Kitabı oku: «PUNKTUM.», sayfa 5

Yazı tipi:

*

Das Spurensicherungsteam teilt sich auf. Die einen machen sich auf den Weg zum Seeblick hinauf. Die Restlichen sind mit der Zille zur Erlöserwand unterwegs.

Holzinger überlegt, ob er seinen Chef informieren soll. Grübelt hin und her, kommt aber zum Schluss, dass er erst die Berichte des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung abwarten will. Plötzlich hört er eine Stimme hinter sich: »Herr Holzinger? – Darf ich stören?«

Der Kommissar dreht sich um und sieht Claudia auf sich zukommen. Er mustert sie. Tolles Mädchen, denkt er. Die langen Beine, die von ihrem kurzen, schwarzen Rock noch zusätzlich betont werden, ihr Gang, ihr ausnehmend hübsches Gesicht, die rotblonden, fast schulterlangen Haare, ihr bezauberndes Wesen, verwirren ihn. Er weiß nicht, wohin er zuerst sehen soll. Seinen Gleitschirm hat er bereits vergessen. Verdrängt von Frau Biglers Erscheinung.

»So ganz alleine? Wo ist denn Ihre Kollegin vom ›Postillion‹?«, versucht er seine Verwirrtheit zu überspielen und massiert mit Zeigefinger und Daumen den Nasenrücken.

»Die hat ihren Bericht schon in die Redaktion geschickt. Überschrift: Die Erlöserwand hat ein neues Opfer gefordert. Der Text frei nach dem Motto: Da hat sich ein Mensch – oder wer – vom Seeblick gestürzt – oder wo – und ist dabei ums Leben gekommen – oder was! Sie leerte vorhin ihr zweites Glas Wein, und hat sich wohl bereits auf die Heimreise begeben … «

»… und Sie wollen noch bleiben? Was hält Sie hier?«, fragt Peter neugierig.

Was für eine Frage, denkt Claudia. »Mir läuft nichts davon. Auf mich wartet niemand zuhause. Ich habe also Zeit, und ich denke mir, ich könnte meine Schulden bei Ihnen begleichen. Gleich heute, hier und jetzt … «

»… und mich so ganz nebenbei aushorchen – oder was?!«, antwortet er mit gespielter Echauffiertheit. »Ich warne Sie, das kann noch lange dauern. Ich werde ebenfalls von niemanden erwartet, und Eile ist für mich eine große Unbekannte.«

»… und? Wissen Sie denn schon mehr … «, überspielt Claudia ihre freudige Erregtheit. Er ist Junggeselle! Juhu!

»Eigentlich kann ich nur die Worte ihrer Kollegin strapazieren. Wir können zu diesem Zeitpunkt nichts Genaues sagen. Weder wer die Frau war, weshalb sie hier war, noch warum ihre Leiche dort drüben gefunden wurde. Ich warte auf den ersten Zwischenbericht der Mitarbeiter.«

»Darf ich Ihnen die Wartezeit mit der Einlösung meiner Schuld verkürzen? Ich lade Sie gerne auf einen Kaffee ein.«

»Warum nicht?«

Das ging ja easy, freut sich Claudia und ihre Lippen verziehen sich zu einem schmalen Lächeln.

Sie nehmen auf der Terrasse Platz und sie bestellt zwei große Braune. Sie ordnet immer wieder aufs Neue ihren Laptop, ihre Fotokamera mit dem Teleobjektiv und ihren Schreibblock. Schlussendlich liegen die Dinge, wie Zinnsoldaten vor der Schlacht, penibel ausgerichtet, in einer Linie.

»Frau Bigler, sagen Sie, was werden Sie in ihrem Artikel schreiben?«

»Also zunächst einmal, ich heiße Claudia … «. Mit diesen Worten strahlt sie ihr Gegenüber unmissverständlich an.

Der Kommissar fühlt, dass nur eine Antwort zulässig ist: »Ich bin der Peter … «, antwortet er überrumpelt.

Claudia nimmt ihre Kaffeetasse und stößt mit ihm an. Er erwidert ihr sichtlich verlegen: »Also mit Kaffeeschalen habe ich auch noch nicht auf das Du-Wort angestoßen.«

»Ich kann dich beruhigen, ich auch nicht. … Du wolltest wissen, was ich in meinem Artikel schreibe? Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Was glaubst du, warum ich noch hier bin? Ich dachte, du könntest … «, flunkert sie.

