Kitabı oku: «Die Kapuzinergruft», sayfa 3
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Hier, an dieser Stelle, muß ich von einer wichtigen Angelegenheit sprechen, von der ich, als ich dieses Buch zu schreiben anfing, gehofft hatte, ich könnte sie umgehen. Es handelt sich nämlich um nichts anderes als die Religion.
Ich war ungläubig, wie meine Freunde, wie alle meine Freunde. Ich ging niemals zur Messe. Wohl aber pflegte ich meine Mutter bis vor den Eingang zur Kirche zu begleiten, meine Mutter, die zwar vielleicht nicht gläubig war, wohl aber »praktizierend«, wie man sagt. Damals haßte ich die Kirche geradezu. Ich weiß heute, da ich gläubig bin, zwar nicht mehr, warum ich sie haßte. Es war »Mode« sozusagen.
Ich hätte mich geschämt, wenn ich meinen Freunden hätte sagen müssen, daß ich zur Kirche gegangen sei. Es war keine wirkliche Feindseligkeit gegen die Religion in ihnen, sondern eine Art Hochmut, die Tradition anzuerkennen, in der sie aufgewachsen waren. Zwar wollten sie das Wesentliche ihrer Tradition nicht aufgeben; aber sie – und ich gehörte zu ihnen –, wir rebellierten gegen die Formen der Tradition, denn wir wußten nicht, daß wahre Form mit dem Wesen identisch sei und daß es kindisch war, eines von dem andern zu trennen. Es war kindisch, wie gesagt: aber wir waren damals eben kindisch. Der Tod kreuzte schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken, fröhlich und kindisch. Wir fühlten ihn nicht, den Tod. Wir fühlten ihn nicht, weil wir Gott nicht fühlten. Unter uns war Graf Chojnicki der einzige, der noch an den religiösen Formen festhielt, aber auch nicht etwa aus Gläubigkeit, sondern dank dem Gefühl, daß die Noblesse ihn dazu verpflichtete, die Vorschriften der Religion zu befolgen. Er hielt uns andere, die wir sie vernachlässigten, für halbe Anarchisten. »Die römische Kirche«, so pflegte er zu sagen, »ist in dieser morschen Welt noch die einzige Formgeberin, Formerhalterin. Ja, man kann sagen, Formspenderin. Indem sie das Traditionelle des sogenannten ›Althergebrachten‹ in der Dogmatik einsperrt wie in einem eisigen Palast, gewinnt und verleiht sie ihren Kindern die Freiheit, ringsum, außerhalb dieses Eispalastes, der einen weiten, geräumigen Vorhof hat, das Lässige zu treiben noch das Verbotene zu verzeihen, beziehungsweise zu führen. Indem sie Sünden statuiert, vergibt sie bereits diese Sünden. Sie gestattet geradezu keine fehlerlosen Menschen: dies ist das eminent Menschliche an ihr. Ihre tadellosen Kinder erhebt sie zu Heiligen. Dadurch allein gestattet sie implicite die Fehlerhaftigkeit der Menschen. Ja, sie gestattet die Sündhaftigkeit in dem Maße, daß sie jene Wesen nicht mehr für menschlich hält, die nicht sündhaft sind: die werden selig oder heilig. Dadurch bezeugt die römische Kirche ihre vornehmste Tendenz, zu verzeihen, zu vergeben. Es gibt keine noblere Tendenz als die Verzeihung. Bedenken Sie, daß es keine vulgärere gibt als die der Rache. Es gibt keine Noblesse ohne Großzügigkeit, wie es keine Rachsucht gibt ohne Vulgarität.«
Er war der Älteste und Klügste unter uns, der Graf Chojnicki; aber wir waren zu jung und zu töricht, um seiner Überlegenheit jene Verehrung zu zollen, die sie gewiß verdiente. Wir hörten ihm eher gefällig zu, und obendrein bildeten wir uns noch ein, daß wir ihm eine Liebenswürdigkeit erwiesen, indem wir ihm zuhörten. Er war für uns sogenannte Junge ein älterer Herr. Später erst, im Kriege, war es uns beschieden zu sehen, um wieviel jünger er in Wahrheit war als wir.
