Kitabı oku: «Still», sayfa 3

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SIE

Sie sind keine Brüder, sie sind keine Freunde. Sie leben außerhalb ihres Lebens ein zweites Leben und nennen es das wahre Leben. In diesem wahren Leben hat jeder seine festen Aufgaben. Jeder steht für sich selbst ein, und zusammen sind sie eins. Sie haben es von ihren Vätern gelernt, ihre Väter haben es von ihren Vätern gelernt, und so geht es über Generationen.

Eine Fackel, die weitergereicht wird.

Ein Licht, das nie verlöscht.

Ihre Zeit ist der Winter, den Rest des Jahres planen sie und arbeiten an den Details der Jagd. Sie gehen dabei minutiös vor und halten immer eine respektvolle Distanz zueinander. Dabei sind sie wie ein See, und wenn das Eis den See bedeckt, ist ihre Zeit gekommen. Ihr normales Leben findet an der Oberfläche statt; unter der Oberfläche und fernab der Blicke toben ihre Seelen – hungrig, gierig und unersättlich. Niemand muß das sehen. Sie haben gelernt, diesen Hunger zu kontrollieren und die Gier in Schach zu halten. Sie haben schon in jungen Jahren von der Unsterblichkeit gekostet und wissen, daß sich ihr Hunger durch nichts stillen läßt. Nur Disziplin hält ihn in Grenzen. Diese Disziplin trennt den Barbaren vom zivilisierten Menschen.

Es ist Sommer, und sie haben das Dach der Hütte repariert und einen Teil des wackeligen Zaunes um das Grundstück herum wieder aufgerichtet. In den letzten Jahren waren es immer dieselben Stellen, an denen die Wildschweine durchkamen. Bisher hat es nicht wirklich gestört, dann aber wurden zwei der Gräber aufgewühlt, und sie wußten, daß es so nicht weitergeht. Sie haben Fallen und Gift ausgelegt, aber es half so wenig wie der Zaun. Andere Maßnahmen mußten ergriffen werden. Die Gefahr ist zu groß, daß eine der Leichen ausgegraben, verschleppt und außerhalb des Grundstücks entdeckt wird.

Die Jagd geht über zwei Tage und Nächte. Sie sind beharrlich. Sie weiten den Radius aus und geben solange keine Ruhe, bis sie mit der Ausbeute zufrieden sind. Am Morgen des dritten Tages lassen sie die Kadaver in eine Felsspalte fallen – acht ausgewachsene Wildschweine mit ihrer Brut. Danach herrscht Ruhe.

Einer kundschaftet die Gegend aus und stellt den Zeitplan auf.

Einer kümmert sich um die Ausrüstung und das Fahrzeug.

Einer kontrolliert die Umgebung und die Nachbarn.

Einer hält die Fäden in der Hand, wägt das Risiko ab und sagt, wann es soweit ist.

Sie haben ihre Beute über einen Zeitraum von vier Monaten beobachtet. Jeder einzelne von ihnen muß seine Zustimmung geben. Zweifel sind dabei sehr wichtig. Nichts darf sich ihnen in den Weg stellen, die Planung muß perfekt und jeder Schritt durchdacht sein.

Jetzt muß nur noch der Winter kommen.

Es ist vor vier Jahren, und der erste Schnee stürzt gegen Mitternacht so schnell vom Himmel, daß die Stadt innerhalb weniger Stunden von einem angenehmen Schweigen umschlossen ist. Der Junge heißt Linus Holm und ist sehr zufrieden mit der Kälte. Er hat beschlossen, in diesem Winter so lange Rad zu fahren, bis es nicht mehr geht. Seine Freunde haben untereinander Wetten abgeschlossen, wie lange er durchhalten werde; seine Eltern halten ihn für verrückt. Linus weiß, daß der Schnee sein Freund ist.

Am Morgen gleitet er auf seinem Fahrrad durch die Straßen und fühlt sich wie ein Entdecker. Er ist zehn Jahre alt und lebt mit seiner Familie in einer Kleinstadt südlich von Bremen. Am Nachmittag verläßt er die Schule und fährt auf Umwegen nach Hause. Seine Reifen schnurren durch die dünne Schneedecke und hinterlassen eine nervöse Spur. Zu Hause lehnt er das Rad an die Fassade und betritt die Küche durch den Seiteneingang. Langsam taut sein Gesicht auf, und die Fingerspitzen prickeln. Er nimmt Cornflakes aus dem Regal, füllt eine Schale und begießt die Cornflakes mit Milch und Ahornsirup.

