Kitabı oku: «"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland», sayfa 4
Berufsbild »Jazzmusiker«?
Anfang der 1920er Jahre bezeichnete sich niemand hierzulande als Jazzmusiker – diese Berufsbezeichnung sollten sich Musiker erst nach 1945 geben. Der Jazz stand für viele der ihm verbundenen Künstler noch nicht einmal im Mittelpunkt ihres Schaffens, sondern war nur eines von mehreren Genres, das sie bedienten. Man spielte Tanz-, Revue- und Unterhaltungsmusik, und der Unterschied zwischen diesen drei musikalischen Welten war gering. Selbst in Operetten, die eine Art Verbeugung vor dem populären Geschmack waren, erklangen Jazztöne, etwa in Ralph Benatzkys Im Weißen Rössl.
Zum Jazz führten ganz unterschiedliche Lebenswege. Der Pianist Helmuth Wernicke (geb. 1909) etwa verdiente sich sein Geld schon als Teenager in den 1920er Jahren als Stummfilmpianist in Berlin, wodurch er in Kontakt mit Tanz- und Jazzmusikern gelangte. Andere kamen von der klassischen Musik, Ludwig Rüth (geb. 1889) etwa, der eine Ausbildung als klassischer Flötist und Dirigent besaß und vor seiner Karriere in Jazz und Tanzmusik sinfonische Orchester dirigiert hatte.
Die wenigsten Musiker jedenfalls, die in den 1920er Jahren den Jazz für sich entdeckten, taten dies gezielt. Jazzmusiker war keine Karriereoption für einen Musikstudenten jener Zeit. Viele fanden über Konservatorium, Kur-, Operetten- oder Theaterorchester ihren Weg in die Tanzmusikszene der Zeit. »Jazz« zu spielen gehörte dabei zuallererst einmal zum Handwerkszeug, genauso wie man Walzer oder Tango spielen können musste. Die klare Trennung der Musikgenres war in den 1920er und den frühen 1930er Jahren noch nicht gegeben. Die meisten Musiker verstanden sich als Tanzmusiker, und das schloss jazzigere Gigs genauso ein wie Tanzveranstaltungen, Begleitmusik für Schlagersänger oder -sängerinnen, Revuen oder Operetten, die nicht nur auf Streichensemble zurückgriffen.31
Der österreichische Trompeter Fred Clement (geb. 1902) lebte von 1926 bis 1932 in Berlin und erinnert sich, dort habe jeder durchschnittlich begabte Musiker in jenen Jahren eine Menge Geld verdienen können. Clement war gefragt und wurde vielseitig eingesetzt. »Man hat wo gespielt. Dann ist ein Anruf gekommen für ein neues Engagement. Das Engagement war aus. Servus! Auf Wiedersehen! Das nächste Engagement ist gekommen. Man hat sich nicht viel gekümmert um Details, wer mit einem oder vor oder nachher wo gespielt hat.«32
Die Berliner Szene war also groß und lebendig. Es gab Musiker wie Sand am Meer, die teils feste Engagements in Bands hatten, sich teils freiberuflich zu einzelnen Projekten zusammenfanden. Orte wie das Romanische Café oder das Café Zitemann nahe der Gedächtniskirche fungierten dabei als eine Art Musikerbörse: Dort ging man hin, wenn man keinen Gig hatte, und fand in kürzester Zeit ein neues Engagement. Neben Konzerten und Tanzmucken war auch die Studioarbeit für gute Musiker einträglich. Fred Clement berichtet: »Die Dienste waren meist tagsüber, Vormittag von 9 bis 12 Uhr, Nachmittag zwischen 13 und 16 Uhr. Als Gage haben wir pro Tag 50 Reichsmark bekommen, das war nach der Inflation sehr viel Geld damals.«33