Aber spät erst, viel zu spät, sahen wir ein, daß wir zwar nicht jünger waren als er, sondern einfach ohne Alter, sozusagen unnatürlich ohne Alter. Dieweil er natürlich war, würdig seiner Jahre, echt und gottgesegnet.
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Ein paar Monate später erhielt ich den folgenden Brief von dem Fiaker Manes Reisiger:
»Sehr verehrter Herr!
Nach der großen Ehre und der großen Dienstleistung, die Sie mir erwiesen haben, erlaube ich mir ergebenst, Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihnen sehr, sehr dankbar bin. Mein Sohn schreibt mir, daß er Fortschritte im Konservatorium macht, und sein ganzes Genie habe ich Ihnen zu verdanken. Ich danke Ihnen auch von Herzen. Gleichzeitig erlaube ich mir ergebenst, Sie zu bitten, ob Sie nicht die große Güte hätten, hierher, zu uns, zu kommen. Ihr Cousin, der Maronibrater Trotta, wohnt immer, das heißt: seit zehn Jahren, bei mir, jeden Herbst. Ich habe mir vorgestellt, daß es auch Ihnen angenehm wäre, bei mir zu wohnen. Mein Häuschen ist arm, aber geräumig.
Sehr verehrter Herr! Nehmen Sie mir gefälligst diese Einladung nicht übel. Ich bin so klein, und Sie sind so groß! Verehrter Herr! Ich bitte auch um Entschuldigung, daß ich diesen Brief schreiben lasse. Ich kann nämlich selbst nicht schreiben, außer meinen Namen. Diesen Brief schreibt, auf meinen Willen, der öffentlich konzessionierte Schreiber unseres Ortes, Hirsch Kiniower, also ein zuverlässiger, ordentlicher und amtlicher Mensch. Des sehr verehrten Herrn ergebener:
Manes Reisiger, Fiaker in Zlotogrod.«
Der ganze Brief war in sorgfältiger, kalligraphischer Schrift geschrieben: »wie gedruckt« sagte man damals von dieser Art Schrift. Nur die Unterschrift, der Name eben, verriet die rührende Ungelenkigkeit der Fiakerhand. Dieser Anblick der Unterschrift allein hätte mir genügt, meinen Entschluß zu fassen und meine Reise nach Zlotogrod für den nächsten Frühherbst festzusetzen. Sorglos waren wir damals alle, und ich war sorglos wie alle die anderen. Unser Leben war vor dem großen Krieg idyllisch, und schon eine Reise nach dem fernen Zlotogrod schien uns allen ein Abenteuer. Und daß ich der Held dieses Abenteuers sein sollte, war mir selbst eine großartige Gelegenheit, großartig vor meinen Freunden dazustehen. Und obwohl diese abenteuerliche Reise noch so weit vor uns lag und obwohl ich allein sie zu machen hatte, sprachen wir doch jeden Abend von ihr, als trennte mich lediglich eine Woche von Zlotogrod und als hätte ich sie nicht allein, sondern wir alle gemeinsam zu unternehmen. Allmählich wurde diese Reise für uns alle eine Leidenschaft, sogar eine Besessenheit. Und wir begannen, uns das ferne kleine Zlotogrod sehr willkürlich auszumalen, dermaßen, daß wir selbst schon, während wir noch Zlotogrod schilderten, überzeugt waren, wir entwürfen davon ein ganz falsches Bild; und daß wir dennoch nicht aufhören konnten, diesen Ort, den keiner von uns kannte, zu entstellen. Das heißt: mit allerhand Eigenschaften auszustatten, von denen wir von vornherein wußten, sie seien die willkürlichen Ergebnisse unserer Phantasie und keineswegs die realen Qualitäten dieses Städtchens.
