Kitabı oku: «Mörderwelt», sayfa 2
Kapitel 3
Noch am gleichen Abend quartierte Paulsen sich ins Hotel ein. Portier Tilman Aschhoff hing wie am Morgen hinter der Rezeption und starrte auf den Bildschirm. Erst als Paulsen an das Empfangspult trat, bemerkte er ihn und nahm die Stöpsel aus den Ohren. Musik schepperte.
Paulsen tippte auf Hot Chili Peppers. Aschhoff warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Anders als am Morgen schien er ihn jetzt für einen vollwertigen Menschen zu halten.
Paulsen ließ sich ein Zimmer geben, und sie plauderten eine Weile. Paulsen erfuhr, dass Aschhoff den Portiers-Job nur vorübergehend machte, da er Medizin studieren wollte und auf einer Warteliste stand.
„Wartezeit mindestens fünf Jahre.“
„Dann musst du ja noch jede Menge Nachtschichten runterreißen.“
„Macht nichts.“ Aschhoff lachte und deutete auf den Bildschirm. „Wird jedenfalls nicht langweilig. Hab’ ja meine RPGs.“
„RPGs?“
„Role-Playing-Games.”
Er nannte die Rollenspiele, für die er sich begeisterte – für Paulsen allesamt böhmische Dörfer. Nach ein paar Nachfragen lenkte er das Gespräch auf den Mordabend, dabei stellte sich heraus, dass Aschhoff an diesem Tag Dienst gehabt hatte.
„An dem Tag ist aber niemand gekommen. Kein Gast, kein
Besucher, kein nix. Habe ich auch der Polizei gesagt.“ „Kein Besucher? Haben die Gäste denn hier öfter Besucher?“
„Kommt schon mal vor“, sagte Aschhoff zögernd, als sei er plötzlich vorsichtig geworden. Doch warum? Markierte er den loyalen Angestellten, der den Eindruck vermeiden wollte, die Prärieblume sei ein Stundenhotel? Paulsen nahm in stärker ins Visier.
„Ist es auf irgendeine Weise möglich, ungesehen ins Hotel zu gelangen? Vielleicht über einen Notausgang?“
„Es gibt nur einen zum Hof. Die Tür lässt sich aber nur von innen öffnen. Wenn jemand zur Tür gegangen wäre, hätte ich das sicher bemerkt.“
„Mit Stöpseln im Ohr?“
„Stöpsel machen nicht blind.“
„Du warst also den ganzen Abend und die ganze Nacht hier an der Rezeption?“
„Ja, klar, wo denn sonst?“
„Ist das nicht langweilig so die ganze Nacht?“
„Nicht unbedingt. Computerspiele, Musik hören … ab und zu einen durchziehen.“ Aschhoff grinste.
„Und das fällt keinem auf?“
„Wenn ich mir einen Joint drehe, mach ich das in der
Abstellkammer. Falls doch mal jemand kommen sollte.“
„Und Samstagnacht hast du auch einen durchgezogen?“
„Sicher.“
„Einen, zwei oder vielleicht drei?“
„Kann sein, weiß nicht mehr so genau.“
„Das heißt, du warst also mindestens ein oder zwei Mal in der Abstellkammer?“
„Könnte hinhauen.“
„In der Zeit hätte jemand reinkommen können.“
„Theoretisch ja. Aber das habe ich den Bullen natürlich nicht auf die Nase gebunden. Wäre cool, wenn du’s auch nicht tun würdest.“
„Versprochen. Was war mit Baranoff? Er behauptet, er sei krank gewesen.“
„Baranoff krank?“ Aschhoff überlegte einen Moment, dann kehrte anscheinend seine Erinnerung zurück. „Besoffen war der. Ich hab’ ihn doch auf sein Zimmer geschleppt.“
Besoffen oder krank, dachte Paulsen, kam fast auf das Gleiche hinaus.
„Und was weißt du über die Tote?“
„So gut wie nichts. Die hat man nie zu Gesicht bekommen.“
„Unter welchem Namen hat sie sich denn eingetragen?“
„Die hat sich nirgendwo eingetragen.“
„Ist das nicht Vorschrift?“
„Das wird hier nicht so eng gesehen.“
„Wie viele Gäste gab es sonst noch in der Nacht?“
„Nur einen. Den Schuhvertreter in der zwoten.“
„Und wie viele Gäste habt ihr im Moment?“ „Einen. Den Schuhvertreter in der zwoten.“
Paulsen bezog das Zimmer 20 auf der zweiten Etage, direkt unter Baranoffs sogenanntes Detektivbüro. Ein schlauchartiger Raum mit schmucklosem Kleiderschrank, kleinem Tisch, schmalem Bett und einer altertümlichen eisenbeschlagenen Truhe, auf dem ein mickriger Fernseher stand. Auch hier sah es so aus, als habe der Hotelbesitzer seinen Traum nur noch halb verwirklichen können. Der
Western-Stil war auf ein Indianer-Poster geschrumpft.