Nehmen wir als ein weiteres Beispiel den Pianisten Georg Haentzschel, 1907 in Berlin geboren, der sich bereits ab dem 14. Lebensjahr das erste Geld als Stummfilmbegleiter verdiente und nebenbei mit einem Trio, bestehend aus Klavier, Geige und Schlagzeug, in einer Tanzbar am Kurfürstendamm auftrat. Haentzschel studierte am renommierten privaten Stern’schen Konservatorium und arbeitete drei bis fünf Monate im Jahr als Tanzmusiker. Von Jazz, erzählte er später, habe er keine Ahnung gehabt, aber er habe gerne Noten geschrieben und dank seines absoluten Gehörs leicht Arrangements von Platten transkribieren können. Die europäische Unterhaltungsmusikszene war in diesen Jahren international, und so spielte Haentzschel in Den Haag mit einer Band unter Leitung des Schlagzeugers Henk Schoep (der sich Harry Shibb nannte) mit zwei amerikanischen Bläsern, trat in Paris mit einem Tango-Orchester auf oder begleitete in Berlin Kabarett-Abende. Ab Mitte der 1920er Jahre begann er sich stärker an amerikanischen Vorbildern zu orientieren, dem Saxophonisten Frank Trumbauer etwa oder dem Pianisten Arthur Schutt. Er spielte in Tanz- und Salonorchestern zwischen Trio- und Zwölf-Mann-Stärke, deren andere Musiker aus ganz Europa kamen. In den 1930er Jahren schließlich war Haentzschel vor allem als Pianist der Goldenen Sieben aktiv, schrieb Filmmusiken und wurde zum musikalischen Leiter des Deutschen Unterhaltungsorchesters bestellt.34
Der Klarinettist Eric Borchard (geb. 1886), um ein drittes Beispiel zu erwähnen, hatte seine musikalische Karriere bei den Dresdner Philharmonikern begonnen, war dann – die Experten sind sich nicht ganz sicher, ob bereits vor oder erst nach dem Ersten Weltkrieg – in New York aktiv, und kehrte noch vor 1920 nach Deutschland zurück. Hier gründete er die Eric Concerto’s Yankee-Jazz-Band, mit der er bereits im Oktober 1920 mehrere Titel aufnahm. Auch andere Musiker der Zeit nahmen unter Bandbezeichnungen auf, die glauben machen sollten, sie seien Engländer oder Amerikaner. Herbert Fröhlich etwa trat anfangs als O. A. Evans, dann als Herbert Glad auf. Etliche Musiker benutzten anglisierte Künstlernamen, um Authentizität zu suggerieren. Es dauerte noch eine Weile, bis die Tanzmusik hierzulande sich einen eigenen Ruf erspielt hatte, der es erlaubte, Aufnahmen auch unter deutschem Namen herausbringen zu lassen. Borchard spielte Klarinette und Tenorsaxophon, und seine frühesten Aufnahmen klingen stark nach Varietémusik à la Ted Lewis und Art Hickman, wie er sie sich bei seinen frühen USA-Besuchen abgeschaut haben mag. Auch seine Bühnenshow orientierte sich klischeebeladen an den amerikanischen Vorbildern, wie sich in Fritz Langs Stummfilm Dr. Mabuse. Der Spieler von 1922 erkennen lässt, in dem Borchards Quintett (mit Klavier, Banjo, Geige und Schlagzeug) zu sehen ist. Der Bandleader hatte Kontakte zu amerikanischen Kollegen geknüpft und konnte den damals in London lebenden Posaunisten Emile Christian aus New Orleans für sein Ensemble gewinnen, der seit 1918 zwei Jahre lang der Original Dixieland Jazz Band angehört hatte.