So heiter war damals die Zeit! Der Tod kreuzte schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken. Wir sahen ihn nicht, wir sahen nicht seine Hände. Wir sprachen von Zlotogrod dringlich so lange und so intensiv, daß ich von der Furcht erfaßt wurde, es könnte eines Tages plötzlich verschwinden oder meine Freunde könnten zu glauben anfangen, jenes Zlotogrod sei unwirklich geworden und es existierte gar nicht und ich hätte ihnen nur davon erzählt. Plötzlich erfaßten mich die Ungeduld und sogar die Sehnsucht nach diesem Zlotogrod und nach dem Fiaker namens Reisiger.
Mitten im Sommer des Jahres 1914 fuhr ich hin, nachdem ich Vetter Trotta nach Sipolje geschrieben hatte, daß ich ihn dort erwarte.
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Mitten im Sommer des Jahres 1914 fuhr ich also nach Zlotogrod. Ich kehrte im Hotel »Zum Goldenen Bären« ein, dem einzigen Hotel dieses Städtchens, von dem man mir gesagt hatte, es sei einem Europäer angemessen.
Der Bahnhof war winzig, wie jener in Sipolje, den ich in gewissenhafter Erinnerung behalten hatte. Alle Bahnhöfe der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gleichen einander, die kleinen Bahnhöfe in den kleinen Provinzorten. Gelb und winzig, waren sie trägen Katzen ähnlich, die winters im Schnee, sommers in der Sonne lagern, gleichsam beschützt von dem überlieferten kristallenen Glasdach des Perrons und überwacht von dem schwarzen Doppeladler auf gelbem Hintergrund. Überall, in Sipolje wie in Zlotogrod, war der Portier der gleiche, der gleiche Portier mit dem erhabenen Bauch, der dunkelblauen, friedfertigen Uniform, dem schwarzen Riemen quer über der Brust, dem Riemen, in dem die Glocke steckte, die Mutter jenes seligen, dreimaligen, vorschriftsmäßigen Klingelns, das die Abfahrt ankündigte; auch in Zlotogrod, wie in Sipolje, hing am Perron, über dem Eingang zum Bureau des Stationsvorstehers, jenes schwarze, eiserne Instrument, aus dem wunderbarerweise das ferne, silberne Klingeln des fernen Telephons kam, Signale, zart und lieblich, aus anderen Welten, so daß man sich wunderte, daß sie Zuflucht gefunden hatten in einem so schweren, wenn auch kleinen Gehäuse; auf der Station in Zlotogrod, wie auf der in Sipolje, salutierte der Portier den Ankommenden wie den Abreisenden, und sein Salutieren war wie eine Art militärischen Segens; auf dem Bahnhof in Zlotogrod, wie auf dem in Sipolje, gab es den gleichen »Wartesaal zweiter und erster Klasse«, das gleiche Büfett mit den Schnapsflaschen und der gleichen blonden, vollbusigen Kassiererin und den zwei riesengroßen Palmen rechts und links vom Büfett, die ebenso an Vorweltgewächse erinnerten wie an Pappendeckel. Und vor dem Bahnhof warteten die drei Fiaker, genauso wie in Sipolje. Und ich erkannte sofort den unverkennbaren Fiaker Manes Reisiger.
Selbstverständlich war er es, der mich zum Hotel »Zum Goldenen Bären« fuhr. Er hatte einen schönen, mit zwei silbergrauen Schimmeln bespannten Fiaker, die Speichen der Räder waren gelb lackiert und die Räder mit Gummi versorgt, so wie sie Manes in Wien bei den sogenannten »Gummiradlern« gesehen hatte.
