer sich an Mamas Flügel setzt und eine Etüde von Chopin spielt, dass es durchs ganze Haus schallt, staunt Diti. Er lacht mit den Rotarmisten, wenn sie ihm Zigaretten drehen und der Machorka seine Kehle so reizt, dass er mit Husten nicht aufhören kann. Wenn er ihren Ruf hört: „Komm, Frau!“, wird Diti wütend und nennt sie Schweine. Mir geht es wie ihm – mal fürchte ich mich vor ihnen, mal lache ich über sie.

Von einem der Russen wird Diti gepackt. „Uri!“ Diti trägt keine Armbanduhr; rechtzeitig hat er sie versteckt. Er zeigt dem Russen die nackten Handgelenke. Der Russe besteht auf einer Uhr. Da sagt Diti: „Komm mit, Russki!“ Und führt ihn in Papas Arbeitszimmer. Auf einem der Bücherschränke steht eine schwere alte Messinguhr mit breit ausladendem, unförmigem Zierrat. Die Regalböden als Leiter nutzend, klettert Diti hinauf, packt die Uhr und reicht sie dem Russen herunter. Der hält das für einen schlechten Scherz. Was soll er mit dem schweren Ding anfangen? Er wirft die Uhr wütend zu Boden. Und weil er denkt, Diti habe ihn zum Narren gehalten, tritt er mit dem Fuß nach ihm und flucht drohend hinter uns her, als wir uns vor ihm in Sicherheit bringen.

Mit Diti fliehe ich die Treppe hinunter in den Keller. Auch hier überall Russen. Einer wühlt im Dunkeln zwischen den Kostbarkeiten, die Klara für Zeiten der Not gehortet hat: Gläser mit Obst aus unserem Garten, Kompott in zellophan-bespannten Töpfen, Fleisch, ganze Hühner in Weckgläsern, sorgfältig beschriftet. Mit Eingemachtem können die Russen wenig anfangen. Krachend fallen die Gläser zu Boden. Unsere Fleischvorräte sagen ihnen mehr zu. Sie schneiden die Würste mit dem Seitengewehr vom Haken und gehen zufrieden hinaus.

Bald ist im Keller kein Durchkommen mehr. Was in Kisten und Koffern sorgfältig verpackt war, liegt verstreut am Boden, vermischt mit dem Inhalt und den Scherben der Weckgläser. Papas Weinvorräte sind längst verschwunden. Nur die Kommissbrote werden nicht mitgenommen. Brot haben sie selber. Schnaps suchen sie. Es heißt, sie trinken alles, was Alkohol enthält, sogar Haarwasser und Parfüm…

Einen Russen hören wir auf Klara einreden: „Komm, Frau!“ Klara schreit um Hilfe. Aber der Russe will etwas anderes, als Klara befürchtet. „Schlüssel!“ sagt er immer wieder und zeigt nach oben. Klara soll ihm folgen, soll oben einen Schrank aufschließen, in dem er ein Schnapslager vermutet.

Im Esszimmer steht Mamas kostbares Büfett aus Birkenholz, daran rüttelt der Russe, es klirrt und klingelt darin, als sei der Schrank voller Flaschen. Klara ist so durcheinander, dass sie den passenden Schlüssel nicht gleich findet. Der Russe kann nicht warten. Er steckt sein Bajonett aufs Gewehr und sticht mit dem langen Messer ins Schloss. Splitternd öffnen sich die Türen: Nichts als Kristallgläser und leere Karaffen. Enttäuscht schlägt der Russe mit der Faust zwischen all das leere Glas, in hohem Bogen fliegt kostbares Kristall durchs Zimmer. Zum Glück lenkt ihn der Zipfel eines Teppichs, der unter dem Unrat am Boden hervorragt, von uns ab, er zerrt den Teppich ans Tageslicht, findet Gefallen an ihm, rollt ihn zusammen, wirft ihn sich über die Schulter und geht aus dem Haus.

4.

Nachts sind alle Russen betrunken. Sie kommen zu uns in den Keller und wollen die Frauen herausholen. Wir schreien uns die Kehlen heiser nach unserem Kommandanten, doch der lässt sich nicht sehen. Mit einem der Russen kämpft Papa um Klara. Fast hat der Russe sie schon am Arm aus dem Luftschutzkeller gezerrt. Papa bittet und fleht und hält die gellend schreiende Klara am anderen Arm fest, wird dabei immer weiter in den Kellerflur gezogen, weg von uns Kindern, die den Erwachsenen mit dem Hilfeschrei „Kommandant, Kommandant!“ Schutz zu geben versuchen.