»Claudia, das fängt ja gut an. Alles nur Berechnung … «, scheint er ihre Gedanken erraten zu können.

Sie beißt sich auf die Unterlippe. UUUPS! Das war jetzt ein wenig zu schnell, denkt sie.

Steige auf die Bremse, ermahnt sie sich. »Nein keine Spur von Berechnung. Ich will nur vermeiden, dass ich den gleichen nebulösen Artikel abliefere, wie meine Kollegin. Ich weiß doch, dass du mir nicht zu viel verraten darfst. Aber ich dachte mir, so ganz blauäugig, vielleicht schaue ich dir lediglich über die Schultern. Du brauchst ja kein Wort zu sagen.«

Peter überlegt. Sieht Claudia tief in die Augen. »Und du glaubst, darauf falle ich herein?«

»Ich räume dir das absolute Vetorecht ein. Ohne deine Zustimmung schicke ich nichts in die Redaktion. Du musst mir den Artikel freigeben. Das ist doch ein Angebot? Oder? … Du siehst, du kannst nicht verlieren. … Und ich kann nur gewinnen«, strahlt Claudia über das ganze Gesicht, ohne mit den Augen zu klimpern.

»Du machst, was I C H dir sage?«

Der Redakteurin steigt die Röte in die Wangen. Sie nickt verlegen und senkt ihren Blick. Das plötzliche Läuten des Telefons hilft ihr über die Situation hinweg.

»Bigler.« Nach einer kurzen Pause: »Kann ich dir nicht sagen. Sitze hier auf der Terrasse, mit einem netten Bekannten, inmitten der Berge. Blicke auf einen smaragdgrünen See. Hier lässt es sich aushalten. Wir sollten irgendwann ein Wochenende hier verbringen. Toll hier.«

Claudia hält ihr Telefon noch eine kurze Weile ans Ohr, beendet wortlos das Gespräch und wendet sich wieder Peter zu. »OK. Wo waren wir gleich stehen geblieben? – Ach ja, weiß schon. Können wir gerne ausprobieren … «

»Aber nicht schummeln«, ermahnt er sie, ohne auf ihr Telefonat einzugehen.

»Großes Klosterschülerin-Ehrenwort!«

*

Claudia schießt von der Terrasse aus einige Fotos, als die Leiche in einem funktionalen, schmucklosen Aluminiumsarg vom Boot getragen wird. Der Sarg wird in einen kleinen, faltbaren Pavillon mit weißen Stoffseitenwänden gebracht, der auf dem Parkplatz errichtet worden ist, wo der Gerichtsmediziner mit den Mitarbeitern ungestört seiner Aufgabe nachgeht.

»Servus, kannst du mir schon Genaueres sagen?«, fragt der Kommissar den Arzt, der die Brille bis zur Nasenspitze vorgezogen hat, und ihn über den Brillenrand anschaut.

»Na ja, jedenfalls nicht alltäglich. Die Identifizierung wird nicht einfach. Sie ist mit ziemlicher Sicherheit die Felswand herabgestürzt. Unzählige Knochenbrüche. Das Gesicht ist zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Da werden wir auch keinen brauchbaren Zahnabdruck mehr abnehmen können. Ihr Genick ist ebenfalls gebrochen. Auf dem Hinterkopf haben sich Holzsplitter in die Kopfhaut gebohrt und sie partiell skalpiert. Willst du es dir anschauen?«

»Äh, nein danke«, wehrt Peter das nicht gerade verlockende Angebot ab. »Ich muss nicht alles sehen. Mir genügen deine Fotos. Kampfspuren?«

»Gute Frage. Ich werde die Leiche noch im Detail untersuchen, aber bis auf die Holzsplitter, sieht nach einem Sturz aus ca. zweihundert Meter Höhe aus. Sie hatte sich regelrecht zwischen den Felsbrocken verkeilt. War nicht leicht, sie zu bergen … «

»Holzsplitter? Wieso? Was ist da so ungewöhnlich an denen?«, hakt Peter instinktiv nach.

»Die Holzsplitter können von einem Baum, oder dicken Ast, oder von – was weiß ich – herrühren.« Der Arzt schiebt seine Brille zur Nasenwurzel zurück. »Rest wie immer. Sagen wir montags.«

»Todeszeitpunkt?«

»Schwer zu bestimmen. Ich muss noch die gestrigen Temperaturen checken. Das nächtliche Gewitter kommt erschwerend dazu. Aber aufgrund der durchnässten Kleidung, den Totenflecken – grob geschätzt, gestern später Nachmittag, früher Abend.«

Der Kommissar bedankt sich, zieht sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und tippt die Nummer der Spurensicherung ein.