Als seine Eltern nachhause kommen, steht die Schale auf dem Tisch, und die Cornflakes haben die Milch aufgesogen, so daß kein Tropfen übriggeblieben ist. Sie finden keine Spur von ihrem Sohn. Sein Fahrrad lehnt an der Hauswand, sein Zimmer ist verlassen, der Hausschlüssel liegt neben dem Eingang auf dem Beistelltisch. Um die Stiefel herum hat sich eine Pfütze gebildet.

Die Eltern wissen es nicht, aber sie werden den Jungen nie mehr wiedersehen. Nach einem halben Jahr werden sie das Fahrrad in die Garage stellen. Die Zeit wird sie mit sich reißen, sie werden versuchen, ein zweites Kind zu bekommen, sie werden sich alle Mühe geben, ihr Leben so zu führen, als könnte ihr Sohn jeden Moment durch die Tür treten. Kein Tag wird vergehen, an dem sie nicht auf seine Rückkehr warten. Ihre Liebe wird sie zusammenschmieden. Liebe und Hoffnung. Denn mehr bleibt einem nicht, wenn es draußen Nacht wird und die Lichter eines nach dem anderen verlöschen.

ICH
1

Liebe ist, wenn du die bedeutenden Momente deines Lebens mit einem Messer aus deiner Erinnerung schneidest, mit Benzin übergießt und anzündest. Liebe ist, wenn du dich am nächsten Morgen an jede Einzelheit erinnerst und nichts bedauerst. Liebe ist auch, wenn ein Schatten über dein Leben fällt und die Finsternis mit sich bringt und du weiterhin daran glaubst, daß es eines Tages wieder hell wird. Nenn den Schatten Hass, nenn ihn Vernichtung, nenn ihn das Ende der Welt. Hass ist Wut auf Liebe, Hass ist Wut auf diese widerstandsfähigen Details, die sich in deiner Erinnerung entzünden wie eiternde Wunden. Hass ist aber auch das, was dir bleibt, wenn dir alles andere genommen wurde. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe es getan. Ich habe die Liebe angezündet und seziert. Ich habe mich von den Schatten umschließen lassen und lebe in der Finsternis. Nur die Narben sind mir geblieben, und die Narben sind überall.

Ich wünschte, ich wäre jemand, der vergißt, der vergibt. Ich bin ein Mann in einem Pub mit anderen Männern an einem Tisch. Einer von ihnen. Nacht für Nacht. Das Fensterglas ist getönt, deswegen herrscht hier immer ein Gefühl von Abenddämmerung. Wer in dieser Kneipe sitzt, will den Tag vergessen, aber so einfach ist das nicht. Denn da ist noch die Nacht. Und die Nacht findet kein Ende.

Wir sitzen am Tisch, ich habe mein Geständnis abgelegt, und die Männer haben meine Verzweiflung gesehen. Sie wissen jetzt, mit wem sie es zu tun haben. Meine Erleichterung ist rein körperlich, der Verstand ist vorsichtig und will es noch nicht wahrhaben. Ich rede ihm gut zu. All die Monate der Vorbereitung. Geschafft, es ist geschafft. Ich weiß, daß ich nach Schweiß stinke. Panik und Furcht. Ich weiß es. Aber es stört nicht, denn es ist geschafft.

Sie schicken mich weg. Sie sagen, der Abend wäre für mich gelaufen, ich solle mich entspannen und eine Dusche nehmen.

Sie sagen: Alles ist gut, Mika.

Sie sagen: Mach dir keinen Kopf, Mika, wir reden morgen.

Sie sagen: Schlaf dich aus.

Ich nicke zu ihren Worten und nehme meine Panik und meinen Gestank und gehe nach Hause. Mein Herz lacht bei jedem Schritt, mein Herz lacht so laut, daß es im Körper hallt, als hätte mir Gott eine gescheuert. Ich vibriere. Es ist geschafft.

Gegen halb zwei schließe ich die Haustür auf und höre die Stimmen aus der Küche.

– Aber er vermißt dich.

– Kleines, ich vermisse ihn doch auch, aber wir halten es nicht mehr miteinander aus. Du weißt, es geht ihm nicht gut.

– Papa geht es gut.

– Nein, ihm geht es nicht gut. Schau dich doch mal um, wie es hier aussieht. Dein Vater ist nicht mehr wirklich dein Vater.