Es roch muffig. Paulsen öffnete das Fenster. Schwüle Luft strömte von draußen herein, und der Straßenlärm ließ das Zimmer noch ungastlicher erscheinen.
Er packte ein paar Sachen, Hemden, Socken und Wäsche, in den Schrank, legte sich aufs Bett und drückte auf der Fernbedienung herum. Der Fernseher muckte sich nicht.
Paulsen schleuderte die Tastatur weg und traf genau in den Papierkorb. Das erste Erfolgserlebnis des heutigen Tags.
Er hatte Hunger, aber keine Lust, aufzustehen. Eine Weile lag er nur da, beobachtete die Licht- und Schattenreflexe, die über die Zimmerdecke wanderten, und ließ die Gedanken schweifen. Konnte man Baranoff wirklich einen Mord zutrauen? War er nur ein angeberisches Großmaul, ein harmloses Original? Oder ein gefährlicher Irrer? Vom Original zum Spinner war es manchmal nur ein kleiner Schritt, und von einem Spinner zum Irren ein noch kleinerer. Paulsen versuchte, die Ereignisse der letzten Tage zu ordnen, doch schon bald wirbelte alles durcheinander und versank im Nebel. Das Schnarren des Telefons weckte ihn. Er schaltete die Nachttischlampe an und nahm den Hörer ab. Baranoffs krächzende Stimme ertönte.
„Besprechung bei mir im Büro. Wir warten.“
Ehe Paulsen nachfragen konnte, wen er mit ‚wir‘ meinte, hatte Baranoff aufgelegt. Was wollte er mitten in der Nacht besprechen? Vielleicht war er wirklich ein Irrer.
Vor Baranoffs Zimmer blieb Paulsen stehen und hielt das Ohr an die Tür. Gedämpfte Stimmen. Er öffnete leise. Baranoff saß am Schreibtisch, Schuhvertreter Meffert stand in der Mitte des Zimmers vor einem niedrigen Tisch mit einem Musterkoffer voller Schuhmodelle und hielt einen dick besohlten Schnürschuh in die Höhe.
„Obermaterial aus zweifarbigem Nubukleder, Einlegesohle anatomisch geformt und Fußschweiß absorbierend, die
Zehenschutzkappe aus Stahl mit rutschhemmender Keramiksohle
…“
Baranoff bemerkte Paulsen und winkte ihn herein. Paulsen setzte sich in den freien Sessel.
„…öl-, benzin- und säurebeständig“, fuhr Meffert fort. „Besonders bei schwierigen Einsätzen von Vorteil. Eine andere Variante wäre –“
„Schluss damit!“ Baranoff schnappte wie ein Reptil mit dem Kopf nach vorne.
„Wo waren Sie Samstagnacht?“
Meffert blickte irritiert. „Was soll das?“
„Wo Sie waren, möchte ich wissen.“
„Ich habe meine Aussage schon bei der Polizei gemacht.“
„Wir führen hier eigene Untersuchungen“, blaffte Baranoff ihn an.
„Wer ist ‚wir’?“
„Die Detektei Okulus.“
„Aha“, sagte Meffert, „ist die eventuell auch für die manipulierte Telefonanlage verantwortlich, mit der die Gäste hier abgehört werden?“ Er blickte Beifall heischend zu Paulsen, der sich eine Reaktion verkniff.
Baranoff ließ sich nicht beirren.
„Ich frage noch mal: Haben Sie das Mädchen gekannt?“
Meffert schnaufte verächtlich. „Sie können mich mal.“ Er wickelte den Schuh in ein Seidenpapier und verstaute ihn im Koffer.
„Sie müssen sie gekannt haben! Sie waren mindestens einmal bei ihr.“ Baranoff schlug ein kleines Notizbuch auf. „Hier, am Freitag, den sechzehnten. Sie haben bei ihr geklopft und gerufen: Mach auf, ich weiß, dass du da bist!“
Meffert tat gelassen. „Möglich. Kann sein, dass ich sie irgendwas fragen wollte.“
„Um zwei Uhr nachts?“
Meffert setzte eine listige Miene auf. „Mal angenommen, ich war an ihrer Tür. Aber woher wissen Sie das?“
Baranoff blickte einen Moment bedeppert. Dann fing er sich.