»Peter hier. Habt ihr etwas Brauchbares gefunden?«

»Ja und Nein«, lautet die Antwort. »Nein, weil wir nichts am Felsenrand, an der Kante, entdeckt haben. Ja, weil es hier jede Menge von Fußspuren gibt. Besonders eine sticht hervor. Eine ungewöhnliche Rutschspur, die in einem Profilabdruck eines Bergschuhes endet … «

»Daraus folgt?«

»Es könnte sich um Kampfspuren handeln. Komm rauf und sieh es dir an … «

Peter seufzt tief und blickt den steilen Weg entlang zur Seeblick-Plattform hinauf.

5

Anna verweigert sich ihren samstäglichen Prosecco. Sie fährt hinaus zum Stadtrand, wo sie aufgewachsen ist. Wo ihre Mutter eine schöne große Wohnung besitzt. Auf der Fahrt hört sie die aktuellen Nachrichten zur vollen Stunde. Nichts, das sie beunruhigen könnte. Anna hofft insgeheim, dass ihr ihre Mutter öffnen würde, wenn sie klingelt.

Sie drückt auf den Knopf neben dem Namen Steiger. Wartet. Presst nochmals ihren Finger auf den Kopf. Tiefer. Keine Antwort.

Schließlich schließt sie das Haustor auf und nimmt die Treppen nach oben. Wirre Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Was wäre, wenn sie ihre Mutter regungslos am Boden vorfände, nachdem sie von der Leiter gestürzt war? Halb verdurstet. Bewusstlos. Nur eine von zahlreichen Vorstellungen, die sie beim Hinaufgehen quälen.

An der Wohnungstür läutet sie erneut. Klopft an die Tür. Lauscht.

Nichts.

Anna dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, öffnet langsam die Tür und betritt in die Wohnung. Sie riecht die abgestandene Luft und ruft laut nach ihrer Mutter. Stille. Keine Antwort.

Mittlerweile haben sich ihre Augen an die ungewöhnliche Dunkelheit angepasst. In jedem Zimmer sind die schweren Vorhänge vorgezogen. Grau in Grau erkennt man gerade noch die Umrisse der Wohnungseinrichtung. Anna tippt auf den Lichtschalter. Kein Strom. Sie betätigt im Sicherungskasten die FI-Schalter. Aus dem Schlafzimmer hört sie das leise, eintönige Piepsen des Radioweckers. Sie geht zu den Fensterfronten und zieht die Vorhänge zur Seite. Anschließend kippt sie die Fenster, öffnet die Balkontür und lässt frische Luft in die Wohnung strömen.

Anna fragt sich, womit sie anfangen sollte. Wonach wollte sie suchen? Ihre Mutter war anscheinend verreist. Es sieht jedenfalls danach aus. Fenster geschlossen, von Vorhängen verhüllt, die beiden Sicherheitsschlösser an der Eingangstür, doppelt versperrt.

Sie beginnt zögerlich jedes Zimmer zu inspizieren. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll eingerichtet, wie auf den Fotos der Hochglanz-Einrichtungsmagazine. Keine herumliegenden Zeitungen, keine getragenen Kleidungsstücke die auf Sesseln hängen, stören die Ordnung. Sogar der Notizblock wird feinsäuberlich von einem Bleistift griffbereit flankiert. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt, was wiederum typisch für Menschen ist, die Angst vor der Außenwelt haben.

Das ist meine Mutter, denkt Anna. Sie betritt das Badezimmer. Sie schaut auf die Etagere. Ihr fällt sofort auf, dass die Zahnbürste fehlt. Auch ihr heiß geliebtes Parfum befindet sich nicht auf dem angestammten Platz. Sie öffnet den Unterschrank. Der Haarföhn liegt nicht an seiner Stelle. Der Kulturbeutel glänzt ebenfalls durch Abwesenheit.