Er gestand mir unterwegs, daß er eigentlich nicht so sehr meinetwegen, in Erwartung meiner Ankunft, seinen Fiaker renoviert hatte wie aus einer Art jener instinktiven Leidenschaft, die ihn zwang, seine Kollegen, die Wiener Fiaker, genauer zu beobachten und seine Ersparnisse dem Gott des Fortschritts zu opfern, zwei Schimmel zu kaufen und Gummireifen um die Räder zu tun.
Der Weg vom Bahnhof zur Stadt war sehr weit, und Manes Reisiger hatte lang Zeit, mir die Geschichten zu erzählen, die ihn so nahe angingen. Er hielt dabei mit der linken Hand die Zügel. Zu seiner Rechten stak die Peitsche in ihrem Futteral. Die Schimmel kannten wohl den Weg. Es war keineswegs nötig, sie zu lenken. Manes brauchte sich gar nicht um sie zu kümmern. Er saß also nachlässig auf dem Kutschbock, hielt die Zügel sorglos und schlaff in der Linken und neigte sich mir mit dem halben Oberkörper zu, während er mir seine Geschichte erzählte. Beide Schimmel zusammen hatten nur hundertfünfundzwanzig Kronen gekostet. Es waren ärarische Schimmel, jeder auf dem linken Auge blind geworden, für militärische Zwecke also unbrauchbar und von den in Zlotogrod stationierten Neuner-Dragonern billig abgegeben. Allerdings hätte er, der Fiaker Manes Reisiger, sie niemals so leicht kaufen können, wenn er nicht ein Liebling des Obersten von dem Neuner-Dragoner-Regiment gewesen wäre. Es gab im ganzen fünf Fiaker im Städtchen Zlotogrod. Die andern vier, die Kollegen Reisigers, hatten schmutzige Wagen, faule und lahme alte Stuten, krumme Räder und ausgefranste Ledersitze. Die Holzwolle kroch nur so wild durch das abgeschabte und löchrige Leder, und es war wahrhaftig keinem Herrn, geschweige denn einem Obersten von den Neuner-Dragonern zuzumuten, daß er sich in solch einen Fiaker setzte.
Ich hatte eine Empfehlung von Chojnicki an den Garnisonskommandanten, den Obersten Földes von den Neunern, ebenso wie an den Bezirkshauptmann, den Baron Grappik. Gleich morgen, am nächsten Tag nach meiner Ankunft also, gedachte ich beide Besuche zu machen. Der Fiaker Manes Reisiger verfiel in Schweigen, er hatte nichts mehr Wichtiges zu erzählen, alles, was wichtig in seinem Leben war, hatte er bereits gesagt. Dennoch aber ließ er immer noch die Peitsche im Futteral, dennoch hielt er immer noch die Zügel schlaff und lose, dennoch wandte er mir immer noch vom Kutschbock her seinen Oberkörper zu. Das ständige Lächeln seines breiten Mundes mit den starken, weißen Zähnen zwischen der nächtlichen, fast schon blauen Schwärze seines Schnurrbarts und seines Bartes erinnerte leicht an einen milchigen Mond zwischen Wäldern, zwischen angenehmen Wäldern eben. So viel Heiterkeit, so viel Güte war in diesem Lächeln, daß es sogar die Kraft der fremden, flachen, wehmütigen Landschaft beherrschte, durch die ich fuhr. Denn weite Felder zu meiner Rechten, weite Sümpfe zu meiner Linken dehnten sich auf dem Weg zwischen der Bahnstation Zlotogrod und dem Städtchen Zlotogrod, es war, als wäre es gleichsam in freiwilliger Keuschheit bewußt ferne dem Bahnhof geblieben, der es mit der Welt verband. Es war ein regnerischer Nachmittag und, wie gesagt, am Anfang des Herbstes. Die Gummiräder des Fiakers Manes rollten gespenstisch lautlos durch die aufgeweichte, ungepflasterte Landstraße, aber die schweren Hufe der starken, dereinst ärarischen Schimmel klatschten in wuchtigem Rhythmus durch den dunkelgrauen Schlamm, und die dicken Kotklumpen spritzten vor uns her. Es war bereits Halbdunkel, als wir die ersten Häuser erreichten. Mitten auf dem Ringplatz, der kleinen Kirche gegenüber, stand, durch eine einsame, traurige Laterne von weitem schon kundgetan, das einzige zweistöckige Haus von Zlotogrod: nämlich das Hotel »Zum Goldenen Bären«. Die einsame Laterne davor erinnerte an ein Waisenkind, das durch Tränen vergeblich zu lächeln versucht.
