Kitabı oku: «Still», sayfa 2

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3

Der Mittwochabend beginnt mit einem Kurzschluß. Draußen tobt ein Sturm, die Scheiben sind vereist. Plötzlich ist es finstere Nacht im Pub. Die Gespräche verstummen, irgendwo klirren Gläser aneinander, dann ist nur noch der Verkehr auf der Rheinstraße deutlich zu hören. Ein Bus rumpelt vorbei und gibt ein Schnaufen von sich. Jemand ruft, ob denn die Welt untergegangen sei oder was. Sie lachen und verlangen nach Freibier. Feuerzeuge werden in die Luft gehalten, einer stimmt Freiheit von Westernhagen an, und alle singen mit. Mittendrin geht das Licht wieder an. Der Gesang verstummt, keiner sagt was, die Gäste runzeln die Stirn und sehen sich um, dann brechen sie in lauten Jubel aus, als hätten sie einen Bombenangriff überlebt. Die Jukebox erwacht wieder zum Leben und nach einer Minute ist es so, als wäre nichts geschehen.

Vor mir steht eine Schale mit Erdnüssen und ein Wodka Lemon. Das Glas schwitzt auf die Tischplatte. Es ist Mitte Februar und die Heizungen laufen auf Hochtouren. Hagen sitzt mir gegenüber und weigert sich, seine Wollmütze abzunehmen. Seine Locken schauen unter den Rändern hervor, und er erinnert mich an einen Fischer, der eben sein Schiff verlassen hat. Achim und Edmont sind mir so nahe, daß sich unsere Schultern berühren. Achim sitzt links von mir, er hat bisher kein Wort gesagt. Sein kahler Kopf glänzt, als hätte er ihn eben erst rasiert. Rechts von mir rieche ich Edmonts Kleidung. Sein Hemd ist aus Hirschleder, und ich muß es anfassen, weil er meint, sowas Weiches hätte ich bestimmt noch nie berührt.

– Wie Babyhaut, erklärt er mir.

Edmont ist einer von diesen Kumpels, die einen immer anstoßen. Derb, laut und nah. Er klackt mit seinem Glas gegen Achims Glas.

– Ohne dich wäre ich nicht hier.

– Laß mal stecken, sagt Achim und grinst plötzlich.

Achim und Edmont sind Mitte der 80er Jahre direkt nach dem Abitur von Bonn nach Berlin gezogen, um dem Wehrdienst zu entgehen. Sie sind seit ihrer Kindheit beste Freunde und sagen, sie haben die Flucht gemeinsam geplant. Bonn hat sie seitdem nicht wiedergesehen. Achim schloß sein Studium als Elektroingenieur ab, zwei Jahre später leitete er seine eigene Firma und verlegte sich Anfang der 90er auf die Installation von Satellitenschüsseln. Edmont dagegen hat zehn Jahre lang Oldtimer aufgemotzt, jetzt betreibt er mit seiner Frau eine Fahrschule in Frohnau. Lemke & Lenkrad. Er fährt das ganze Jahr über Motorrad und trägt einen offenen Helm. Dementsprechend ist sein Gesicht windgegerbt, und die Männer nennen ihn spaßeshalber Leatherface. Edmont hat ein winziges Hörgerät, ohne das er auf dem rechten Ohr taub wäre. »Irgendeine Kinderkrankheit«, hat er mir erklärt, aber ich weiß es besser. Als er sieben war, schlug ihn sein Stiefvater krankenhausreif. Edmont spricht nie über seine Kindheit. Er spricht viel über seine Urlaube. Die letzten drei Wochen war er mit seiner Frau in Tunesien. Sie verreisen zweimal im Jahr. Es muß immer exotisch sein, denn exotisch ist anders und spannend. Jetzt ist er braungebrannt und froh, wieder in Deutschland zu sein. Er sorgt für die Balance in der Gruppe, er wäre gerne der Anführer, der Anführer ist noch nicht da.

– Irgendwas von Franco gehört? fragt Hagen.

Achim und Edmont schütteln den Kopf.

– Ich ruf ihn mal an.

Hagen fischt sein Handy heraus. Achim legt ihm die Hand auf den Arm.

– Franco kommt schon.

– Aber---

– Alter, laß es sein, okay?