– Sag sowas nicht. Es wird ihm bald besser gehen.

– Ich wünschte, es wäre so.

Die Stimme meiner Tochter wird schrill:

– Mama, bitte, sag sowas nicht!

– Es tut mir leid.

– Liebst du ihn denn gar nicht mehr?

Schweigen. Die Antwort kommt zögerlich.

– Du weißt, daß ich ihn liebe. Ich werde ihn immer lieben.

– Warum hilfst du ihm dann nicht?

– Ich habe es doch versucht, Kleines.

Für einen Moment überlege ich zu gehen. Ich fürchte mich vor einer Konfrontation. Dann schließe ich lautlos die Haustür hinter mir und streife die Schuhe ab. Die Sehnsucht ist zu groß. Ich mache zwei Schritte durch den Flur. Ich will sie sehen, ich will sie berühren und mit ihnen reden. Und bleibe stehen. Die Feigheit ist größer. Ich kann die Küche nicht betreten, denn ich gehöre nicht mehr dazu. Also lehne ich mich gegen die Wand und rutsche an ihr herunter, Arme um die Knie, Knie an der Brust. So lausche ich weiter. Meine Frau lügt nicht, sie hat es versucht. Meine Tochter sagt:

– Er hinterläßt mir diese Nachrichten. Er gibt nicht auf. Schau, hier, lies das. Was soll ich ihm darauf antworten? Wenn er dann nach Hause kommt, zerknüllt er sie. Der Papierkorb ist voll damit.

Ich stelle mir vor, wie meine Frau die letzte Nachricht auf dem Tisch betrachtet und traurig den Kopf schüttelt. Als sie spricht, klingt ihre Stimme nüchtern.

– Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen, Kleines.

– Mama, ich will bei Papa bleiben.

– Ich weiß.

– Du solltest auch bleiben.

– Das geht nicht.

Ich sitze da und habe die Wand im Rücken und kann mich nicht rühren. Ich will, aber ich kann nicht. Und dann sagt meine Tochter die vernichtenden Worte. Sie sagt sie immer zum Schluß, als würde sie die Worte in Blockbuchstaben unter den Abspann unseres gemeinsamen Lebens setzen.

– Mama, das Haus ist so leer ohne dich.

Ich beginne, lautlos zu heulen.

2

Vielleicht war es die Erschöpfung des Tages oder die Erleichterung, ihre Stimmen gehört zu haben – ich erwache Stunden später auf dem Boden. Mein Rücken schmerzt, aus der Küche kommt kein Laut mehr, nichts rührt sich im Haus. Sie haben mich schlafen lassen, und ich bin ihnen dankbar dafür. Wann habe ich das letzte Mal so lange durchgeschlafen?

Ich schaue auf die Uhr. Mein innerer Wecker funktioniert präzise.

Es ist sieben Uhr früh.

Die Arbeit ruft.

Ich betrete die Küche, rücke einen Stuhl gerade und nehme den Zettel vom Tisch. Ich überfliege meine eigenen Worte, als würde sich dahinter eine geheime Botschaft an mich selbst verstecken, ehe ich den Zettel zerknülle und in den Papierkorb werfe. Für eine Weile lehne ich am Spülbecken und lasse das Wasser laufen. Ich trinke zwei Gläser und schlucke eine Vitamintablette. Das kalte Wasser breitet sich angenehm in meinem Magen aus. Die Worte meiner Frau wandern durch meinen Kopf:

»Du weißt, daß ich ihn liebe. Ich werde ihn immer lieben.«

Die Worte meiner Tochter folgen wie ein sanftes Echo:

»Ich will bei Papa bleiben.«

Als unsere Tochter fünf Jahre alt war, wollte sie wissen, warum Erwachsene manchmal das eine sagen, wenn sie das andere meinen. Ihr war aufgefallen, daß wir uns und andere offen anlogen. Sie verstand nicht, warum wir das taten. Sie kam nicht darauf, daß wir die Gefühle des Anderen schonen wollten. Ich weiß noch genau, was meine Frau ihr geantwortet hat. Sie sagte: »Wir wissen es nicht besser.« Sie sagte es so überzeugend, daß selbst ich ihr glaubte. Wir wissen es nicht besser. Wir wollen ehrlich sein, wir können es aber nicht, weil wir es nicht besser wissen. Auch das war nur eine weitere Lüge, die unser kleines Mädchen schützen sollte. Denn wir wissen es besser. Wir wollen den Anderen nur nicht unentwegt mit der Wahrheit verletzen. Deswegen ertragen wir die kleinen Stiche und Hiebe. Mit oberflächlichen Wunden kann man leben. Für eine Weile zumindest. Aber jede noch so unbedeutende Wunde blutet, und so fließt jeden Tag das Leben aus uns heraus, während das Herz schlägt und schlägt und wir dabei reden, essen, lieben oder in der Sonne liegen und tun, was auch immer wir tun, weil wir es nicht besser wissen. Jahr für Jahr verläßt uns die Kraft ein wenig mehr, weil selbst die kleinste Lüge Schaden anrichtet. Ich weiß, wovon ich rede. Ich blute ohne Pause.