Dennoch, auf so viel Fremdes, mehr als dies: nämlich Weites und Entferntes ich mich auch vorbereitet hatte, erschien mir auch das meiste heimisch und vertraut. Viel später erst, lange nach dem großen Krieg, den man den »Weltkrieg« nennt, mit Recht, meiner Meinung nach, und zwar nicht etwa, weil ihn die ganze Welt geführt hatte, sondern weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt, verloren haben, viel später also erst sollte ich einsehen, daß sogar Landschaften, Äcker, Nationen, Rassen, Hütten und Kaffeehäuser verschiedenster Art und verschiedenster Abkunft dem durchaus natürlichen Gesetz eines starken Geistes unterliegen müssen, der imstande ist, das Entlegene nahezubringen, das Fremde verwandt werden zu lassen und das scheinbar Auseinanderstrebende zu einigen. Ich spreche vom mißverstandenen und auch mißbrauchten Geist der alten Monarchie, der da bewirkte, daß ich in Zlotogrod ebenso zu Hause war wie in Sipolje, wie in Wien. Das einzige Kaffeehaus in Zlotogrod, das Café Habsburg, gelegen im Parterre des Hotels »Zum Goldenen Bären«, in dem ich abgestiegen war, sah nicht anders aus als das Café Wimmerl in der Josefstadt, wo ich gewohnt war, mich mit meinen Freunden am Nachmittag zu treffen. Auch hier saß hinter der Theke die wohlvertraute Kassiererin, so blond und so füllig, wie zu meiner Zeit nur die Kassiererinnen sein konnten, eine Art biedere Göttin des Lasters, eine Sünde, die sich selbst preisgab, indem sie sich nur andeutete, lüstern, verderblich und geschäftstüchtig lauernd zugleich. Desgleichen hatte ich schon in Agram, in Olmütz, in Brünn, in Kecskemet, in Szombathely, in Ödenburg, in Sternberg, in Müglitz gesehen. Die Schachbretter, die Dominosteine, die verrauchten Wände, die Gaslampen, der Küchentisch in der Ecke, in der Nähe der Toiletten, die blaugeschürzte Magd, der Landgendarm mit dem lehmgelben Helm, der auf einen Augenblick eintrat, ebenso autoritär wie verlegen, und der das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett schüchtern fast in den Regenschirmständer lehnte, und die Tarockspieler mit den Kaiserbärten und den runden Manschetten, die sich jeden Tag pünktlich um die gleiche Stunde versammelten: all dies war Heimat, stärker als nur ein Vaterland, weit und bunt, dennoch vertraut und Heimat: die kaiser- und königliche Monarchie. Der Bezirkshauptmann Baron Grappik und der Oberst der Neuner-Dragoner Földes, sie sprachen beide das gleiche näselnde, ärarische Deutsch der besseren Stände, eine Sprache, hart und weich zugleich, als wären Slawen und Italiener die Gründer und Väter dieser Sprache, einer Sprache voller diskreter Ironie und voll graziöser Bereitschaft zur Harmlosigkeit, zum Plausch und sogar zum holden Unsinn. Es dauerte kaum eine Woche, und ich war in Zlotogrod ebenso heimisch, wie ich es in Sipolje, in Müglitz, in Brünn und in unserem Café Wimmerl in der Josefstadt gewesen war.