„Diti!“ ruft Papa in den Luftschutzkeller, „Diti!“ Der hat sich hinter einem Pfeiler verkrochen und ist in tiefen Schlaf gefallen, als einziger von uns. „Diti, du musst sofort aufstehen, du musst jetzt helfen!“

Taumelnd kommt mein Bruder hinter dem Pfeiler hervor.

„Hilf uns“, sagt Papa, „hol den Kommandanten!“

Diti rennt los – und ich hinterher, an dem Soldaten vorbei, gegen den Klara sich immer noch wehrt. Wir jagen die Treppe hinauf, stolpern oben im Dunkeln über schlafende Russen. Im Wohnzimmer schläft der Offizier, der uns Schutz zugesagt hatte, auf dem Sofa. Wir erkennen ihn an den breiten, mit allerlei Zeichen geschmückten Achselklappen, an den vielen Orden auf der Brust.

Diti redet auf ihn ein, doch der Kommandant schnarcht. Immer wieder rüttelt Diti ihn: „Kommandant… Du musst helfen, du musst kommen!“

Aber der Kommandant wird nicht wach. Wahrscheinlich betrunken. Wütend zerrt Diti an ihm: „Im Keller, da murksen die Russen inzwischen die ganze Familie ab!“

Das Geschrei der Kinder unten und Ditis Rütteln machen den Offizier endlich wach. Torkelnd geht er hinter uns her zur Kellertreppe, reißt die Tür auf und brüllt etwas hinunter. Keiner der Soldaten hört auf ihn. Er stolpert die Stufen hinab, doch sie nehmen keine Notiz von ihm. Unser Kommandant ist klein, und die Soldaten sind schwere, selbstbewusste Kerle. Der Kommandant kann nicht befehlen, muss seinen Soldaten gut zureden, damit sie von Klara ablassen. Es dauert einige Zeit, bis sich das Knäuel um Klara löst. Fluchend gehen die Soldaten aus dem Keller. Der Kommandant folgt ihnen nach oben. Wer weiß, ob er noch einmal kommen wird, um uns zu helfen. In den nächsten Stunden haben wir Ruhe – aber was wird morgen sein?

Am nächsten Tag steigen zwei Russen die Treppe zur Waschküche herunter. Sie gehen schnell, entschieden, als ob sie einen Auftrag haben. Im Keller suchen sie gründlicher als alle, die vorher da waren. In jede dunkle Ecke schauen sie. Aber sie nehmen nichts mit. Endlich kommen sie auch in den Luftschutzkeller. Mama, Klara und Frau Duschau haben die Kleinsten auf den Arm genommen. Ängstlich starren sie den beiden entgegen, die weder „Uri“ sagen noch „Komm, Frau!“, sondern nur „Dokumente!“

Sie lassen sich Zeit mit der Prüfung der Pässe. Großvater erklärt auf Polnisch, wie alt er ist, aber davon nehmen sie keine Notiz.

Sie reichen die Pässe zurück und fragen etwas auf Russisch. Da niemand sie versteht, gehen sie wieder. Ich folge ihnen und erschrecke, als einer von ihnen die Tür zum Heizungskeller öffnet. Ich weiß: Dort ist Papa. Hier unten gibt es keine Toilette, daher gehen die Erwachsenen hinter den Koks. Ich schaue an den Soldaten vorbei in den dunklen Heizungsraum. Papa ist nicht zu sehen. Der Soldat ruft etwas in den Keller, da höre ich Schritte auf dem Koks, und Papa kommt hervor. Der Russe winkt ihn heraus. An der Tür packt er Papa am Arm, hält ihm die Pistole an den Kopf und drängt ihn zur Kellertreppe. Weil Papa die Stufen nicht schnell genug hinaufgeht, gibt der andere Soldat ihm einen Tritt. Papa schaut sich nach ihm um – und sieht mich. Da fange ich an zu schreien...

Schreiend laufe ich zurück in den Luftschutzkeller. „Sie haben Papa mitgenommen!“ Ich werfe mich über den Tisch und schluchze.

„Wo ist Diti?“ fragt Mama ruhig, als habe sie es kommen sehen. „Geh Diti suchen! Sag, er soll Papa hinterhergehen! Er soll aufpassen, wo sie in hinbringen!“

„Lassen sie Papa wieder laufen?“ frage ich heulend. „Lassen sie ihn bald wieder frei?“

„Warum sollen sie ihn festhalten?“ beruhigt Mama mich. „Er hat keinem was getan!“

Weinend laufe ich in den Garten. Diti sitzt bei den Russen am Lagerfeuer, als ob er schon zu ihnen gehört.