3

Im Lehrerzimmer riecht es nach verbranntem Kaffee. Die Maschine war schon da, als ich hier im letzten Sommer anfing. Sie ist den Großteil der Zeit kaputt. Seit Neujahr sammeln wir für einen von diesen Vollautomaten mit Mahlwerk und integriertem Milchbehälter. Die Sekretärin prüft jede Woche die Kasse, aber kaum jemand wirft noch Geld hinein. Geiz wird großgeschrieben. Viele haben sich angewöhnt, ihren eigenen Kaffee mitzubringen. Eine Armee von Thermoskannen reiht sich neben der Spüle auf. Die Becher dazu sind beschriftet. Auf meinem steht nicht Papa.

In der Hofpause sitze ich mit meinem Kaffee alleine an einem der Fenster, blättere in einer Zeitschrift und denke nach. Vier Tage sind seit meinem Geständnis vergangen, und ich bin dem Pub ferngeblieben. Sie werden es verstehen. Ich muß mich von mir selbst erholen. Normale Dinge tun. Korrekturen machen. Einkaufen gehen. Wäsche waschen. Lehrer sein.

Ich betrachte den Becher in meiner Hand. Seitdem ich auf diese Schule gewechselt bin, führen meine Hände ein Eigenleben. Die Kollegen scherzen. »Parkinson oder Delirium tremens?«, fragen sie mich, so daß ich es mir angewöhnt habe, alleine zu essen, um mir die Kommentare zu ersparen. Die Kollegen sehen mich als Einzelgänger. Es ist ein Image, an daß ich mich gewöhnen könnte. Es wird jeder Prüfung standhalten. Ich stelle den Becher weg, schaue auf meine Hände und kann es nicht glauben. Ich habe die ruhigsten Hände in ganz Deutschland. Es ist ein herrliches Gefühl, daß mir mein Körper wieder gehört. Es ist ein sehr gutes Zeichen. Ich bin auf dem richtigen Weg.

4

Im Radio wird vor Blitzeis gewarnt, die Straßen glänzen, die Autos fahren im Schrittempo, und ich könnte wetten, daß Edmont heute nicht mit dem Motorrad unterwegs ist.

Es ist, als hätten sie mich erwartet.

Ich betrete den Pub, der Blickkontakt ist sofort da, sie winken mich zu sich. Meine Unsicherheit legt sich, und an ihre Stelle tritt eine nervöse Erwartung. Fleetwood Mac singt Go Your Own Way. Ich ignoriere den Rat und bleibe am Tisch stehen. Franco schiebt mir einen Stuhl zu. Ich setze mich.

– Na, hast du dich erholt? fragt Achim.

Ich nicke. Hagen schnuppert.

– Geduscht hat er auch.

Ich lächle, Edmont lächelt zurück.

– Schön, daß du wieder da bist.

– Danke.

Achim ruft nach der Kellnerin. Franco erklärt, die nächste Runde gehe auf seine Rechnung, dann tippt er mit dem Zeigefinger auf den Tisch.

– Wir wollen mal über die Regeln reden.

– Was für Regeln? frage ich.

– Unsere Regeln, Mika.

Sie sagen, sie gehörten keiner Organisation an, sie sagen, sie hielten sich von Vereinen fern, und mit Politik dürfe man ihnen gar nicht kommen. Keiner von ihnen wäre vorbestraft, sie lebten unter dem Radar und fielen nicht auf. Das Internet wäre tabu. Keine Foren, keine Chats. Sie blieben der Szene fern.

– Kannst du uns soweit folgen?

– Ich kann.