Eric Borchard und seine Jazzband, um 1922/23
Borchard wird gern als der erste wirkliche Jazzmusiker in Deutschland genannt, und seine Aufnahmen aus dem Jahr 1924 gehören auf jeden Fall zu den ersten Beispielen, die belegen, dass Musiker nicht nur die vordergründigen Eigenschaften, sondern auch ein wenig vom Geist des Jazz verstanden hatten. Im Januar 1924 interviewt ihn der Korrespondent des New York Herald, dem Borchard erklärt: »Es ist wahr, die Deutschen tun sich schwer damit, diese komplexen amerikanischen Synkopen zu lernen.« Während andere Musiker ihr Wissen um den Jazz aus Noten bezogen, war es für Borchard am wichtigsten, dass seine Musiker Jazz von Platten lernten. »Der Schlagzeuger, der Posaunist und all die anderen müssen genau zuhören und auf ihren Instrumenten der Platte eine Stunde jeden Tag folgen, damit ihnen in Fleisch und Blut übergeht, was Synkopen wirklich bedeuten.« Als Resultat, rühmt er sich, habe er in seiner Band das Expertenwissen, für das die klassischen Musiker in Deutschland bekannt seien, und zugleich ein Wissen um all die Dinge, die wirklich guten Jazz garantierten.35
Seine Aufnahmen aus dem Jahr 1924 zeigen, dass er nicht übertrieb. »Aggravatin’ Papa« etwa stammt vom Oktober des Jahres, und wurde damit nur anderthalb Jahre aufgenommen, nachdem Bessie Smith dieses Stück eingespielt hatte. Eher als Smith scheinen Borchard und seine Musiker aber einer Aufnahme der Original Memphis Five vom Januar 1923 gelauscht zu haben, wie zumindest der generelle Klang der Band mutmaßen lässt, der dem jenes Quintetts sehr nahekommt. Emile Christian spielt ein phänomenales Solo, und das Erstaunlichste ist vielleicht, dass die anderen Soli neben ihm nicht völlig abfallen. Borchard, der drogensüchtig war, wurde 1931 wegen Totschlags zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem er in Saarbrücken versucht hatte, einer Freundin, die eine Überdosis Schlafmittel genommen hatte, den Magen auszupumpen, wobei sie erstickte. 1932 war er noch einmal im Studio, ging dann nach der »Machtergreifung« der Nazis nach Holland, wo er im Juli 1934 wahrscheinlich an einer Überdosis Drogen starb.
Borchards Musik räumt mit dem Klischee auf, dass Musiker in Europa den Jazz nicht verstanden hätten. Sein Statement im New York Herald zeigt, dass Musiker hierzulande durchaus die Qualitäten der oralen Überlieferung begriffen hatten, die den Jazz und die afro-amerikanische Musik prägten. Er wusste um das Problem der Rhythmik, und er wusste, dass Improvisation für europäische Musiker schwer zu erlernen war. So erstaunt es nicht, dass Emile Christian nicht der einzige amerikanische Musiker blieb, der über die Jahre in seiner Band mitwirkte. In der zeitgenössischen Presse aber machte Borchards Sucht nicht weniger Schlagzeilen als seine Kunst. »Seiner Musik«, schreibt etwa ein Berichterstatter nach dem Saarbrücker Gerichtsprozess, der in seinen Auftritten seine Drogensucht durchzuhören meint, »haftet etwas Wildbizarres an, das die Menschen lockt, ohne daß sie die Gründe für diese krankhafte Interessantheit der Musik des Jazzkönigs kennen. Dabei klingen aus den wilden Rhythmen der Kapelle bereits die düsteren Töne eines Todesjazzes.«36 Borchard war aber gewiss eine Ausnahmeerscheinung. Reisen bildet – auch musikalisch –, aber nur wenige andere Musiker hatten die Chance, Jazz, oder zumindest Vorformen dessen, was bald zum Jazz werden sollte, in seinem Ursprungsland kennenzulernen. Tatsächlich brauchte es dafür, sofern man sich über den Atlantik begab, ja nur offene Ohren, wie kein Geringerer als der tschechische Komponist Antonín Dvořák in den 1890er Jahren bewiesen hatte, als er an der Manhattan School of Music unterrichtete und seine amerikanischen Schüler aufforderte, sie sollten sich die Melodien der amerikanischen Ureinwohner und die geistlichen Gesänge der schwarzen Bevölkerung zu Gemüte führen und darauf eine eigene amerikanische Musiksprache aufbauen. Hierzulande jedenfalls wurden Borchard und andere Jazzmusiker gern als »Musikclowns« beschrieben, und diese Zueignung galt nicht nur ihren Bühnenkostümen oder Instrumenten, sondern zuvörderst der Tonbehandlung und den scheinbar akrobatisch-waghalsigen Experimenten, auf die sie sich einließen.
Malen nach Zahlen: Lernen von Noten
Borchard wirkt also im Rückblick wie eine Ausnahme und zugleich wie ein Vorgriff auf Erfahrungen, die andere Musiker erst etwas später machen konnten. Eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur für die Jazzgeschichtsschreibung in Deutschland war die Ankunft der ersten afro-amerikanischen Bands Mitte der 1920er Jahre. Mitchell’s Jazz Kings, die in England und Frankreich bereits vor 1920 für Aufsehen gesorgt hatten, waren in Deutschland nicht zu hören gewesen, und außer Borchard gab es kaum deutsche Musiker, die den Weg nach Amerika gefunden und dort authentische Beispiele des Jazz gehört hatten.