„Ich stelle hier die Fragen. Also, was wollten Sie von dem Mädchen?“
Meffert trat dicht an den Schreibtisch.
„Erst beantworten Sie mir meine Frage: Woher wissen Sie, dass ich an ihrer Tür war?“
Baranoff fummelte an seinem Hemdkragen, als sei er ihm zu eng geworden und sagte wie ein trotziges Kind: „Ich habe zuerst gefragt.“
Meffert zeigte mit dem Finger auf ihn.
„Ich will Ihnen sagen, woher Sie das so genau wissen.
Weil Sie bei dem Mädchen im Zimmer waren.“
Baranoff lehnte sich schnaufend im Sessel zurück.
„Blödsinn!“
„Also frage ich Sie: Warum waren Sie in ihrem Zimmer?“
Baranoffs Augen verengten sich. „Packen Sie ihren Ramsch zusammen und verschwinden Sie.“
Meffert lachte. „Sie sind noch nicht aus dem Schneider, Baranoff.“ Er klappte den Musterkoffer zu, klemmte ihn unter den Arm und ging hinaus.
Baranoffs Halsadern schwollen an.
„Sie schon lange nicht“, schrie er ihm nach. „Halten Sie sich für weitere Ermittlungen zur Verfügung.“ Der Vertreter knallte die Tür zu.
Kapitel 4
„Unglaublich!“
Baranoff zog ein großes schmuddeliges Taschentuch hervor und wischte sich den Nacken. Dabei schielte er zu Paulsen, als wollte er sich vergewissern, wie er das Ganze aufgenommen hatte. Paulsen verzog keine Miene.
„Wenn der Meffert glaubt, er könnte sich mit irgendwelchen Tricks herauswinden, dann hat er sich geschnitten. Mich legt der nicht rein. Auf meiner Liste bleibt er ganz oben. Cognac?“
„Ich hatte vor, schlafen zu gehen.“
„Einen zum Feierabend. Ich habe unten in der Küche noch einen guten Tropfen in petto.“
Paulsen hatte eine Idee und gab nach. Als Baranoff das Zimmer verlassen hatte, sah er sich um. Die Behausung war eine Kombination aus Büro, Küche und Wohnzimmer. Zur Büroabteilung gehörten Schreibtisch, Aktenregal und an der Wand darüber ein gerahmtes Detektiv-Diplom, ausgestellt auf Baranoffs Namen von einem ‚Council of International Investigation‘ aus den USA. Vermutlich im Internet gekauft. Als Küche diente eine Anrichte mit Elektroplatte neben einer kleinen Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte. Gegenüber der Kochnische führte eine Tür ins Nebenzimmer, eine spärlich eingerichtete Kammer mit Schlafcouch und zerwühltem Bettzeug. Der Boden mit leeren Flaschen übersät.
Vom Flur ertönten Schritte, Paulsen schloss die Tür und setzte sich zurück in den Sessel. Baranoff kam mit einer Flasche Cognac zurück, goss zwei bauchige Schwenker bis zum Rand voll und prostete ihm zu.
„Auf den ganzen Ärger!“
Er kippte den Cognac runter wie Wasser und schenkte sofort wieder nach.
Paulsen lehnte sich zurück, streckte die Füße unter den
Couchtisch und stieß dabei auf etwas Hartes. Er hob einen Schuh auf – ein auf Hochglanz poliertes Musterexemplar.
„Gehört dem Mörder“, sagte Baranoff.
„Welchem Mörder?“
„Dem Meffert. Der Irre mit den Schuhen. Hast du gesehen, wie ihm die Nerven geflattert haben? Und weißt du, warum? Der Klinkenputzer handelt nicht nur mit Schuhen, er hat noch anderes im Sortiment – nämlich Koks.“
„Und was hat das mit dem Mädchen zu tun?“
„Kann ich dir sagen: Der hat sie abgefüttert mit dem Zeug, und sie stand bei ihm bis über beide Ohren in der
Kreide.“
„Und deshalb soll er sie umgebracht haben?“
„Hundertprozentig. Für mich war es so: Sie schuldet ihm ein paar Riesen, er will das Geld aus ihr rausprügeln, gerät in einen Blutrausch und macht sie kalt.“
„Irgendeinen Beweis dafür?“
Er sah Paulsen mit listen Augen an. „Noch nicht. Aber morgen weiß ich mehr. Dann blas ich zum Halali. Wenn
Meffert den Libanesen trifft.“
„Welchen Libanesen?“
Baranoff grinste und gab zu, dass er über die Hausanlage Mefferts Telefongespräche abgehört hatte. Dabei habe er was von einer Verabredung mit einem Libanesen am Bahnhof mitbekommen, und er sei sich sicher, dass es um einen größeren Drogendeal gehe.