Selbstverständlich fuhr ich jeden Tag im Fiaker meines Freundes Manes Reisiger durch die Gegend. Das Land war in Wirklichkeit arm, aber es zeigte sich anmutig und sorglos. Die weit gebreiteten, unfruchtbaren Sümpfe selbst erschienen mir saftig und gütig und der freundliche Chor der Frösche, der aus ihnen emporstieg, als ein Lobgesang von Lebewesen, die besser als ich wußten, zu welchem Zweck Gott sie und ihre Heimat, die Sümpfe, geschaffen hatte.
In der Nacht hörte ich manchmal die heiseren, oft unterbrochenen Schreie der hoch fliegenden wilden Gänse. An Weiden und Birken hing noch reichlich das Laub, aber von den großen, Ehrfurcht heischenden Kastanien fielen bereits die sauber gezackten, harten, goldgelben Blätter. Die Enten schnatterten mitten in der Straße, in denen unregelmäßige Tümpel den silbergrauen, nie trocknenden Schlamm unterbrachen.
Ich pflegte am Abend mit den Offizieren des Neuner-Dragoner-Regiments zu essen; richtiger gesagt: zu trinken. Über den Kelchen, aus denen wir tranken, kreuzte der unsichtbare Tod schon seine knochigen Hände. Wir ahnten sie noch nicht. Manchmal blieben wir spät zusammen. Aus einer unerklärlichen Angst vor der Nacht erwarteten wir den Morgen. Aus einer unerklärlichen Angst, sagte ich eben, weil sie uns damals erklärlich zu sein schien; denn wir suchten die Erklärung in der Tatsache, daß wir zu jung waren, um die Nächte zu vernachlässigen. Indessen war es, wie ich erst später sah, die Angst vor den Tagen, genauer gesagt, vor den Vormittagen, den klarsten Zeiten des Tages. Da sieht man deutlich, und man wird auch deutlich gesehen. Und wir, wir wollten nicht deutlich sehen, und wir wollten auch nicht deutlich gesehen werden.
Am Morgen also, um sowohl dieser Deutlichkeit zu entgehen als auch dem dumpfen Schlaf, den ich wohl kannte und der einen Menschen nach einer durchwachten und durchzechten Nacht überfällt, wie ein falscher Freund, ein schlechter Heiler, ein griesgrämiger Gütling und ein tückischer Wohltäter, flüchtete ich mich zu Manes, dem Fiaker. Oft gegen sechs Uhr früh kam ich in dem Augenblick an, wo er eben aus dem Bett gestiegen war. Er wohnte außerhalb des Städtchens, in der Nähe des Friedhofs. Ich brauchte ungefähr eine halbe Stunde, um zu ihm zu gelangen. Manchmal kam ich just in dem Moment an, in dem er gerade aufgestanden war. Sein Häuschen lag einsam, umgeben von Feldern und Wiesen, die ihm nicht gehörten, blau getüncht und mit einem schwarzgrauen Schindeldach versehen, nicht unähnlich einem lebendigen Wesen, das nicht zu stehen, sondern sich zu bewegen schien. So kräftig war die dunkelblaue Farbe der Wände innerhalb des welk werdenden Grüngelbs der Umgebung. Wenn ich das dunkelrote Tor aufstieß, das den Eingang zu der Wohnung des Fiakers Manes freigab, sah ich ihn zuweilen gerade aus seiner Haustür steigen. Vor dieser braunen Haustür stand er da, im groben Hemd, in groben Unterhosen, barhäuptig und barfüßig, eine große, braune, irdene Kanne in der Hand. Er trank immer wieder einen Schluck, dann spuckte er das Wasser aus dem Munde in großem Bogen aus. Mit seinem gewaltigen, schwarzen Vollbart, gerade gegenüber der eben aufgehenden Sonne, in seinem groben Leinen, mit seinen struppigen und wolligen