Achim grinst, seine Zähne sind unglaublich weiß, Hagen steckt das Handy weg, sein Gesicht ist rot angelaufen, er nimmt die Wollmütze ab und fährt sich durch die Haare. Es ist an der Zeit, daß ich neugierig bin.

– Wer ist Franco?

Edmont lacht, und wenn Edmont lacht, ist am Tisch alles wieder gut. Hagen ist der schüchterne Witzbold, Achim der Brüter und Franco ihr Anführer. Edmont hat sich wieder gefangen, er wischt sich eine Träne aus dem Auge und legt dann die Hände zusammen, als würde er ein Gebet in den Himmel schicken. Mit tiefernster Stimme sagt er:

– Du fragst, wer Franco ist? Ich sage dir, wer Franco ist. Franco ist Gott.

Achim spuckt vor Lachen sein Bier über den Tisch. Hagen schmeißt Edmont ein paar Erdnüsse an den Kopf. Edmont grinst. Ich schaue überrascht.

– Gott! spielt Hagen das Echo und weitet dabei seine blauen Engelsaugen, Jeder muß einen Gott haben, unser Gott ist Franco, verstehst du?

Ich verstehe. Wir lachen zusammen.

4

Einen Abend später betritt Gott den Pub und sieht sich um. Sein voller Name ist Franco Abramo Pardi, und er arbeitet für das Radio. Als er acht war, verließen seine Eltern Italien und kamen nach Deutschland, wo sie im Zentrum von Stuttgart eine Pizzeria eröffneten. Franco hielt nie viel von dem Familienbetrieb, er hatte nur ein Ziel, und das war, so schnell wie möglich aus Stuttgart verschwinden. Wenn Achim eine Bulldogge ist, dann ist Franco ein Windhund. Elegant, schlank, edel. Er trägt nur italienische Markenklamotten, und seine Schuhe werden in Turin handgemacht. Ein Seidenschal verbirgt eine Narbe, die ein Strick vor dreißig Jahren hinterlassen hat. Im Polizeibericht steht, zwei Türken hätten Franco vor dem Restaurant seiner Eltern aufgelauert. In dem Polizeibericht steht nicht, was Franco den zwei Türken danach angetan hat. Damals war er siebzehn, es war auch das Jahr, in dem er Stuttgart verließ. Franco trinkt als einziger von uns Rotwein.

– Du mußt Mika sein.

Er reicht mir die Hand. Seine Finger sind eisig von der Kälte, aber sein Griff ist warm und sicher. Achim nickt mir zu, als hätte ich eine Prüfung bestanden. Franco setzt sich. Er sieht nicht aus wie achtundvierzig, ich hätte ihn gute zehn Jahre jünger geschätzt. Edmont kehrt von den Toiletten zurück und riecht nach Zigarettenrauch. Seit Jahren versucht er, mit dem Rauchen aufzuhören. Wir tun, als hätte er es geschafft. Edmont freut sich, Franco wiederzusehen.

– Na, Meister, alles klar?

– Alles klar, Edmont. Wo ist Hagen?

– Er kommt gleich.

Edmont wedelt mit der Hand, ich soll rüberrutschen. Ich rutsche rüber, er setzt sich neben mich auf die Bank, legt seinen Arm um meine Schulter und zeigt mit dem Kinn auf Franco.

– Siehst du den? Ich nicke.

– Das ist Gott.

Franco lächelt zufrieden. Edmont spricht weiter.

– Wenn du nachts im Bett liegst und nicht mehr weiterweißt, dann machst du das Radio an und suchst ein wenig nach dem richtigen Sender, und wenn du Glück hast, hörst du, wie Gott zu dir spricht.

– Aber nur, wenn du Glück hast, sagt Gott.

– Ich werde es versuchen, verspreche ich.

Gegen Mitternacht kommt Hagen dazu, und wir sind das erste Mal komplett. Die Zeit des Wartens ist vorbei. Sie sind alle in der Stadt und werden die nächsten Wochen in der Stadt bleiben. Wir sind fünf Männer um einem Tisch, die ihre Gläser heben.

– Auf unseren Neuen!