„Diti!“ schreie ich. „Sie haben Papa geholt!“

Er springt auf, und zusammen laufen wir auf die Straße. An der Kreuzung Johannisberg – Jäschkentaler Weg stehen, von Soldaten bewacht, etwa dreißig Männer, und immer mehr werden gebracht. Mitten unter ihnen Papa.

„Warum ist er hinter dem Koks hervorgekommen?“ Wieder fange ich an zu heulen. „Warum hat er sich nicht versteckt?“

„Du kennst Papa nicht!“ Diti schüttelt den Kopf. „Papa würde sich nie verstecken! Warum auch? Er hat nichts zu verbergen!“

„Trotzdem haben sie in mitgenommen!“

Eine ganze Weile steht Diti ratlos da, sagt kein Wort, schaut zu Papa hinüber.

„Du musst ihm helfen abzuhauen!“ sage ich.

„Wie denn?“

„Du findest schon einen Weg!“

Diti hat eine Idee. „Bleib hier stehen!“ befiehlt er mir. „Behalt Papa im Auge! Bin gleich wieder da!“

Mit einer Decke, in die ein Kommissbrot gewickelt ist, kommt er zurück. Aber die Posten lassen ihn nicht an Papa heran. Sie drängen die Männer gegen ein hohes Gitter; dahinter, zwischen Bäumen und Hecken, steht ein Schlösschen, die Villa des Postpräsidenten. Diti läuft mir voraus durch die Toreinfahrt, schleicht am Gitter entlang durch den Garten zu den Gefangenen, zeigt einem, der am nächsten steht, unseren Vater und flüstert: „Den Mann da - schleusen Sie den vorsichtig ans Gitter!“

Es dauert lange, bis Papa, Schritt für Schritt zurückweichend, die Posten im Auge behaltend, den Zaun erreicht. Diti will ihm das Päckchen durch die Stäbe schieben, aber das Kommissbrot ist zu dick. Er muss es hinüberwerfen. Ungeschickt und voll Angst, es könnte von den Soldaten bemerkt werden, versucht Papa, das Brot aufzufangen. Es fällt zu Boden. Mehrere Männer bücken sich danach. Diti steckt Papa noch eine Schachtel Zigaretten zu, in den letzten Kriegsjahren eine Kostbarkeit. Papa schüttelt verwundert und gerührt den Kopf. „Wo hast du die her?“

„Mach was, damit er fliehen kann!“ verlange ich von Diti.

Er schüttelt den Kopf.

„Wenn du ihm hilfst, schafft er es bestimmt! Wir verstecken ihn im Wald – oder bei den Koschalkes auf dem Land.“

Einen Augenblick lang ist Diti unsicher. Er schaut zu Papa hinüber.

„Wenn die Russen ihn wegbringen“, versuche ich Diti umzustimmen, „kann er nichts mehr für uns tun, kann Mama und Klara nicht beschützen! Er muss fliehen!“

„Es gibt so etwas wie Ehre“, sagt Diti. „Aber davon verstehst du nichts. Er hat nichts getan, weshalb soll er fliehen? Er hat ein reines Gewissen!“ Dann, nach einem Zögern: „Außerdem glaube ich, Papa ist nicht geschickt genug zum Fliehen...“

Die ganze Zeit behält Papa uns im Auge. Er reckt den Hals, und wenn sich mal ein Größerer vor ihn stellt, schiebt er ihn beiseite. Er hebt die Hand und winkt vorsichtig.

Im Luftschutzkeller erzählt Diti den Erwachsenen, wie streng die Russen Papa bewachen, dass sie uns nicht an ihn ranlassen, dass immer mehr Männer gebracht werden, alle so alt wie Papa und noch älter – viele stützen sich auf einen Stock.

„Wohin können sie die alten Männer schon bringen?“ sagt Mama und macht uns Hoffnung, dass wir Papa bald wiedersehen. „Du musst mit Papa mitgehen“, bittet sie Achim. „Vielleicht lassen sie dich bald wieder frei. Dann wissen wir wenigstens, wo er ist, und können hingehen und ihn verpflegen.“

Sie legt für Achim einen Anzug bereit. Er soll ihn anziehen. Wenn er älter wirkt, nehmen die Russen ihn mit.