Anna erinnert sich an die zahllosen Diskussionen, als sie noch hier gewohnt hat, und als sie nach dem Duschen die einzelnen Utensilien nicht an ihren Ort zurückgelegt hat. Wie oft hat sie damals gesagt: ›Ma, die Welt geht nicht unter, nur weil ich das Ding nicht sofort auf seinen Platz zurückgegeben habe.‹. Ihre Mutter hat immer mit dem gleichen Satz geantwortet: ›Die Welt geht deshalb nicht unter, aber du machst es mir schwerer. Ich habe die doppelte Arbeit. – Ich bin diejenige, die ständig hinter dir herräumen muss!‹

Anna hat damals ihre Mutter nicht verstanden. Heute weiß sie, wovon sie gesprochen hat. Heute weiß sie, wie selbstverständlich es sein kann, blind nach Gesuchtem zu greifen. Und dafür ist sie ihrer Mutter dankbar, dafür liebt sie sie.

Anna wechselt ins Schlafzimmer hinüber. Der Radiowecker blinkt in kurzen Abständen. Sie inspiziert den Bekleidungskasten. Die kofferartige Reisetasche fehlt. Sie faltet die Türen des Schrankes auf. Ein belegter Kleiderbügel reiht sich an den nächsten. Sie lässt ihren Zeigefinger von einem Kleid zum anderen springen. Das blaue Lieblingskleid ihrer Mutter fehlt, genauso wie das weiß-rot-gestreifte.

Meine Mutter muss tatsächlich verreist sein. Zu ihrem Joseph? Sie ist abgereist, ohne mich zu informieren, ohne nur ein Sterbenswörtchen mir gegenüber zu erwähnen, spukt es ihr durch den Kopf.

In Anna steigt leiser Groll auf. Sie sieht sich weiter um. Auf dem kleinen Beistelltisch findet sie Prospekte von den umliegenden Supermärkten. Jeder reklamiert die günstigsten Preise für sich. Noch billiger kommt man mit den jeweiligen Rabattmarken davon. So groß die ausgelobten Verkaufspreise der diversen Artikel auch gedruckt sind, um die zeitliche Beschränkung der Sonderangebote entziffern zu können, bedarf es hingegen Spürsinn und einer übergroßen Lupe.

Anna sucht weiter. Im Seitenteil des Kastens entdeckt sie – von einem Stapel Pullover verdeckt -, einen Karton. Sie legt die Kleidungsstücke auf das Bett und zieht die große Schachtel hervor.

Sie setzt sich auf das Bett und hebt den Deckel ab. Fotos. Haufenweise Fotos.

Anna greift hinein und krallt sich einen Packen. Es sind Bilder aus Annas Jugend. Sie findet eines, als sie mit ihrer Mutter in Cinque Terre, mit seinen bunten Häusern, besucht hatte. Ein anderes zeigt sie vor dem Eiffelturm, gefolgt von einer Reihe Strandfotos, Badeurlaube am Meer, Wanderausflüge und dergleichen. Hin und wieder huscht ein Lächeln über ihre Lippen. Anna versinkt in den Erinnerungen von damals. Greift nach einem weiteren Stapel. Schlussendlich leert sie den Karton gänzlich.

Was würde meine Mutter jetzt sagen, wenn sie dieses Durcheinander auf ihrem Bett sähe, fragt sich Anna.

Ein Foto, das ihre Mutter mit einem Hochzeitspaar, und einem ihr unbekannten Mann zeigt, erregt Annas Aufmerksamkeit. Auf der Rückseite steht ein Kalendertag und handschriftlich: ›Brautpaar mit Trauzeugen‹. Das war vor meiner Geburt, stellt sie fest, als sie das Datum überprüft. Ein Weiteres zeigt ihre Mutter mit einem Mann. Südländischer Typus, durchtrainiert, mit dunklen, langen Haaren. Auf der Rückseite: Trauzeugen.

Anna fragt sich, wo das Dirndl, das Maria auf dem Foto trägt, wohl geblieben war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es je in ihrem Schrank gesehen zu haben. Jedenfalls hat sie in diesem Kleid ungemein sexy ausgesehen. So viel Mut hat sie ihrer Mutter nicht zugetraut. Vielleicht gehörte ihr das Dirndl gar nicht, sondern sie hatte es sie sich für die Trachtenhochzeit nur geliehen.