„Vielleicht will er nur Schuhe verkaufen.“
Baranoff lachte. „Unfallverhütungsschuhe, wie? Die können sie im Libanon vielleicht gut gebrauchen, aber ich glaube nicht, dass die heimlich im Bahnhof übergeben werden müssen.“
Allmählich spürte Paulsen den Alkohol, die Augenlider wurden schwer, und er hatte Mühe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Die Gedanken schwirrten. War Baranoff ein Schwätzer, oder wollte er ihn auf eine falsche Fährte locken? Woher wusste Baranoff überhaupt, dass Meffert … Paulsen musste ihn danach fragen, am besten sofort.
Er zuckte zusammen und öffnete die Augen. Wie lange hatte er geschlafen? Er setzte sich auf und blickte zu Baranoff.
Der lag mit dem Kopf auf der Sessellehne und schnarchte.
Als Paulsen am Morgen in seinem Zimmer erwachte, drang schwüle Luft durch das offene Fenster herein. Von der kümmerlichen Buche, dem einzigen Baum im Hinterhof, erklang dünnes Vogelgezwitscher. Paulsens Schädel pochte schmerzhaft. Zehn Uhr, u noch über eine Stunde bis zu Baranoffs geplanter Drogenjagd im Hauptbahnhof. Unter der Dusche ließ er die Nacht Revue passieren. Baranoff hatte versucht, aus dem Schuhvertreter eine Art drogensüchtigen ‚Jack the Ripper‘ zu machen. Selbst wenn es ein Hirngespinst war, Tatsache blieb, dass Meffert und das ermordete Mädchen auf irgendeine Weise Kontakt gehabt hatten.
Einigermaßen erfrischt machte Paulsen sich auf zum Bahnhof, gespannt, ob Baranoff und Meffert tatsächlich auftauchten. Auf dem Weg nach unten rief er Sascha an, seinen Whistleblower vom Polizeirevier Mariental, die verlässliche Quelle, wenn er schnell und unbürokratisch eine Information brauchte. Paulsen bat ihn nachzuforschen, ob es etwas über Winfried Baranoff im Polizeicomputer gab.
Unten im Foyer traf Paulsen auf Hotelchef Kohlhammer, den knorrigen Westernhelden. Mit den scharfen Mundfalten und tief in den Höhlen liegenden wässrigen Augen wirkte er heute Morgen noch magenkranker als bei der ersten Begegnung. Vielleicht hatte ihn die Aufregung im Haus mehr mitgenommen als ein raubeiniger Sheriff zugeben durfte. Diesmal trug er ein Holzfällerhemd mit groben rot-schwarzen Karos, ordentlich in die Jeans gestopft.
„Moment Zeit?“
Paulsen blickte auf die Uhr. „Bin gleich verabredet.“
„Nur kurz.“
Kohlhammers Büro lag in einem flachen Anbau hinter dem Foyer. Sie passierten eine hölzerne Hängebrücke über einen Bach, der auf den Boden gemalt und von blank geputzten Kieselsteinen umsäumt war. ‚Sheriff's Office‘ verkündete das Schild an der Bürotür. Entsprechend war das Büro eingerichtet: ein antiker Waffenschrank mit Winchesterbüchsen, ein altertümlicher dunkelgrüner, mannshoher Tresor, ein Schaukelstuhl und auf einem Beistelltisch eine Lampe in Form eines Planwagens. Über dem dunkel gebeizten Schreibtisch hing das Foto des Indianerhäuptlings Sitting Bull. Mit strenger Miene blickte er auf die eintretenden Bleichgesichter.
Kohlhammer setzte sich hinter den Schreibtisch.