Sie mögen mich. Ich bin schüchtern und dennoch neugierig, ich zeige Respekt und kann zuhören. Achim und Edmont reden von ihrer Studienzeit, Franco hat nie studiert, und Hagen wünscht sich manchmal, er würde es noch immer tun. Achim reibt sich über den geschorenen Kopf und stellt fest, daß ihm die langen Haare manchmal fehlen würden. Edmont will in diesem Winter unbedingt in eine Schwitzhütte und »mal so richtig die Sau rauslassen«. Achim sagt, für sowas wäre er zu alt. Franco fragt mich, was ich von Neapel halte. Er besitzt dort zwei Hotels, klein aber chic. Er liebt sein Heimatland und weiß überhaupt nicht, was er im arschkalten Deutschland verloren hat. Hagen spricht von seinem Ruderverein, von der vietnamesischen Küche und den vielen Serien, die er aus dem Fernsehen aufnimmt, um dann die Werbung rauszuschneiden. Hagen kauft keine DVDs.

– Ich bin ja kein Idiot, erklärt er mir.

Sie reden gerne durcheinander, aber sie hören, was der andere sagt. Es ist ein guter Rhythmus, es gibt keinen unangenehmen Moment des Schweigens. Der Schlagabtausch ist entspannt, denn sie sind zufrieden mit sich, und es gibt viel zu erzählen.

Achim hält sich als einziger zurück. Wenn Ratschläge gefragt sind, hat er immer ein paar parat, ansonsten ist er wie ein Reserverad, das gepflegt wird, weil man ja nie weiß, ob man es braucht. Er beobachtet. Ich habe das Gefühl, daß ihm nichts entgeht. Vor Achim muß ich mich in Acht nehmen, jede Bewegung und jedes Wort muß stimmen. Achim und Franco haben als einzige Familie und bereuen es nicht. Edmont wird nächstes Jahr fünfzig und denkt nicht daran, sich ein Kind ans Bein zu binden. Hagen ist single und will es auch bleiben.

Der Abend endet vor dem Pub. Wir schließen Jacken und Mäntel und ziehen die Schultern hoch. Die eisige Luft sticht in den Lungen. Franco drückt mir zum Abschied die Hand und sagt, es hätte ihn sehr gefreut mich kennenzulernen. Edmont steigt auf sein Motorrad und setzt den Helm auf. Er will nicht, daß wir Motorrad sagen. Es ist eine Yamaha XVS 1100 Drag Star. Cruiser ist das richtige Wort. Edmont tätschelt den Tank, als wäre er der Maschine dankbar, daß sie auf ihn gewartet hat. Dann streift er sich die Handschuhe über und fährt vom Bordstein. Der Zopf ragt wie ein Stück Tau unter dem Helm hervor und hängt gerade auf seinen Rücken. Achim schaut auf seine Uhr und überquert die Straße, ohne sich von uns zu verabschieden. Hagen winkt ein Taxi heran. Ich sage, ich habe nicht weit zu laufen. Hagen und Franco steigen ein. Als das Taxi außer Sichtweite ist, hocke ich mich zwischen zwei geparkte Autos und erbreche den Abend. Ich bin zu nervös, meine eigenen Worte machen mir Angst, ich darf verdammt nochmal nichts Falsches sagen.

Ich fürchte mich vor mir selbst.

5

– Mensch, wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht gesehen!

Er ist mein Urologe. Ich brauche keinen Termin, ich kann zu ihm kommen, wann ich will, er zieht mich immer den anderen Patienten vor. Wir plaudern eine Viertelstunde, dann fragt er, was mich zu ihm führen würde. Er kennt mein Leben nicht mehr. Wir haben zusammen studiert, ehe er zu den Medizinern wechselte. Vor drei Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen. Kein Mann geht aus Spaß zum Urologen.

– Ich brauche Hilfe, sage ich.

Er schüttelt bedauernd den Kopf, als ich ihm von der Trennung erzähle. Er hat meine Frau nur einmal gesehen, wir aßen nach einem Theaterbesuch im selben Restaurant. Sie war ihm sympathisch. Also erzähle ich ihm von dem Umzug. Wie schwer es ist, sich auf die neue Umgebung einzustellen, wie unterschiedlich sich Häuser anfühlen, und betone dabei, daß ich schlecht schlafe. Er nickt und fragt, wie meine Tochter die Trennung verkraftet. Ich hebe die Schultern. Langsam. Wie jemand, der sich zu entspannen versucht.