Anna steht mit dem Foto in der Hand auf und betrachtet sich im Spiegel, der an der Innenseite der Tür angebracht ist. Ihr fällt auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter, in ihrem Alter, sieht. Selbst die kleinen Grübchen an ihren Wagen scheinen ident zu sein. Auch die wenigen Sommersprossen befinden sich an den gleichen Stellen. Sie vergleicht die Nase, die Mundpartie und ihren Oberkörper. Sie findet keinen wesentlichen Unterschied. Was hatte Birgit heute im Kaffeehaus gemeint? ›Wäre nicht der Altersunterschied, dann hätte man sie und ihre Mutter für Zwillinge gehalten‹. Anna schmunzelt. Sie hat nicht nur viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt, sondern auch viel von ihrem Wesen.

Sie schiebt die Fotos mit der flachen Hand zusammen und lässt sie über die Bettkante zurück in die Schachtel fallen. Sie nimmt den Karton, stemmt ihn hoch und will ihn auf seinen Platz zurückschieben. Doch irgendetwas scheint sich zu spießen. Anna greift mit ihrer Hand nach oben ins Fach, tastet den Boden ab und findet einen orangefarbenen Umschlag. Anschließend hüpft sie in die Höhe, um den restlichen Fachboden sehen zu können. Sie erkennt eine kleine, flache Plastikschachtel und ein Fläschchen, stellt sich auf die Zehenspitzen und angelt sich die beiden Dinge.

Neugierig öffnet sie die kleine, luftdicht verschlossene Schachtel und findet darin ein fein säuberlich zusammengefaltetes, dunkelblaues Halstuch. Ein herber, angenehmer, aber schwacher Geruch verbreitet sich. Sie presst das Tuch auf ihre Nase. Eindeutig ein Herrenparfüm. Ihr empfindlicher Geruchssinn erkennt: Amber, Baummoos, Moschus, und Sandelholz. Das ist kein Duft, den ihre Mutter selbst getragen hat oder trägt. Anna faltet das Tuch wieder, legt es fein säuberlich in die Schachtel zurück und drückt den Deckel auf.

Auf dem Fläschchen klebt ein neutrales Etikett, auf dem handschriftlich das Wort: KETAMIN zu lesen ist. Sie hält es gegen das Licht und schüttelt es. Die kleine Flasche ist prall gefüllt, bis hin zum oberen Rand.

Anna überlegt: KETAMIN, das Wort kommt ihr bekannt vor. Sie ist sich sicher, es schon einmal gehört zu haben. Nur in welchem Zusammenhang? Jedenfalls ist das kein Medikament, denkt sie. Wäre es eines, dann würde es ihre Mutter im Arzneischrank aufbewahren.

Anna nimmt das Kuvert zur Hand. Es ist verschlossen. Der obere Rand ist fein säuberlich verklebt. Auf dem Umschlag befindet sich ein Stempel ihrer Firma. Daneben der händische Vermerk: Birgit Santora / Ergebnis: Spektralanalyse / DNA-Analyse.

Anna ist verwirrt. Sie fragt sich, ob sie das Kuvert öffnen soll? Nein, keinesfalls, denkt sie. Es wird seinen Grund haben, warum es verschlossen ist. Ein Zeichen, dass selbst ihre Mutter keinen direkten Zugriff auf den Inhalt haben will. Außerdem scheint es Birgit zu gehören, schließlich steht ihr Name darauf. Vielleicht bewahrt sie das Kuvert für ihre Freundin auf. Sorgsam legt Anna alles wieder an seinen Platz zurück.

Wo könnte sie noch nachsehen, um einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Mutter zu finden? Sie ist ratlos.

OK, eines ist klar: Wie sie von Birgit erfahren hat, ist ihre Mutter derzeit auf Kurzurlaub. Hat sie ja schon öfter gemacht. Mit einem Joseph. Sie muss wohlauf sein, denn wenn sie einen Unfall erlitten haben, oder in einer Klemme stecken, dann hätte sie sich längst bei ihr gemeldet. Der Gedanke gefiel ihr. Damit lassen sich ihre Sorgen – für den Augenblick – besänftigen.

Anna läuft die Treppe nach unten, in die Garage, um zu überprüfen, ob der funkelnagelneue Audi A1 ihrer Mutter auf seinem Parkplatz steht. Der Wagen fehlt.

Sie greift zum Telefon. Weder verpasste Anrufe, noch Kurznachrichten werden angezeigt.

Sie versucht nochmals, ihre Mutter zu erreichen. Sie wird direkt in die Mailbox weitergeleitet. Bevor sie nach der obligaten Ansage den Piepton hören würde, unterbricht sie bereits die Verbindung.

Anna schüttelt ihren Kopf und ruft als nächstes Claudia an.