Franco erklärt, daß es eine Frage der Selbstbeherrschung ist. Wie lange man sich im Zaum halten kann. Was man tut, wenn der Hunger zu groß wird. Franco weiß das alles, er ist nicht umsonst ihr Anführer. Als er vor dreißig Jahren nach Berlin kam, hatte er keine Ahnung, was seine Berufung war, er wußte nur, daß er nie wieder in einem Restaurant arbeiten wollte. Anfangs half er einem Cousin aus, dem ein Kurierdienst gehörte. Es dauerte nicht lange, und Franco machte sich mit seinem eigenen Kurierdienst selbständig. Dann traf er seine Frau. Es folgte ein Sohn, eine gemeinsame Wohnung und eine Affäre mit einer Redakteurin vom RIAS, die ihm seinen ersten Sprecherjob verschafft hatte. Franco besitzt eine markante Stimme, und er ist ein guter Zuhörer, der wortgewandt von einem Thema zum anderen wechseln kann, ohne dabei den Faden zu verlieren. Seine Gedankengänge schließen sich immer, und er hinterläßt beim Hörer ein Gefühl von Gesamtheit – als hätte er alles im Griff, als würde jede Frage eine Antwort verdienen. Das Radio ist sein Medium. Er moderiert zwei Sendungen in der Woche. Jeden Dienstag und Freitag gibt es spät in der Nacht Francos Special Delight. Er lebt nicht mehr mit der Mutter seines Sohnes zusammen, er sieht den Jungen nur an den Wochenenden. Alles in allem ist Franco sehr zufrieden mit seinem Leben, und er will, daß ich das verstehe.

– Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben, Mika, und bevor ich dir von unseren Regeln erzähle, will ich, daß du weißt, wie sehr uns deine Unzufriedenheit stört. Schau dir Hagen an.

Ich sehe zu Hagen hinüber.

– Dieser Junge ist der lebende Sonnenschein, spricht Franco weiter, Er geht seinen Weg und steht mit beiden Füßen im Leben. Und jetzt schau dir Edmont an.

Franco packt Edmont an der Schulter und schüttelt ihn ein wenig. Edmont grinst.

– Dieser Mann saugt dem Tag die verschissene Seele aus dem Leib, weil er alles will, aber auch wirklich alles, was dieses Leben zu bieten hat, verstehst du? Er fährt sein Motorrad …

– Cruiser, sagt Edmont.

– … bei jedem Wetter und geht keine Kompromisse ein. Kompromisse wirst du bei ihm nie erleben. Kompromisse sind das Gift des Lebens. Alles oder nichts, Mika, das ist unser Motto. Und jetzt sieh dir Achim an.

Achim begegnet meinem Blick, kein Blinzeln, es ist so, als würde ich auf eine Wand schauen.

– Unser Achim findet keinen Schlaf. Einmal in der Woche glaubt er, er wäre sterbenskrank, aber ganz tief in seinem Inneren ist auch Achim zufrieden mit seinem Leben. Ist doch so, Achim?

– Das ist so.

– Er weiß, um was es geht, und ein wenig Leiden gehört eben dazu. Du bist überrascht? Du dachtest, es geht ohne Leiden? Mika, was ist das hier?

Franco macht eine Geste in den Raum.

– Siehst du, was ich sehe? Wir leben im Zeitalter des Egoismus, mach dir das bewußt. Jeder Arsch steht nur für sich ein. Das Ich hat das sagen. Frag Apple. iPod, iPhone, iArsch. Frag diese Egomanen, die auf ihrer Facebookseite jede Minute ihres öden Daseins festhalten, damit man ja nicht vergißt, daß sie existieren. Das iLife ist gefragt. Und natürlich gehört Leiden dazu. Das Ego leidet furchtbar gerne, denn das Leiden macht uns interessanter. Erst wenn wir Schwächen zeigen, beachtet man uns. Ohne das Leiden würden wir in Höhlen hausen und einander die Würmer aus dem Arsch fummeln. Leiden ist Religion, Leiden treibt uns an, Leiden sagt uns, das wir am Leben sind, Mika. Wie Liebe und Hass.

Die anderen nicken. Franco trinkt von seinem Wein, seine eigenen Worte erregen ihn.

– Aber das ist ein Thema, das wir ein anderes Mal diskutieren können. Heute geht es um die Regeln und deine Unzufriedenheit, mach dir das bitte bewußt, denn ohne Zufriedenheit kannst du hier nicht mehr herkommen. Deswegen will ich, daß du mir jetzt gut zuhörst. Die Regeln sind simpel und klar. Sie sind dein Weg zum Glück. Sie müssen sich dir einbrennen, und es darf dabei keine Mißverständnisse geben.