– Wie soll ein Kind es schon verkraften, wenn die Mutter ihre Sachen packt und verschwindet?

Ich lasse die rhetorische Frage einen Moment in der Luft hängen.

– Es geht ihr gut, füge ich hinzu.

Meine Stimme ist kontrolliert, ich habe geübt und weiß, wie was klingen muß. Ich bin jemand, der sich erklärt.

– Außerdem habe ich eine andere Frau kennengelernt. Sie …

Ich schaue auf meine Hände.

– Nun, sie ist jünger und eine Kollegin an meiner Schule. Das war, nachdem mich meine Frau verlassen hat und---

– Es ist in Ordnung, unterbricht mich mein Urologe verständnisvoll, Du mußt ja auch an dich denken. Was sagt deine Tochter zu der neuen Freundin?

– Sie hat sie noch nicht getroffen.

Wir schweigen. Ich muß auf den Punkt kommen.

– Ich brauche Hilfe, sage ich halblaut, Da unten, da … passiert nichts mehr.

Mein Urologe stellt mir ein Rezept für Viagra aus. Er sagt, so eine Reaktion wäre völlig normal nach einer Trennung. Besonders wenn man verlassen wurde. Ich solle mir keine Sorgen machen. Er fragt, wieviel Tabletten ich haben will. Ich sage sechs. Er erklärt mir Viagra. Ohne daß ich nachfragen muß, verschreibt er mir auch ein Schlafmittel. An der Tür hält er meine Hand länger als üblich, während er mir einen letzten Ratschlag gibt.

– Du solltest bald mit deiner Tochter reden.

Er hat ihren Namen vergessen. Es ist in Ordnung. Er ist nur mein Urologe, und ich habe, was ich wollte.

6

Ein Mensch kann sich nur für eine bestimmte Zeit vor dem Leben verstecken. Ein Mensch kann hungern und dürsten, ein Mensch kann verdrängen und neu anfangen, er wird aber nie die Erinnerung daran verlieren, wie es ist, ein Mensch zu sein. Ich erinnere mich sehr gut, auch wenn ich mich jeden Tag mehr und mehr vom Menschsein entferne.

Das Zimmer meiner Tochter befindet sich im ersten Stockwerk am Ende des Flurs. Das Licht leuchtet am Abend beruhigend unter der Tür hervor. Wir haben ihr die Lampe geschenkt, als sie mit fünf Jahren Angst vor der Dunkelheit hatte. Es ist eine Jugendstillampe mit einem sich drehendem Papierschirm. Auf dem Schirm sind Papageien abgebildet, die zwischen Baumwipfeln fliegen. Das Licht verwandelt ihr Zimmer in einen magischen Ort, der voller Abenteuer ist. Ich betrete es nicht mehr. Das letzte Mal war ich voller Wut und habe ein Loch in die Wand geschlagen. Ich lerne dazu, ich reiße mich zusammen.

Ihr Name hängt in bunten Buchstaben an der Tür. Das eine S verrutscht immer wieder, ich rücke es gerade und hoffe, daß meine Tochter merkt, daß ich das für sie tue. Wir haben es schwer miteinander. Ich gehe ihr, so gut ich kann, aus dem Weg, wie man jemandem aus dem Weg geht, der einen daran erinnert, wer man einst gewesen ist. Manchmal lege ich die Hand auf ihre Türklinke, weiter komme ich nicht. Oder ich decke den Tisch für uns beide. Dann gibt es Tage, da liegt ihr Name wie ein schweres Gewicht auf meiner Zunge, und kein Ton kommt heraus. An solchen Tagen denke ich nur an meine Tochter, ich denke nie an meine Frau, die ihr neues Zuhause auf der anderen Seite der Stadt gefunden hat. Sie sagt, mein Leben wäre eine Lüge, sie erträgt mich nicht mehr.

Oft stelle ich mir vor, was meine Frau für ein Gesicht machen würde, wenn sie die zwei Teller auf dem Tisch sehen würde. Gläser. Besteck. Servietten. Manchmal eine Kerze. Ich kann ein guter Vater sein, ich kann einen Tisch decken und es anständig aussehen lassen. Ich tue es nicht für meine Frau, denn ich suche nicht mehr ihre Zustimmung, ich tue es für unsere Tochter und die Normalität im Leben. Unseres Lebens.