„Hat sich das mit dem Siegelbruch geklärt?“
„Da gab’s nichts zu klären. Ich hatte nichts damit zu tun.“
Kohlhammer rieb sich die Stirn. „Was Baranoff angeht … was zum Teufel ist so interessant an dem Kerl, dass er ins Fernsehen soll?“
„Es geht um die Arbeit eines Hoteldetektivs. Baranoff hat sicher eine Menge zu erzählen.“
„Hoteldetektiv? Na ja, sagen wir mal Hauswart. Und wegen dem haben Sie sich hier einquartiert?“
Paulsen nickte. „Um ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen.“
Kohlhammer musterte ihn argwöhnisch. „Und was ist mit dem …“ Er zögerte, als scheute er sich, das unheimliche Wort auszusprechen. „Also, mit dem, was hier im Haus passiert ist? Wie denken Sie darüber?“
„Das wollte ich Sie eigentlich fragen.“
Kohlhammer blickte zu Sitting Bull, als suchte er bei ihm Rat. Nach einer Weile schien er ihn bekommen zu haben und tat ihn in gesetzten Worten kund:
„Das Leben ist ein kurzer Schatten, der über das Gras huscht.“
„Für Fayola Mafuto ein besonders kurzer Schatten“, sagte Paulsen. „War Ihnen die Ermordete eigentlich bekannt?“
„Nein.“
„Haben Sie keinen Überblick, wer hier im Hotel übernachtet?“
„Ich kümmere mich um andere Sachen.“
„Was ist mit Baranoff?“
„Baranoff arbeitet seit knapp einem Jahr bei uns.“
„Wenn ihn jemand verdächtigte, was würden Sie dazu sagen?“
Kohlhammer überlegte einen Moment, dann sagte er:
„Über einen Mann kann man nicht urteilen, bevor man nicht in seinen Mokassins gegangen ist.“
Paulsen ließ die Indianerweisheit eine Weile nachklingen, als müsse er darüber nachdenken.
„Anders gefragt: Könnte man Baranoff so etwas zutrauen?“
„Fragen Sie ihn selbst. Für mich zählt das Wort eines Mannes noch etwas.“
Paulsen gab es auf. „Wie bei den Indianern, meinen Sie, stimmt’s.“
Kohlhammer blickte ihn forschend an, schien zu überlegen, ob er ihn auf den Arm nehmen wollte, dann nickte er.
„Ja, wie bei den Indianern.“ Er deutete auf das Poster. „Wie er. Er hat zu seinem Wort gestanden. Zum Dank haben sie ihn abgeknallt.“
Paulsen nickte. „Den Sieg am Little Big Horn hat man ihm nie verziehen.“
Kohlhammer betrachtete ihn, und etwas wie Wohlwollen leuchtete in seinen Augen auf.
„Sie interessieren sich für die Geschichte der Indianer?“
„Ich weiß zumindest, dass es ’ne Tragödie war.“
Kohlhammer stand auf.
„Ich zeig Ihnen mal was.“
Er trat an das Poster und deutete auf Sitting Bulls Brust.
„Sehen Sie mal genau hin.“
Sein Finger fuhr über ein paar dunkle Punkte auf dem mit Perlenketten behängten Hirschlederhemd.
„Was sehen Sie da?“
Paulsen wusste nicht, worauf er hinauswollte.
Kohlhammer gab die Erklärung selbst. „Einschusslöcher. In dem Moment, als er ins Freie trat und die Deckung verließ, haben sie ihn erschossen.“
Für Paulsen sahen die Punkte aus wie schadhafte Stellen auf der alten Fotografie, behielt es aber für sich.
„Sie meinen, das Foto ist in den Moment gemacht worden, als er erschossen wurde?“
Kohlhammer nickte. „Dabei wollte er nur verhandeln.“
Er setzte sich zurück in den Sessel.
Paulsen dachte, Zeit, das Irrenhaus zu verlassen. Er deutete auf seine Uhr. „Muss leider los.“
Kohlhammer nickte gnädig. Paulsen hatte die Tür fast erreicht, da hörte er ihn sagen: „Wann wollten Sie denn mit der Reportage anfangen?“
Überrascht blickte Paulsen sich um.
„Wenn es geht, noch in dieser Woche.“
„Geben Sie Ihr Bestes“, sagte Kohlhammer und blickte zu seinem Häuptling.
„Danke“, sagte Paulsen mit letztem Blick auf den alten Kauz, der traumverloren dasaß, als ritt er durch die Weiten der Prärie – 140 Jahre zurück nach Little Big Horn.
Paulsen ging hinaus. In dem alten Salonspiegel neben der Tür sah er, wie Kohlhammer ihm nachblickte. Für einen Moment schien es, als ob er grinste.
Kapitel 5
Paulsen hatte den Bahnhofsvorplatz erreicht, als das Handy klingelte.
„Dein Freund hat so einiges aufm Kerbholz“, meldete sich Sascha.