Der Pianist Erwin Rosenthal immerhin hatte vergleichbare biographische Erfahrungen und nahm 1921 unter dem Pseudonym Fred Ross verschiedene Titel auf, die schon in der Besetzung mit oft parallel geführten Geigen- und Banjomelodien wie eine Mischung aus Salon- und Ragtime-Ensemble klingen. In seinen Aufnahmen hatte vor allem das Klavier antreibende Funktion, während sich die Perkussion auf Holzblöcke beschränkte, was allerdings der Tatsache zuzuschreiben ist, dass man in der Zeit der Trichteraufnahmen auf komplette Schlagzeugsets im Studio verzichtete, weil die Gefahr bestand, dass deren heftige Vibration die Nadel zum Ausrutschen bringen und damit die wertvolle Matrize zerstören konnte. Ross konnte keine Noten lesen und auf dem Klavier angeblich »nur in Fis-Dur und Cis-Dur mit zwei Fingern spielen«37. Mit Jazz von der Klanggestalt, in der Borchard seinen amerikanischen Vorbildern huldigt, hat das dabei reichlich wenig zu tun.
Für alle anderen Musiker waren Anfang der 1920er Jahre die wichtigsten Informationsquellen über amerikanischen Jazz vor allem Notenpublikationen und Schallplatten. Noten allerdings erlaubten weder einen Eindruck von dem Sound dieser Musik noch gaben sie Aufschluss über die Improvisation. Sie pressten im besten Fall populäre Stücke in ein starres Ablaufschema, das Wiederholungen zuließ und oft, wie die meisten Ragtimes und frühen Broadway-Schlager, mehrthematisch angelegt war. Fred Ross’ »Ja-Da« oder sein »Watch Your Step« von 1921 zeigen kaum wirkliche improvisatorische Veränderung der Themen, weder solistisch noch im Kollektiv. Und von Improvisation mag man selbst angesichts der angeblich mangelhaften Notenfestigkeit des Bandleaders kaum sprechen. Notenveröffentlichungen wurden vielleicht als »Jazz« oder »Blues« angepriesen; tatsächlich dienten sie aber vor allem der Tanzmusikbranche. Es handelte sich in der Regel nicht einmal um Bandarrangements, sondern um Klavierfassungen, deren Untertitel – Cakewalk, One-Step, Shimmie, Foxtrott, Boston oder Tango – auf ihren angepeilten Einsatzbereich hindeuteten. Die Aufgabe vieler Kapellen vor Ort war es danach, diese Klavierfassungen jazzmäßig aufzublasen, also jazztypische Instrumente einzusetzen, vor allem Banjo und Schlagzeug, bald das Saxophon oder eine, in Anlehnung an die Original Dixieland Jazz Band, jazzmäßig phrasierende Posaune. Noten auf der anderen Seite waren analysierbar und sorgten, wie wir später sehen werden, für etliche Missverständnisse im Kreis der europäischen Konzertmusik darüber, wie Jazz tatsächlich funktioniert.
Die Anfänge der Schallplattenindustrie
Borchard hatte den richtigen Weg beschritten, seinen Musikern Platten vorgespielt und sie aufgefordert, sich die Spielhaltung anzueignen. Durch die Blockade der Alliierten nach dem Krieg fanden die ersten Jazzschallplatten erst um 1922 ihren Weg nach Deutschland, während alles davor höchstens auf Umwegen aus England oder Frankreich importiert war.38
Wie hörte man – egal ob Musiker oder Musikliebhaber – in diesen Jahren eigentlich Musik?