»Bigler?«

»Hallo. Können wir uns abends treffen?«, fragt sie ihre Freundin bedrückt.

»Kann ich dir noch nicht sagen. Sitze hier auf der Terrasse, mit einem netten Bekannten, inmitten der Berge. Blicke auf einen smaragdgrünen See. Hier lässt es sich aushalten. Wir sollten einmal ein Wochenende hier verbringen.«

»Schade – Melde dich, wenn du zurück bist. Brauche jemanden zum … « Ihre Freundin hat das Gespräch bereits unterbrochen. Anna schüttelt den Kopf und steckt verwundert das Mobiltelefon in ihre Tasche.

6

Bei Selbstmord würde eine einfache Bestandsaufnahme genügen, für Mord oder Unfall gibt es noch nicht viele Anhaltspunkte, aber die Möglichkeit besteht, überlegt Peter. Zunächst muss die Identität geklärt werden und er soll hinauf zur Aussichtsplattform. Der Kriminalist ist nicht erfreut über diesen Umstand.

Er blickt hinüber zu Claudia, die in der Nähe des Bootssteges steht und fotografiert.

»Ich muss zum Seeblick hinauf. Sehe ich dich nachher?!«, ruft er Claudia zu.

Sie kommt näher und antwortet mit einem verschmitzten Lächeln auf ihren Lippen: »Selbstverständlich. Du musst mir ja meinen Artikel freigeben. Aber, eine Frage: Darf ich dich begleiten, dir über die Schulter schauen?«

»Äh, das geht nicht. Hier wird ermittelt. Da sind Privatpersonen leider nicht zugelassen … «

»Aber nicht am Weg hinauf. Sieh nur, das Absperrband ist schon entfernt worden. Peter bitte, von da oben hat man sicherlich einen wunderschönen Blick auf den See. Ich könnte atemberaubende Fotos schießen. Lass mich dich … «, bettelt Claudia unabweisbar.

»… Na gut, aber bestenfalls nur über die Schulter sehen. Nichts angreifen«, lässt sich Holzinger breitschlagen.

Schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass Claudias Schuhwerk nicht die beste Wahl für so einen steilen Aufstieg ist. Sie hat Mühe, Peter zu folgen. Doch der Kommissar erweist sich als Gentleman der alten Schule. Immer wieder hält er inne und reicht Claudia seine Hand, hilft ihr über die vielen kleinen Geländestufen hinweg. Auf halber Höhe biegt er in eine Aussichtsbucht ein. Von dort hat man freien Blick auf die danebenliegende Steilwand.

»Willst du nicht fotografieren? Claudia, mach doch ein Foto. Schau … «, sagt er zu seiner Begleiterin und zieht sie an der Hand zu sich.

»Oh Gott, ist das hoch hier. Da wird mir ganz schwindelig …«, presst sie mit weit aufgerissenen Augen hervor. Instinktiv legt Peter den Arm um sie. Claudia umschlingt seine Hüfte und klammert sich an ihm fest.

»Ich halte dich, wenn du fotografieren willst.«

»Versprochen?«

»Ich hab nicht die Absicht, dich in nächster Zeit loszulassen«, säuselt er zweideutig.

»Wie lange ist bei dir ›nächste Zeit‹?«, fragt sie ihn kokettierend.

»Claudia, willst du nun oder nicht?«. Peter täuscht Verärgerung vor.

»Natürlich will ich … «, antwortet sie mit einem anmachenden Augenaufschlag, hebt ihre Kamera an und stellt das Objektiv scharf. »Aber nicht loslassen … versprochen?«

»Keine Angst – jetzt drück schon ab«, fordert er sie auf.

Der Fotoapparat klickt. Claudia schiebt den Ring des Teleobjektivs zurück. Klick. Zu guter Letzt richtet sie das Objektiv nach oben, zum Ende der Wand. Die Digitalkamera rattert wie eine alte Nähmaschine, als sie ein Panoramafoto von der Steilwand nimmt.

»Danke, das war’s.« Claudia haucht ein Küsschen auf Peters Wange, während dieser an den Abgrund herantritt und den leichten Aufwind verspürt. Hier ein paar Bögen mit dem Gleitschirm zu drehen, wäre sehr verlockend, denkt er.

Er schüttelt den Kopf, als wollte er die Gedanken aus seinen Ganglien beuteln und antwortet: »Hier geht es weiter«. Peter zieht Claudia zu sich heran.