„Wo kommt Papa hin?“

„Sicher in der Nähe in ein Gefangenenlager“, vermutet Mama. „Natürlich nur vorübergehend!“

Achim ist skeptisch. „Nur vorübergehend?“ Er wechselt mit Klara einen zweifelnden Blick.

„Wenn die Russen euren Vater so behandeln“, sagt Klara, „wie bei uns die russischen Kriegsgefangenen behandelt wurden… dann hat er nichts zu lachen!“ Aber Mama will jetzt keine Zweifel aufkommen lassen: „Arbeiten mussten die Gefangenen – wie jeder bei uns!“

Klara weiß es besser. Klaras Vater war Häftling im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. „Dort haben auch russische Kriegsgefangene gearbeitet“, sagt Klara, „aber lange hat man sie nicht leben lassen…“

„Papa wird eine Weile interniert, bis der Krieg vorüber ist, dann wieder zu seiner Familie entlassen“, fährt Mama unbeirrt fort, während sie für Achim einen Rucksack packt. „Barackenlager gibt es genug in unserer Gegend, da brauchen die Männer nicht weit zu laufen. Das Narvik-Lager zum Beispiel.“ Sie wendet sich an Großvater. „Du hast erzählt, dass ihr winterfeste Baracken für russische Kriegsgefangenen gebaut habt.“

„Nein, nein“, sagt Großvater, „das musst du verwechselt haben. Meine Leute haben zwar winterfeste Baracken gebaut – aber nicht für Russen!“

Mama hat jetzt Wichtigeres zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, was die Nazis mit ihren Feinden angestellt haben. Sie steckt ein Kommissbrot und eine Flasche Mineralwasser in den Rucksack, denn es geht ja nicht weit, meint sie, Papa und Achim werden nur kurze Zeit fort sein. Obendrauf packt sie frische Wäsche für Papa und eine Decke, und als Achim sich den Rucksack umschnallt, legt sie ihm noch Papas Regenmantel über den Arm. Zum Abschied umarmt sie Achim.

„Wenn du nicht fliehen kannst, musst du eben für Papa sorgen!“

„Mama, ich hab solche Angst!“ sagt Achim leise.

Sie macht ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. „Hab keine Angst um uns“, tröstet sie ihn. „Diti ist ja da, er wird für uns sorgen. Pass du auf Papa auf!“

Wir bringen Achim zur Tür. Draußen ist es warm geworden. Ein sonniger Frühlingstag. Brandgeruch liegt in der Luft, ein beißender Dunst, es riecht nach verbranntem Holz, angesengten Kleidern, und obwohl nirgendwo in unserer Umgebung brennende Häuser zu sehen sind, schweben überall grauschwarze Flocken zur Erde herab.

Auf Mamas Flügel im Salon klimpert ‚unser’ Kommandant herum. Wir hören die Stimmen der Russen im Haus. Sie lachen und singen ihre herrlichen Lieder.

Als ich in den Luftschutzkeller zurückkomme, packt Frau Duschau hastig die Sachen ihrer Kinder zusammen. „Es brennt in der Nähe, riecht ihr das nicht? Wie schnell kann das Feuer hier sein! Wir müssen raus!“

„Wohin denn?“ fragt Mama. Aber auch sie fängt an zu packen, und Klara hilft ihr dabei.

Reglos steht Fräulein Plasse und schaut zu. „Was mache ich bloß mit meinem schweren Koffer?“ Sie blickt Klara an, als ob sie erwartet, dass Klara ihr den Koffer trägt.

Großvater zankt mit Großmutter um jedes Stück, das sie aus ihren Koffern herausholt, um es in kleinere, leichtere Taschen umzupacken. „Das brauchen wir alles nicht! Wer soll das schleppen?“ Schließlich gibt Großmutter auf. „Lasst uns doch hier!“ stöhnt sie. „Was können die uns alten Leuten tun?“

Frau Duschau drängt zur Eile. „Wir müssen hier raus, solange es Tag ist. Noch so eine Nacht mit den Russen ertrage ich nicht!“

Mama holt Rucksäcke mit Wäsche, die sie nach den ersten Bombennächten für jedes von uns Kindern vorbereitet hat. Jeder muss seinen Rucksack umschnallen. Aber wer soll das Essen, die Wasservorräte, die Decken schleppen? Wohin gehen wir überhaupt? Wie lange werden wir unterwegs sein?

„Diti! Wo ist Diti?“

„Diti ist mit Achim mitgegangen“, sage ich.

„Ohne Diti können wir nicht weg!“ erklärt Mama.