„Vorstrafen?“
„’ne ganze Latte. Hausfriedensbruch, Urkundenfälschung, Erpressung, Einbruch und Amtsanmaßung.“
„Anscheinend ein unternehmungslustiger Typ.“
„’ne große Leuchte als Detektiv scheint er jedenfalls nicht zu sein. Als er mal einen jugendlichen Ausreißer zurückholen sollte, hat er versucht, daraus einen Entführungsfall zu konstruieren. Hat Schwein gehabt, dass er nicht im Knast gelandet ist.“
„Was hat er früher gemacht?“
„Bei ’ner Sicherheitsfirma gearbeitet, Überwachung von Gebäuden. Hat den Job aber vermasselt, ist entlassen worden, weil er betrunken auf Patrouillendienst mit einem Schäferhund war, dabei über den Hund gestolpert und schwer gebissen worden ist. Ins Bein.“
„Ah, daher das Hinken.“
Sascha lachte. „Das könnte natürlich auch an seinem Pferdefuß liegen.“
Ganz unwahrscheinlich kam Paulsen die Vermutung nicht vor.
Im Bahnhofsbistro suchte er einen Platz an der Theke, von wo er gute Sicht über die Halle hatte, und bestellte Sandwich und Kaffee. Die Schwüle war kaum auszuhalten. Ab und zu brach ein Sonnenstrahl durch das Hallenfenster, wurde vom verchromten Tresen reflektiert und stach ihm in die verkaterten Augen. Drei Kaffee später war er überzeugt, dass Baranoff ihm einen Bären aufgebunden hatte. Er bezahlte, wollte gerade gehen, als ihm ein Bahnschaffner auffiel, ein kleiner Dicker in dunkelblauer Uniform, mit Schirmmütze und roter Krawatte. Irgendetwas stimmte an dem Kerl nicht. Er stand mitten in der Halle vor einem Glaskasten, tat so, als studiere er die Fahrpläne, und beobachtete auffallend unauffällig die Leute ringsherum. Letzte Zweifel, um wen es sich handelte, schwanden, als er hinkend den Standort wechselte.
Kurz darauf tauchte Schuhvertreter Meffert auf, kam quer durch die Halle und blieb in Höhe des Lebensmittelladens stehen. Paulsen schlenderte vom Bistro zur Buchhandlung neben dem Service-Center und betrachtete die Auslagen im Schaufenster. In der Spiegelung beobachtete er, wie sich ein dunkelhäutiger sportlicher Typ in hellem Leinenanzug näherte und an Meffert vorbei spazierte. Meffert folgte ihm in einigem Abstand. Auch Baranoff auf der anderen Seite der Halle schien die beiden bemerkt zu haben und marschierte los. Noch hatte er nicht ganz die Hallenmitte erreicht, als zwei Uniformierte der Bundespolizei auf ihn zutraten und ihn anhielten.
Unterdessen waren Meffert und der Libanese am Automaten angelangt, wo sie Getränke zogen, ohne sich gegenseitig zu beachten. Von seiner Position aus konnte Paulsen nicht erkennen, ob sie irgendetwas übergaben oder austauschten.
Dann ging Meffert hinüber zu den Schließfächern, öffnete eine Box, entnahm einen schmalen Aktenkoffer und verschwand damit in den Toiletten. Der Libanese blieb in der Nähe stehen und wartete. Wenn es tatsächlich um Drogen ging, überprüfte Meffert vermutlich die Ware. Nach einer Weile kam er zurück und ging wortlos an dem Libanesen vorbei in Richtung Ausgang. Das Geschäft schien gelaufen.
Paulsen verfolgte Meffert bis zum Parkplatz gegenüber dem Bahnhof, wo er in einen grauen VW Passat stieg. Paulsen nahm ein Taxi und fuhr ihm nach. Meffert fühlte sich offenbar sicher, jedenfalls unternahm er nichts, um die Verfolger abzuhängen, fuhr ohne Umwege zum Frankenberger Park, hielt vor dem Hochbunker und verschwand, den Koffer unter dem Arm, im Eingang.
Paulsen stieg aus und folgte ihm, entlang der Bunkermauer, Graffiti besprüht und mit Plakaten voll gekleistert. Dem Schild am Eingang zufolge beherbergte das Betonungetüm aus dem Zweiten Weltkrieg Probe- und Konzerträume und Büros.
Er zog die schwere Eisentür auf und kam in einen Vorraum mit weißgetünchten Backsteinwänden, folgte einem neonhellen Gang, der sich nach zwanzig Metern gabelte. Er entschied sich für links und schaute sich um. Von Meffert keine Spur.
An den Metalltüren prangten Namen von Bands, die sich hier, fern von Tageslicht und Tageszeit, austoben konnten. Eine Bürotür ging auf, und ein etwa fünfzigjähriger Mann trat heraus. Mit seinem langen silbergrauen Haar, buntem Stirnband und einem Gewand, das einem Nachthemd ähnelte, sah er aus wie eine Mischung aus Hippie und Schlossgeist.