In den USA hatte Anfang der 1920er Jahre die Tonträgerindustrie langsam begonnen, den bis dahin weit bedeutenderen Markt der Notenveröffentlichungen zu überholen. Musik wurde vor der Industrialisierung der Tonaufzeichnung vor allem live genossen, ob im Konzert oder im heimischen Zusammenspielen. Klavierwalzen waren ein großer Verkaufsschlager; Walzenklaviere standen in öffentlichen Sälen wie auch in bürgerlichen Haushalten. Sie waren eine Art Zwitter zwischen der Möglichkeit, selbst Musik zu machen, und der mechanischen Vervielfältigung von Musik. 1898 war in Hannover die Deutsche Grammophon gegründet und zugleich die Massenproduktion von Schellackplatten begonnen worden. Anfang des Jahrhunderts wurden weitere, meist kleine Labels ins Leben gerufen, deren Betreiber darauf hofften, dass die allmähliche Standardisierung Tonträger in Form der 78-Umdrehungen-Schellackplatte zum Massenmedium werden lassen könne, die die zuvor benutzten Walzengeräte ablöste. In den USA entwarf die Plattenfirma Columbia Abspielgeräte, die nicht länger wie Grammophone aussahen, sondern sich unauffällig in die Möblierung einpassen ließen. In Amerika waren die ersten Plattenlabels dabei noch als Nebenprodukt bisheriger Musikvermarktung entstanden – etwa als Zweig von Notenverlagen oder aber als Ableger einer Klavierfabrik. Auch in Deutschland gab es Plattenlabels, die der Versuch einer Geschäftsfelderweiterung von Firmen anderer Sparten waren. Die Marke Clausophon beispielsweise wurde 1925 von der Puppenfabrik Clemens Claus AG in Thalheim im Erzgebirge gegründet.39
Die Plattenindustrie war jedenfalls auf beiden Seiten des Atlantiks im Aufschwung, als der Erste Weltkrieg dazwischenfunkte und die Verkaufszahlen einbrechen ließ. Insbesondere in Deutschland litt sie unter den Nachwirkungen des Kriegs: Schellack, das aus den Ausscheidungen der vor allem im Orient verbreiteten Lackschildlaus gewonnen wird, wurde vor allem aus Südostasien importiert, so dass die Zufuhr bis Kriegsende völlig versiegte. Der Rohstoff war begehrt und wurde sogar recycelt. Tatsächlich gab es eine Weile die Regelung, dass man neue Schallplatten nur noch dann kaufen konnte, wenn man alte zurückgab.40
Der Markt jedenfalls war eingebrochen: Wo die Deutsche Grammophon 1908 noch viereinhalb Millionen Platten gepresst und selbst während des Kriegs noch jährlich eine Million produziert hatte, waren es zum Ende des Kriegs gerade noch 400 000 Platten.41
Es dauerte eine Weile, bis die Industrie sich erholte. Erst 1919 produzierten die Plattenfirmen in Deutschland wieder mehr als eine Million Tonträger im Jahr, versuchten dabei neben dem eigenen auch die ausländischen Märkte zu bedienen. Allerdings machte die beginnende und bald galoppierende Inflation zumindest den heimischen Markt schnell wieder kaputt: In einer Zeitungsannonce vom März 1921 werden für ein Standard-Grammophon 1500 Mark verlangt; Preiserhöhungen für Schallplatten (und fast alles sonst) gab es zur selben Zeit in fast monatlichem Turnus.42 Bei einem Durchschnitts-Jahreseinkommen von 9974 Papiermark (1921) und der durch die Hyperinflation des Jahres 1923 bedingten rasanten Abwertung der Mark waren sowohl Abspielgeräte wie Platten für die meisten Deutschen unerschwinglich. Seit 1922 vertrieb die Carl Lindström AG über ihr Label Odeon Aufnahmen der amerikanischen Firma Okeh, darunter sowohl Einspielungen weißer Bands wie der Original Dixieland Jazz Band als auch schwarzer Ensembles, etwa von King Oliver oder Mamie Smith. Die Produktion von Jazzplatten allerdings war nur zum Teil für den deutschen Markt gedacht; bis 1927 wurde die Hälfte der 10 000 täglich gepressten Jazzscheiben ins Ausland exportiert.43 Die Deutsche Grammophon ging eine ähnliche Partnerschaft mit dem amerikanischen Label Brunswick ein,44 seit 1925 produzierte die deutsche Filiale von His Master’s Voice unter dem Label Electrola, und 1929 wurde die Firma Ultraphon gegründet, die 1932 von der Telefunken übernommen wurde.45
In den Vereinigten Staaten durchlebte die Plattenindustrie bereits ihre erste Krise, die sich allerdings als eine Scheinkrise herausstellte: Ab 1920 nahm die Anzahl der Rundfunkanstalten in den USA immer mehr zu, und viele sahen im Radio die Zukunft und die Schallplatte als Auslaufmodell. Diese Skepsis erreichte auch Deutschland. In den Plattenfirmen wähnte man das Ende der Produktion nahe, als am 29. Oktober 1923 die erste deutsche Rundfunksendung aus dem Vox-Haus in der Potsdamer Straße in Berlin mit den Worten »Achtung, Achtung!« begann.46
Dass der Rundfunk die Platte nicht vollständig ersetzte, hatte zwei Gründe: Zum einen mussten die Sendeanstalten selbst auf Schallplatten zurückgreifen, um ihr musikalisches Programm, das sie nicht immer live produzieren konnten, bestreiten zu können. Zum zweiten aber hatte das Publikum schnell erkannt, dass es viel angenehmer war, Musik dann abspielen zu können, wenn man Zeit hatte, anstatt sich an die Sendepläne im Radio halten zu müssen.