An besonders guten Tagen hinterlasse ich meiner Tochter einen Zettel mit einer Nachricht, aber kaum kehre ich von der Arbeit zurück, zerknülle ich das Papier hastig, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. Sie soll es nicht lesen, sie soll es lesen. Ich weiß nicht, was ich will. So werden aus besonders guten Tagen besonders schlechte Tage.

7

Edmont sitzt mir gegenüber und sein Hemd ist zwei Knöpfe weit geöffnet. Um den Hals trägt er ein Lederband mit einem indianische Symbol als Anhänger. Er sagt, den Talisman hätte er von einem Schamanen geschenkt bekommen. Niemand dürfte ihn anfassen, sonst ginge die Kraft verloren.

– Da steckt eine Power dahinter, das kannst du dir nicht vorstellen.

Es ist Samstag und die Straßen sind vereist. Wir sind die ersten am Tisch. Sonntags lasse ich mich nicht blicken. Zwischendurch setze ich immer wieder einen Tag aus, damit kein Rhythmus erkennbar ist. Ich will nicht berechenbar sein. Ich bin ein Mann mit Hintergrund und Geschichte. Ein Mann, den seine Frau verlassen hat, und das Leben geht weiter.

Edmont trinkt Kaffee. Ein Abend im Pub muß für ihn genau so beginnen – Kaffee mit Milch, zwei Kekse und Bruce Springsteen. Die Uhrzeit ist ihm dabei egal. Edmont rührt Zucker in seinen Kaffee und klopft den Löffel sorgfältig am Rand der Tasse ab, ehe er sagt, er würde jetzt mal ehrlich sein.

Ich nicke, es freut mich, daß Edmont jetzt mal ehrlich sein will.

Er nippt von seinem Kaffee und verzieht das Gesicht, als wäre es selbstgebrannter Schnaps. Danach legt er die Hände um die Tasse und schaut mich mit einem Lächeln an. Er sagt, daß er mich mag, er sagt, daß mich die Jungs mögen, aber er sieht da ein Problem.

– Irgendwas stimmt nicht mit dir, Mika, und ich wüßte gerne, was da nicht stimmt.

Er hat es auf den Punkt gebracht. Beinahe schon poetisch. Ich bin ihm dankbar. Abend für Abend sende ich Furcht aus. Ich bin eine Leuchtboje auf dem Meer.

Seht mich, hier bin ich.

– Ich weiß nicht, was ich sagen soll, sage ich.

– Denk gut nach.

Er streicht mit dem Zeigefinger über den Rand der Kaffeetasse.

– Denk sehr gut nach. Und wenn wir dann alle hier sind, dann …

Ich kann deutlich die drei Punkte am Ende seines Satzes hören. Edmont ist hier, um für die Balance zu sorgen. Springsteen singt: Everybody’s got a hunger, a hunger they can’t resist. Ich nicke. Ich verspreche ihm, sehr gut nachzudenken. Er klopft mir auf die Schulter und sagt, die nächste Runde gehe auf mich.

Drei Stunden später, und der Abend nimmt seinen üblichen Lauf. Samstag bedeutet volle Tische und viel Lärm. Eine neue Kellnerin sorgt für gute Laune, und die Männer machen ihr Augen, als wäre sie die Verführung in Person. Die Frauen spüren die Spannung und trinken mehr. Edmont und Achim spielen Dart. Franco konnte mit ihnen nicht mithalten und hat geschworen, daß Gottes Rache grausam sein würde. Jetzt sitzt er wieder an unserem Tisch und läßt sich darüber aus, wie albern Dartspielen ist. Hagen bestellt eine Runde Bier und einen Rotwein. Während wir warten, erzählt Franco von seiner Idee, einen neuen Radiosender ins Leben zu rufen.

– Ausschließlich Musik aus den 70ern. Soul, Pop und nochmal Soul. Kein Gelaber, keine Nachrichten, nur ein einziger Werbeblock jede Stunde, denn davon kommt die Kohle. Macht doch Sinn, oder?