„Suchen Sie jemand?“
Paulsen nannte den Namen irgendeiner Band, den er zwei Gänge vorher gelesen hatte.
„Die kommen immer erst abends, so gegen acht.“
„Hm, schade.“ Paulsen wandte sich zum Gehen.
„Zum Ausgang geht’s aber da lang“, sagte der Alte und zeigte in die Richtung, aus der Paulsen gekommen war.
„Ja, richtig.“
Er wendete. Kurz vor der Abbiegung schaute er sich noch mal um. Der Alte stand immer noch an der Bürotür und beobachtete ihn argwöhnisch, als sei der Geist eines Luftschutzwarts in ihn gefahren, der für Ruhe und Ordnung im Bunker zu sorgen hatte.
Zurück am Eingang nahm Paulsen diesmal den rechten Gang und geriet in ein Labyrinth von ehemaligen Luftschutz- und Sanitätsräumen, vollgestellt mit dem Schrott von Belüftungsanlagen und rostigen Eisengestellen, die wie Gerippe ausgestorbener Urtiere aussahen.
Der Gang führte in einen Trakt, der anscheinend wenig oder gar nicht genutzt wurde. Es roch nach Schimmel und Urin, und statt Neonlicht erleuchteten jetzt trübe Kellerlampen die unverputzten Wände. Mit jedem Meter wurde die Luft kälter und feuchter.
Von irgendwoher kam Stimmengewirr. Paulsen blieb stehen und lauschte. Dumpfe Schläge, dann das Geräusch energischer Schritte, die näherkamen.
Er schlüpfte in einen Nebengang und verbarg sich in einer Nische. Sekunden später wischte ein Schatten vorbei. Paulsen spähte um die Ecke. Ein breitschultriger Rocker in Kutte, Jeans und Stiefeln stampfte den Gang hinunter. Auf dem Rücken trug er den Patch der Bloody Angels.
Paulsen wartete, bis die Schritte des Rockers verhallt waren, und ging weiter. Als er ein leises Wimmern vernahm, folgte er dem Geräusch und gelangte nach zwei Abbiegungen in einen großen Raum mit niedriger Decke. Das Wimmern kam von einer Gestalt, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Schuh- und Drogenhändler Meffert.
Paulsen half ihm auf. Meffert blutete aus Nase und Mund, der schicke Anzug war verdreckt und zerrissen, Haare und Gesicht eingestäubt mit weißem Pulver.
„Wie kommen Sie denn hierher?“, brachte er mit kläglicher Stimme hervor.
„Spielt jetzt keine Rolle“, sagte Paulsen. „Wir müssen so schnell wie möglich hier raus.“
Er schleppte Meffert in Richtung Ausgang. Nach einer Weile hörten sie Stimmen näherkommen, wichen in einen Nebengang aus und lauschten, die Körper an die Wand gepresst.
„Wo ist die Ratte?“
„Weiter vorn.“
Zwei Gestalten stiefelten vorbei und entfernten sich dorthin, woher Paulsen und Meffert gekommen waren. Es war zu riskant, dem Hauptgang zu folgen, so wählten sie einen Seitengang, bogen mehrmals ab und hatten bald jegliche Orientierung verloren. Ein Gang senkte sich nach unten, und sie mussten durch knöcheltiefes Wasser waten, dann ging es wieder bergauf, und sie kamen in einen großen kahlen Raum. Sie hielten inne und ruhten sich an einem massigen Betonpfeiler aus. Der Boden war übersät mit Unrat, leeren Flaschen, Bierdosen und verfaulten Matratzen, an den Wänden Warnhinweise in altdeutscher Schrift: ‚Ruhe bewahren!’ und ‚Vorsicht bei Gesprächen! Feind hört mit‘.
Als befürchteten sie das auch jetzt – mehr als siebzig Jahre nach dem Krieg – verständigten sie sich nur im Flüsterton. Über ihnen entdeckten sie einen Schacht, aus dem spärliches Tageslicht hereinfiel, vermutlich der Notausgang zum Bunkerdach, mit einer rostigen Leiter nach oben. Meffert bemerkte Paulsens Blick.
„Das schaff ich nicht.“
Meffert hatte recht. Die Leiter begann in Kopfhöhe. Selbst wenn es Paulsen gelungen wäre, ihn bis an die erste Sprosse hochzuhieven, würde er nicht die Kraft haben, allein weiter zu klettern.
Schweigend standen sie eine Weile da. Es war still wie in einer Grabkammer.