Schallplattengeschäft in Frankfurt am Main
Ab Mitte des Jahrzehnts jedenfalls, erzählt der amerikanische Banjospieler Mike Danzi, der damals in Berlin lebte, habe es in der Stadt an Gelegenheiten zur Plattenaufnahme nicht gemangelt, insbesondere wenn eine Band als authentisch amerikanisch galt. Allein 17 Plattenfirmen hätten ihren Sitz in Berlin gehabt, erzählt er, die für den gesamten europäischen Markt und darüber hinaus für den weltweiten Export produzieren würden.47
Die Goldenen Zwanziger – das Jazz-Zeitalter
Mit der Einführung der Rentenmark Ende 1923 und der Reichsmark im Sommer 1924 war die Inflation dieser Jahre beendet. Ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung Deutschlands konnte beginnen, und dieser Aufschwung erfasste auch die Kultur maßgeblich, die bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 das populäre Gesicht der »Goldenen Zwanziger« sein sollte.
Berlin also war der hauptsächliche Schauplatz dieses ersten deutschen Jazzjahrzehnts. Hier gab es genügend Theater, Cabarets und Ballsäle; hier gab es reichlich Arbeit für Musiker in Revuen und Shows; hier waren die wichtigsten Plattenfirmen zu Hause; hier fand man ein neugieriges, aufgeschlossenes und vergnügungsfreudiges Publikum.
Berlin war mit mehr als vier Millionen Einwohnern die größte Stadt Europas, ein Verkehrsknotenpunkt zwischen Ost und West, besaß mehrere Opernhäuser, über 40 Theater, unzählige Clubs, Tanzlokale und Varietés. Mehr noch als in anderen Metropolen Europas stand der Jazz in Deutschland dabei für eine durchaus nicht nur negativ bewertete Dekadenz, für die Abkehr vom Althergebrachten, für eine ungewisse Zukunft. Klaus Mann beschreibt all dies in seinem Lebensbericht Der Wendepunkt:
Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin im Jazz-Delirium. Der Tanz wird zur Manie, zur idée fixe, zum Kult. Die Börse hüpft, die Minister wackeln, der Reichstag vollführt Kapriolen. Kriegskrüppel und Kriegsgewinnler, Filmstars und Prostituierte, pensionierte Monarchen (mit Fürstenabfindung) und pensionierte Studienräte (völlig unabgefunden) – alles wirft die Glieder in grausiger Euphorie. Die Dichter winden sich in seherischen Konvulsionen; die ›Girls‹ der neuen Revuetheater schütteln animiert das Hinterteil. Man tanzt Foxtrott, Shimmy, Tango, den altertümlichen Walzer und den schicken Veitstanz. Man tanzt Hunger und Hysterie, Angst und Gier, Panik und Entsetzen. […] Ein geschlagenes verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessen im Tanz. Aus der Mode wird die Obsession; das Fieber greift um sich, unbezähmbar, wie gewisse Epidemien und mystische Zwangsvorstellungen des Mittelalters. Die Symptome der Jazz-Infektion, die Zeichen der hüpfenden Sucht lassen sich im ganzen Land bemerken; am gefährlichsten betroffen aber ist das schlagende Herz des Reiches, die Hauptstadt.48