Ihr Körper schmiegt sich an ihn. Sie küssen sich. Sie schauen einander in die Augen, bis sie ein lustvolles »Mehr« haucht.

»Ich bin im Dienst«, weist Peter ihr Verlangen lächelnd zurück, dreht sich demonstrativ um und setzt den Weg fort. Claudia bombardiert ihn mit Fragen, die er bereitwillig beantwortet. Er muss ihr ständig von seinem Job und wobei es darauf ankommt erzählen, während sie sich insgeheim fragt: ›wer klettert hier freiwillig hinauf?‹

Als die Beiden schweißgebadet am Seeblick ankommen, packen gerade die Männer in ihren weißen Schutzanzügen ihr Equipment ein.

»Servus Großer … und, habt ihr etwas gefunden?«, begrüßt Peter neugierig die Runde.

»Hallo Peter. – Nicht viel. Leider«, antwortet ihm der Ranghöchste.

»Was bedeutet: nicht viel?«

»Ich habe mich mit unserem Team unten, an der Fundstelle abgestimmt. Soviel steht bereits fest: Die Frau ist von hier aus in die Tiefe gestürzt. Und wie ich dir schon am Telefon mitgeteilt habe, hier gibt es Schleifspuren und den Abdruck eines Schuhs. Es könnten Kampfspuren sein oder es handelt sich um eine Abwehrbewegung. Nachdem sie von keinen anderen Spuren überlagert sind, müssen wir davon ausgehen, dass sie von … «

»Eine Tasche oder Ähnliches?«

»Ja, ein Mobiltelefon lag hier im Gebüsch. Ist aber nicht eingeschaltet. Vielleicht ist der Akku leer.«

»Ladet es auf. Möglicherweise erfahren wir, wem es gehört. Ausweis?«

»Nein, weder hier, noch bei den Leuten unten bei der Leiche.«

»Habt ihr Holzsplitter gefunden?«, fragt Holzinger.

»Wie kommst du jetzt auf Holzsplitter?«

»Der Gerichtsmediziner hat mir gesagt, dass er im Hinterkopf der Toten einen Holzsplitter gefunden hat. … Die Wunde rührt von einem stumpfen Gegenstand her.«

»Na ja, in der Mitte der Wand wachsen ein paar dürre Bäume aus den Spalten. Die haben wir natürlich nicht untersucht, denn wir haben keine Ausrüstung zum Abseilen dabei … nicht sag jetzt, wir sollen da hinunter? … «

»Nachdem ihr hier, ich sage jetzt einmal ›Kampfspuren‹ gefunden habt, bleibt uns nichts anderes übrig. Oder?«

»Uns? Wer ist uns?«

»Mit uns meine ich dich und dein Team.« Peter lacht.

»Du meinst, ich soll noch einmal hier herauf klettern? Und, dass wir uns von hier oben abseilen«, erwidert sein Kollege empört. »Aber … Nicht vor morgen«, fügt er resignierend hinzu.

»Das würde reichen.«

»Danke. Dann bis morgen«, verabschiedet sich der Kollege mürrisch. Er knüllt seinen Arbeitsanzug zusammen und packt ihn in den Koffer. Einer nach dem anderen schiebt sich an Claudia und Peter vorüber, um mit ihrem Abstieg zu beginnen. Als der Große an Holzinger vorübergeht, hält er kurz inne und flüstert dem Kommissar ins Ohr: »Neue Assistentin?«

»Ach, gibt mir doch eine Ruhe«, faucht Peter mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zurück. Als die Gruppe außer Hörweite ist, sagt er zu Claudia. »Das habe ich befürchtet. Jetzt muss ich alle befragen. Den Pfarrer, und die komplette Jagdversammlung. Das sind mindestens zwanzig Interviews. Die schaffe ich heute nicht mehr. Das bedeutet, ich bin morgen auch wieder hier. … Das sind die Wochenenden, die ich liebe.«

»Du könntest ja hier übernachten. Das Hotel hat sicher noch Zimmer frei.«

»Wäre eine Idee … «

»Ich bleibe auch. Ist das ein Angebot?«, fragt sie Peter. Sie legt ihre Arme um seinen Nacken.

»Soll das heißen, dass … «. Weiter kommt er nicht, denn Claudia hat ihren Zeigefinger auf seine Lippen gelegt. Anschließend küsst sie ihn auf den Mund.

₺186,63