„Idealer Ort, jemanden abzumurksen“, flüsterte Paulsen. „Draußen hört einen keiner.“
„Es reicht schon, wenn sie uns einschließen“, jammerte Meffert. „Hier findet uns kein Mensch.“
„Doch, wenn der Bunker irgendwann mal abgerissen wird.“
Meffert schauderte es. „Dann finden sie nur noch unsere Knochen – abgenagt von Ratten.“
„Und haben ein echtes Puzzle zu lösen: Welcher Knochen gehört zu wem.“
Meffert betastete seine Rippen und stöhnte leise. Sie beschlossen weiterzugehen. Nach zwei weiteren Abbiegungen stießen sie auf ein weißes Schild mit rotem Pfeil: ‚Zum Ausgang‘. Ein Nebenausgang, so hofften sie, anderenfalls würden sie ihren Verfolgern womöglich direkt in die Arme laufen. Sie hatten Glück und kamen unbehelligt ins Freie. Paulsen bugsierte Meffert auf den Beifahrersitz seines Passats und setzte sich ans Steuer.
„Ich fahre Sie zum Krankenhaus.“
Meffert schwieg, als sei ihm alles egal. Gerade als Paulsen den Motor starten wollte, tauchten im Rückspiegel zwei Gestalten am Bunkereingang auf. Der eine der Bloody Angels-Rocker, der andere ein durchtrainiert wirkender, muskulöser Kerl in Lederjacke, dunklem Rolli und schwarzen Jeans. Ihren Gesten nach zu urteilen, stritten sie sich. Nach ein paar Minuten verschwanden sie wieder im Bunker. Paulsen fuhr los.
Auf dem Parkplatz des Marienhospitals half er dem lädierten Meffert aus dem Wagen.
„Vielleicht sollten Sie vorher noch den Schnee wegmachen.“
Meffert fuhr sich durchs Haar und schüttelte sich.
„Alles nur Backpulver.“
Während sie in der Ambulanz warteten, fragte Paulsen, was genau vorgefallen war. Meffert zögerte. Erst als Paulsen ihm offenbarte, dass er ihn im Bahnhof beobachtet hatte, gab Meffert sich einen Ruck und gestand, dass es um ein Drogengeschäft gegangen war.
„Bin aber total auf die Schnauze gefallen.“ Der Lieferant habe ihn reingelegt, wertloses Zeug geliefert und ihm dafür fünfzehntausend Euro abgeknöpft. „Dass das Backpulver war, habe ich bei der Übergabe nicht bemerkt.“
Paulsen grinste sich eins und ließ ihn weitererzählen.
Er habe das Zeug im guten Glauben fürs Doppelte weiterverkaufen wollen, beteuerte Meffert, was der Kunde im Musikbunker ihm allerdings nicht geglaubt hatte. Statt die vereinbarten Dreißigtausend auf den Tisch zu legen, hatte der Rocker ihm das Pulver um die Ohren gehauen und ihm zusätzlich eine Abreibung verpasst. In den Deal, mit dem er den Einstieg ins große Geschäft beginnen wollte, hatte Meffert seine gesamten Ersparnisse investiert und im wahrsten Sinne des Wortes verpulvert. „Alles futsch.“ Er machte eine Miene, als sei er Opfer eines ungerechten Schicksalsschlags geworden.
Nachdem Mefferts Wunden verarztet und keine ernsthaften Verletzungen festgestellt worden waren, lud Paulsen ihn auf einen Kaffee in die Krankenhaus-Cafeteria ein. Jetzt, im ramponierten Zustand, war von Mefferts windigen Großspurigkeit nichts mehr geblieben, als habe ihn der Schock zur Vernunft gebracht. Paulsen nutzte es, ihn nach seinem Kontakt zu der Nigerianerin zu fragen. Nach kurzem Zögern gab Meffert zu, ihr ein paar Mal ein bisschen Koks verkauft zu haben, auch für eine ihrer Freundinnen. Erst da sei ihm die Idee gekommen, das Ganze größer und geschäftsmäßig aufzuziehen.
„Gab es mal Streit mit dem Mädchen wegen Geld?“
„Nein. Es ging ja nur um geringe Mengen.“
Das stimmte oder auch nicht.
Meffert merkte, dass Paulsen argwöhnisch blieb.
„Angenommen, ich hätte das Mädchen umgebracht, meinen Sie, dann wäre ich im Hotel geblieben? Ich wäre doch längst über alle Berge.“
„Damit hätten Sie sich auf jeden Fall verdächtig gemacht.“
„Ich habe sie aber nicht umgebracht.“
„Wer denn? Etwa Baranoff?“
„Wieso nicht? Dem trau ich alles zu.“