Ich gebe ihm Recht, das macht Sinn. Hagen erklärt, daß er sich nur für klassische Musik interessieren würde. Ich weiß, daß er drei Jahre auf dem Hamburger Konservatorium war, ehe er das Antiquariat übernahm. Er spielt noch immer Geige. Franco schnaubt, er findet, Klassik wäre was für frigide Frauen, die auf frigide Männer stehen. Hagen fühlt sich nicht beleidigt, es gibt kaum etwas, was ihm nahegeht. Rod Stewart gibt einen Schrei von sich. Hot Legs setzt ein, und Franco stellt anerkennend fest, daß wohl jemand in diesem verdammten Pub Geschmack hat, denn das wäre genau die Musik, von der er die ganze Zeit über sprechen würde. Ich nicke mal wieder zustimmend, denn ich weiß, daß Franco die Jukebox vorhin selbst gefüttert hat. An manchen Tagen ist Gott sehr durchschaubar.

Als Achim und Edmont das Bier an sich vorbeiziehen sehen, geben sie das Dartboard frei und setzen sich zu uns an den Tisch. Die Narbe in Achims Nacken steht weiß hervor, Edmont dagegen wirkt sehr entspannt, er hat das Spiel gewonnen, verliert aber kein Wort darüber. Wir stoßen an. Es ist nach Mitternacht, der Pub schließt um zwei, die Stimmung könnte nicht besser sein. Mir bleiben noch gute eineinhalb Stunden. Ich wünschte, es wäre ein Jahr.

– Ich muß euch etwas erzählen, sage ich mitten in eine Diskussion über die Gaspreise hinein und bin überrascht, daß sie mir sofort zuhören. Ich atme tief durch und mit dem Durchatmen setzen sich die Flußkiesel in meinem Kopf langsam und träge in Bewegung, als hätte ich sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. Erst einer, dann zwei. Das Wasser reißt sie mit. Keine Kanten, keine Ecken mehr, nur das Schaben von Stein auf Stein, als sie sich lösen. Seit einem Jahr arbeite ich auf diesen Moment hin. Ich habe mir Zeit gelassen. Der Winter hat sich jetzt erst auf die Stadt gestürzt, es hätte mir nichts genützt, diese Männer vorher kennenzulernen, denn das hier ist ihre Zeit.

Der Schweiß steht mir auf der Stirn, mein Mund ist trocken. Ich trinke meinen Wodka Lemon und die Eiswürfel schlagen mir schmerzhaft gegen die Vorderzähne. Ich sehe zwar Sympathie, begreife aber gleichzeitig, daß ich nach all unseren gemeinsamen Abenden noch immer nicht zu ihnen gehöre, trotzdem mögen sie mich und das ist ein gutes Zeichen. Ich bin dankbar und sage es ihnen.

– Ich wollte mich bedanken. Wie ihr mich die letzten Wochen aufgenommen habt, ihr …

Ich verstumme, mir fehlen die Worte, wir Männer und unsere verhaltenen Emotionen. Ich wische mir über den Mund. Genug ist genug. Ich mache weiter.

– Es ist mir peinlich, aber ich will, daß ihr mich versteht. Meine Frau und ich … Ich habe euch ja erzählt, daß sie mich verlassen hat, ich habe euch aber nicht erzählt, was der Grund gewesen ist. Ich … Ich weiß einfach nicht, wohin mit mir.

Ich zeige ihnen meine Hände, sie zittern, keine Tricks dahinter.

– Manchmal wache ich nachts auf und halte mich an der Matratze fest, damit ich nicht aufstehe, so hungrig bin ich.

Schweigen am Tisch. Die Musik spielt weiter, die Gespräche um uns herum sind ein Murmeln, der Dartautomat dudelt, aber ich höre nichts davon, denn ich sitze plötzlich in einem Kokon aus Stille. Vier Männer sehen mich an. Ihre Blicke sprechen zu mir. Ich soll aufhören, drumherum zu reden. Ich soll zum Punkt kommen. Also komme ich zum Punkt und schließe kurz die Augen und denke an meine Tochter, und sofort öffnet sich der Schmerz hinter meinen Schläfen wie ein Fächer aus Dornen. Fünf Sekunden vergehen. Fünf Sekunden können alles entscheiden. Ich sehe ihnen in die Augen. Meine Stimme ist ein Flüstern, als ich sage:

– Ich hungere nach meiner Tochter. Ich träume von ihr. Ich will sie. So sehr. Ihr seid Männer, ihr versteht das doch, oder? Ich meine … Bitte, versteht mich. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich will sie, versteht ihr mich? Ich will sie.