Er hält vier Finger hoch, vier Regeln, vier Männer sprechen:

– Wir sind ein Kreis, sagt Edmont, Und der Kreis ist geschlossen.

– Wir sind ein Team, sagt Achim, Es gibt keine Soloprojekte.

– Wir tun alles, sagt Hagen, Um unsichtbar zu bleiben.

– Wir lösen jedes Problem gemeinsam, sagt Franco, Nie allein.

Sie sehen mich erwartungsvoll an. Auch wenn ich weiß, daß es nicht so ist, fühlt es sich an, als hätten sie das nur für mich eingeübt.

– Eine Regel fehlt, sage ich.

Sie lachen nicht, sie warten.

– Und die wäre? fragt Achim.

– Es gibt nur einen Gott, und der hat das Sagen.

Hagen grinst, Achim runzelt die Stirn, weil er den Zusammenhang nicht versteht, Edmont lacht los und stößt Franco an, der abwehrend die Hände hebt, als würde er sich ergeben. Ich kann sehen, er ist zufrieden mit mir.

– Willkommen in unserem Kreis! sagt er.

– Auf Gott! sagt Hagen und hebt sein Glas.

– Auf die Scheißreligion! sagt Edmont.

– Auf uns! sagt Achim.

Wir stoßen an. Unsere Gesichter glühen.

Gemeinschaft. Spannung. Lust.

Aus den vier Männern sind jetzt fünf geworden.

Fünf Wege, die zu einem Ziel führen.

Vier Regeln und eine Regel dazu.

Den Rest des Abends verlieren wir kein Wort mehr darüber. Wir sprechen über die Krise bei der Deutschen Bahn, über die Querelen in der Politik und andere Belanglosigkeiten dieser Welt, die in der nächsten Woche schon wieder andere sein werden. Als wir vor dem Pub stehen, will Franco wissen, was für einen Computer ich habe.

– Notebook.

– Und warst du …

– … nur in den Foren, antworte ich schnell.

Er wartet.

– Ein paar Downloads bei Usenet, füge ich hinzu und werde rot, Meistens Photos, aber auch ein paar Filme.

Franco holt einen Geldclip heraus. Er hält nichts von EC- oder Kreditkarten. Er will nicht, daß man jeden seiner Schritte verfolgt. Sein Geldclip erinnert an ein gut belegtes Sandwich.

– Was hat dein Notebook gekostet?

Ich sage es ihm. Er gibt mir siebenhundert Euro.

– Kauf ein neues.

– Aber …

– Du brauchst keine Downloads mehr, du bist jetzt im wahren Leben angekommen, verstehst du?

Ich könnte protestieren, ich könnte sagen, daß ich mir selbst ein neues Notebook leisten kann, aber darum geht es nicht. Regeln sind wichtig, und Franco hat das Sagen. Ich lerne, keine Widerworte zu geben, und stecke das Geld ein. Achim räuspert sich wie jemand, der am Bühnenrand steht und vergessen wurde. Wir sehen ihn an, er wendet sich nur an mich.

– Komm Samstag zu mir. Und bring dein altes Notebook mit. So gegen acht.

Ich bin überrascht und verberge es nicht. Ich sage, daß mir acht passen würde. Achim gibt mir seine Adresse. Edmont steigt auf seinen Cruiser und fährt davon. Hagen vergräbt die Hände in den Hosentaschen, stellt sich an die Straße und hält Ausschau nach einem Taxi. Franco klappt sein Handy auf und fragt, wie er mich erreichen kann. Bisher hat keiner seine Nummer preisgegeben oder gefragt, ob er mich anrufen kann. Wir finden uns im Pub.

Ich sage ihm meine Nummer. Franco tippt. Sekunden später klingelt es in meiner Jackentasche. Franco klappt sein Handy wieder zu. Ein Taxi hält. Erst als sie weg sind, schaue ich auf mein Handy und speichere Francos Nummer unter GOTT ab. Ich schließe den Mantel bis zum Hals und mache mich auf den Weg nach Hause. Ich komme keine zehn Schritte weit, als ich die ersten Schneeflocken im Scheinwerferlicht der Autos schweben sehe. Ich muß stehenbleiben. Die Erinnerung schmerzt, sie schmerzt so sehr, daß mir schwindelig wird. Für eine Weile hocke ich mich in einen Hauseingang und betrachte den nadelfeinen Schneefall. Erst als keine Tränen mehr kommen, setze ich meinen Heimweg fort.

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