„Gehen wir wenigstens aus dem Keller!“ Frau Duschau wird immer ungeduldiger.

„Nicht durch die Waschküche!“ ruft Klara. In der Waschküche haben die Russen eine Funkstation eingerichtet – der Raum scheint Funker anzuziehen.

„Probieren Sie, ob die Tür zum Notausgang aufgeht“, schlägt Frau Duschau vor.

Vergeblich versucht Klara, den schweren Hebel, der die niedrige eiserne Tür verschließt, herumzulegen. Ich hole ein Beil und schlage auf den Hebel, aber er lockert sich nicht. Die Tür ist nie benutzt worden und der Hebel eingerostet. Einen Augenblick lang haben wir das Gefühl, in der Falle zu sitzen… Da wird der Hebel plötzlich bewegt, quietschend öffnet sich die Eisentür. Diti hat sie von draußen aufgestemmt.

„Ich hab einen Wagen gefunden!“ ruft er uns aufgeregt entgegen.

„Was für ein Quatsch!“ schimpft Großvater. „Lass jetzt diese Kindereien!“

„Ein großer Leiterwagen!“ sagt Diti. „Den haben Flüchtlinge am Straßenrand stehenlassen! Den können wir bestimmt gebrauchen!“

Erst jetzt fällt ihm auf, dass wir alle unsere Rucksäcke umgeschnallt haben. „Was habt ihr vor?“

„Wir müssen hier raus“, erklärt ihm Klara.

„Und zwar schnell!“ fügt Frau Duschau hinzu.

„Wenn Diti einen Wagen hat…“ ruft Fräulein Plasse und zeigt hilflos auf ihren schweren Koffer. Niemand achtet auf sie.

„Wir müssen weg!“ schreit Frau Duschau. „Und zwar bevor es überall brennt!“

Diti zerrt mich durch den Notausgang ins Freie. „Stell dich neben den Leiterwagen und lass ihn dir nicht klauen“, ermahnt er mich streng. „Schrei, wenn einer ihn dir wegnehmen will!“

Er springt in den Keller und hilft erst den Kindern hinaus, danach den Alten, dann den Frauen. Er trägt Taschen, Decken und Mäntel ins Freie, Eimer voller Gläser, Geschirr, Flaschen, Besteck, ein Bündel Handtücher – zuletzt auch Fräulein Plasses Koffer.

Als alles sich auf dem hohen, zweirädrigen Karren stapelt, setzt sich ein kleiner Flüchtlingstreck in Bewegung: die Frauen dicht beim Leiterwagen, wir Kinder rings um sie, zu ihrem Schutz. Diti zieht vorn an der Deichsel, ich schiebe hinten. Noch geht es leicht: Der Johannisberg fällt zum Jäschkentaler Weg leicht ab. Doch der Wagen hat sein Gewicht. Noch müssen wir bremsen, aber wie wird es sein, wenn es bergauf geht? Wir fühlen uns schwach vom langen Herumsitzen im Keller, von all den schlaflosen Nächten.

„Papa und Achim stehen immer noch an der Kreuzung“, rufe ich. Wir können nicht zu ihnen. Ein Flüchtlingsstrom aus der Stadt wälzt sich den Jäschkentaler Weg herauf. Tausende ziehen an uns vorüber. Russische Soldaten mit umgehängten Maschinenpistolen begleiten den Zug.

„Ganz Danzig brennt!“ rufen die Flüchtlinge uns zu. „Es wird immer noch gekämpft!“

„Wo wollt ihr hin?“

„In die Wälder!“

Manche schieben überladene Kinderwagen vor sich her, andere transportieren ihre Habseligkeiten auf Fahrrädern. Sie erzählen, sie seien schon seit Stunden unterwegs und todmüde. Als einige den Jäschkentaler Weg zu verstopfen drohen, weil sie für einen Augenblick verschnaufen möchten, kommen die Posten, drohen und treiben sie weiter.

Wir wollen Papa und Achim Auf Wiedersehn sagen. Dazu müssen wir durch den Menschenstrom hindurch. Aber kaum sind wir in die Menge der vorwärts Drängenden eingetaucht, werden wir auch schon mitgerissen. Mama kämpft verbissen gegen den Strom an. Als sie ganz nah bei Papa ist, wird sie von einem der Posten zurückgeschickt. Nur Dorothee schafft es an den Soldaten vorbei. Zwischen den Gefangenen schlängelt sie sich hindurch, springt an Papa hoch und umarmt ihn noch einmal.

Wo sehen wir uns wieder, Papa…?

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