Blicke. Regungslos. Still. Ich warte. Ich warte, daß sie aufstehen, daß sie gehen, daß sie mich verlachen. Alles ist möglich. Hagen hat sich ein wenig zurückgelehnt, als bräuchte er Abstand zu mir, sein Lockenkopf ist schräg gelegt. Edmonts Brauen sind so weit hochgezogen, daß sein ledernes Gesicht glatt und jung aussieht. Ich bete, daß ich nichts Falsches gesagt habe. Franco sitzt da, als wäre er aus Stein gemeißelt. Achim hat sich als einziger nicht unter Kontrolle. Sein Gesicht zuckt, das Kinn zittert, er spuckt mir die Frage über den Tisch entgegen.

– Was hast du da gesagt?!

Ich senke den Blick, ich stammle:

– Bitte, versteht mich. Ich … Ich habe niemanden, dem ich das erzählen kann … Und ich dachte, ihr … Denn meine Frau … Sie ist …

Ich greife nach dem Wodka Lemon, das Glas ist leer. Hagen schiebt mir sein Bier zu. Ich trinke es in einem Schluck aus. Es tut gut, daß alles raus ist. Edmont beugt sich über den Tisch, da ist keine Harmonie mehr, seine Stimme ist ein Zischen.

– Du willst was?!

Sein Speichel trifft mich im Gesicht. Ich rieche die letzte Zigarette in seinem Atem und will aufstehen und verschwinden, aber Achim ahnt, was ich vorhabe. Er drückt mich runter, sein Griff ist fest an meiner Schulter, er rutscht näher, so daß ich seinen Bauch spüren kann. Es ist fast schon obszön. Ich fühle die Hitze, die von ihm ausgeht, und lege die Hände flach auf den Tisch. Sie zittern heftig. Ich bin in Panik. Ich gebe auf.

– Es tut mir leid, flüstere ich.

– Du willst was?! wiederholt Edmont.

– Antworte dem Mann, sagt Franco.

– Ja, antworte ihm, sagt Achim.

– Mach schon, drängt Hagen.

Sie warten. Ich muß mit dem Geflüster aufhören. Meine Worte müssen rund sein. Ohne Kanten, ohne Ecken. Rund. Glatt. Und feucht. Feucht vor Lust.

– Ich begehre meine Tochter, sage ich.

Der Kokon ist gerissen. Die Worte sind raus. Der Lärm kehrt mit einem Mal zurück. Die Kellnerin lacht an der Theke, ein Stuhl scharrt über den Boden, die Gespräche brechen sich schrill in meinen Ohren. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich habe es getan, ich habe begehre gesagt. Die vergängliche Poesie der Verlangens. Ich habe es getan.

Achim ist wieder von mir weggerückt, ich bin froh, seine Hitze und seinen Bauch nicht mehr zu spüren. Die vier Männer starren mich an, als hätte ich mich eben erst vor ihren Augen materialisiert – nicht wirklich überrascht, mehr so, als hätten sie gewartet und gewartet und da, endlich bin ich aufgetaucht.

Sie wechseln einen Blick.

Hagen schaut zu Franco, und Franco schaut zu Achim, und Achim sieht Edmont an, und dann brechen sie in Lachen aus. Franco beugt sich vor und tätschelt meine Wange, als wäre ich ein Boxer, der sich gut geschlagen hat. Edmont macht eine Faust und hält sie mir unter die Nase. »Grrrr!«, macht er, »Grrrr!«. Hagen legt den Kopf in den Nacken und stößt ein kurzes Heulen aus, während er mit den Händen auf die Tischplatte trommelt. Die Leute schauen rüber, sie haben keine Ahnung, was los ist, aber sie prosten uns dennoch zu, der Barkeeper zeigt uns einen Vogel, die Leute schauen wieder weg, Franco sagt:

– Mensch, Mika! Alter Junge, sieh dich doch mal um. Siehst du, was ich sehe? Wir alle wollen doch unsere Töchter ficken, nur leider hat nicht jeder von uns das beschissene Glück, eine Tochter zu haben.

– Leider, sagt Achim.

– Leider, sagt Edmont und seufzt.

– Schuldig, verkündet Hagen.

Dann rufen sie nach der nächsten Runde.

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