Haaren, erinnerte er an Urwald, Urmensch, Vorzeit, verwirrt und verspätet, man wusste nicht warum. Er zog sein Hemd aus und wusch sich am Brunnen. Er pustete gewaltig dabei, spie, kreischte, jauchzte fast, es war wahrhaftig wie ein Einbruch der Vorwelt in die Nachwelt. Dann zog er sein grobes Hemd wieder an, und wir gingen beide einander entgegen, um uns zu begrüßen. Diese Begrüßung war ebenso feierlich wie herzlich. Es war eine Art von Zeremoniell und, obwohl wir uns fast jeden Morgen sahen, immer wieder eine stillschweigende Versicherung der Tatsache, daß weder ich ihn lediglich für einen jüdischen Fiaker hielt noch er mich lediglich für einen einflußreichen jungen Herrn aus Wien. Manchmal bat er mich, die spärlichen Briefe zu lesen, die sein Sohn aus dem Konservatorium schrieb. Es waren ganz kurze Briefe, aber da er erstens nicht schnell die deutsche Sprache begriff, in der ihm der Sohn zu schreiben sich verpflichtet fühlte – weiß Gott aus welchem Grund –, und zweitens, weil sein zärtliches Vaterherz wünschen mochte, daß diese Briefe nicht zu kurz seien, achtete er darauf, daß ich sie sehr langsam lese. Oft verlangte er auch, daß ich die Sätze zwei- oder dreimal wiederhole.
Das Geflügel in seinem kleinen Stall begann zu gackern, sobald er in den Hof trat. Die Pferde wieherten, lüstern fast, dem Morgen entgegen und dem Fiaker Manes. Er schloß zuerst den Pferdestall auf, und beide Schimmel steckten gleichzeitig die Köpfe zur Tür heraus. Er küßte sie beide, so, wie man Frauen küßt. Dann ging er in den Schuppen, um den Wagen herauszubringen. Hierauf spannte er die Pferde ein. Dann schloß er den Hühnerstall auf, und das Geflügel zerstreute sich kreischend und flügelschlagend. Es sah aus, als ob sie eine unsichtbare Hand über den Hof ausgesät hätte.
Ich kannte auch die Frau des Fiakers Manes Reisiger. Etwa eine halbe Stunde später als er pflegte sie aufzustehen und mich zum Tee einzuladen. Ich trank ihn in der blau getünchten Küche, vor dem großen, weißblechernen Samowar, während Manes geschabten Rettich, Zwiebelbrot und Gurken aß. Es roch stark, aber heimlich, heimisch fast, obwohl ich niemals diese Art Frühstück gegessen hatte; ich liebte damals eben alles, ich war jung, einfach jung.
Ich hatte sogar die Frau meines Freundes Manes Reisiger gern, obwohl sie zu den – im allgemeinen Sprachgebrauch sogenannten – häßlichen Frauen gehörte, denn sie war rothaarig, sommersprossig und sah einer aufgequollenen Semmel ähnlich. Dennoch, und trotz ihrer fetten Finger, hatte sie eine appetitliche Art, den Tee einzuschenken, ihrem Mann das Frühstück zu bereiten. Sie hatte ihm drei Kinder geboren. Zwei von ihnen waren an den Pocken gestorben. Manchmal sprach sie von den toten Kindern, als wären sie noch lebendig. Es war, als gäbe es für sie keinen Unterschied zwischen den begrabenen Kindern und jenem nach dem Wiener Konservatorium abgewanderten Sohn, der ihr so gut wie gestorben erscheinen mochte. Ausgeschieden war er eben aus ihrem Leben.
Durchaus lebendig und allzeit gegenwärtig aber war ihr mein Vetter, der Maronibrater. Hier vermutete ich allerhand.
Eine Woche später mußte er kommen, mein Vetter Joseph Branco Trotta.
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