Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 10

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Der Berg

Als der Journalist mit dem Pseudonym «Mimi» in die kleine Stadt zog, regnete es. Es regnete wochenlang; die kleine Stadt stand ohne Kulissen, nur mit Regenvorhängen drapiert, im Halbdunkel. Der Journalist, der eine spitze Feder führte und bald in der einzigen Tageszeitung regelmäßig eine Klatschspalte veröffentlichte, wurde rasch zum heimlichen Oberhaupt der kleinen Stadt. Es war nicht auszuschließen, dass er bald Redaktor sein würde. Er nahm zu an Gewicht, und namentlich die älteren und alten Damen betrachteten mit Wohlgefallen sein weiches, lockiges Haar. «Sie leben so sehr in der Realität!», jubelte einmal ein Fräulein, als Mimi sein Stammlokal betrat. Manche Herren zitterten heimlich vor Mimi.

Das Wetter besserte sich, und jetzt, da Sonnenlicht auf die Stadt fiel, sah Mimi, dass im Hintergrund ein hochmütiger Berg stand, der seinen Scheitel manchmal hinter einem dünnen Schleier verbarg. Er spielte nicht mit den weißen Wolken, die um ihn herumtanzten, und die andern Berge buckelten vor ihm und schauten niemanden an als ihn. Mimi, der von seinen Lesern gemästet schien, begann an seelischen Verstimmungen zu leiden. Er unternahm lange Autofahrten oder ging auf dem äußersten Rand des Gehsteigs wie auf einem Seil. Immer deutlicher wurde in ihm die Vorstellung, er müsse sich einigen Bergsteigern nähern und sie fragen, ob er mit ihnen zusammen den Berg bezwingen dürfe. Er hätte beim Berg ein- und ausgehen mögen, doch auch wenn er mit der Zahnradbahn in seine Nähe gelangte, wurde seine son­derbare Unruhe nicht gestillt. Er kaufte sich Bergschuhe, dann eine ganze Bergsteigerausrüstung. Die Bergsteiger ­lachten ein wenig über ihn, doch nahmen sie ihn mit und anerboten sich, ihm zu helfen, bis zum Scheitel des Berges hochzuklettern; von dort würde er auf die kleine Stadt hin­un­terblicken können.

Niemand weiß genau, weshalb Mimi dann eigentlich abstürzte; vielleicht konnte der Berg ihn nicht leiden. Manche Herren atmeten auf, die älteren und alten Damen aber weinten an der Beerdigung heftig, und das Fräulein, das gefunden hatte, Mimi lebe «so sehr» in der Realität, warf eine Alpenrose und ein Edelweiß in die Grube.

Anna und ich

Sommer

Was soll der Vater mit seiner Selbstfindung machen, zu der ihm der Psychiater in jahrelangen Therapiesitzungen nach dem allzu frühen Tod seiner Frau verholfen hat? Soll er sein entkleidetes Bildnis einrahmen und an die Wand hängen? Soll er es unterentwickelten Völkern schenken? Der junge Psychiater, der hinter einem netten Gesicht ruht, das, so findet der Vater, dem Buchstaben E gleicht, hat den Vater nicht vom Zwang erlöst, sich einmal umbringen zu müssen. Der Vater fürchtet sich davor, als unerlöste Seele dann mitten auf einem Platz zu stehen, als helles Licht, Sommer für Sommer, eine Ewigkeit lang. Alle Häuser wären weit zurückgetreten, winzig klein und knallgelb, und der Lärm und die Autoabgase würden die unsichtbaren Ohren und die große, unsichtbare Nase des Vaters füllen. Der Psychiater, älter und noch perfekter geworden, würde seinen ehemaligen Patienten nicht grüßen, da er ihn nicht erkennen könnte.

Aus diesem Grauen heraus küsst der Vater Rebekka, eilt nach der ungeliebten Arbeit als Versicherungsagent jeden Abend durch farblose Unterführungen (oben fahren Autos und Straßenbahnen), um seine einzige Tochter zu erreichen und in die Arme zu schließen; da er als ehemaliger Pfadfinder wichtige Wege nie verfehlt, kommt er stets sehr schnell zum Ziel, auch wenn er sich in fremden Außenquartieren befindet.

Rebekka hat ihr Nachthemd über den halboffenen Balkonflügel ihres Zimmers gehängt und tanzt mit gotischen Füßen auf dem roten Teppich. («Sie hat gotische Füße», stellte vor einiger Zeit die Nachbarsfrau schrill fest, die Vaters Haushalt führt und nebenbei Rebekka zu erziehen versucht. Sie erinnert sich noch an den Tag, als der Vater Rebekkas Mutter geheiratet hatte; er rannte an der Seite seines Schwiegervaters an einem Maisfeld entlang und redete atemlos über Mais, während die schwangere, sehr junge Frau weit hinten lächelnd ging und ein weißes Täschchen in der Hand trug. Ihr Ehering glänzte. Sie starb nach Rebekkas Geburt und hörte im Sarg nicht auf zu lächeln.)

In einer Ecke des kleinen, viereckigen Rasenstücks hinter dem Haus stöhnt eine gefangene Taube; sie hockt neben ihrem lahmen Flügel in einem runden Drahtverhau unter einem Busch mit unordentlichen Blüten. Der Busch wagt sich vor dem Himmel auszustrecken wie vor einer steilen, hohen Wand. Rebekka wartet, ob die Taube nicht endlich schreie. Einmal sah Rebekka eine Taube, die von einem Auto überfahren wurde; sie zerplatzte mit einem lauten Knall. Rebekka glaubt, Tante Clara zu sein, die ein Bild gemalt hat, oder sie denkt an die Großmutter, deren Augen hinter den Brillengläsern wie riesenblaue Blumen glänzen und die sich die dürren Lippen schminkt; sie sieht aus, als hätte sie Blut geschlürft. Rebekka übermalt Tante Claras Bild mit dicker Acrylfarbe. Einmal erblickt Rebekka auf der Hecke, über die der Junge, den sie liebt und mit dem sie nicht sprechen darf, Steine auf den Rasen wirft, einen Falter, der aussieht, als ob er in einem tiefen Keller gewachsen wäre. Rebekka glaubt, Bienen sängen in ihrem langen Haar, das sie kurz schneiden will, um dem Vater weh zu tun, und das die Farbe blasser Rüben hat, die nicht saftig sind. Sie liegt in den Nächten auf ihrem Bett an die kalte Wand gepresst, aber die linke Seite ihres Körpers glüht. Heute träumt sie von Häusern mit unterschiedlich gefärbten Dächern, kleinen Balkonen, neun Kaminen und drei Fernsehantennen; auf einem der Balkone sitzt ein gefangener Alkoholiker und komponiert, ohne einen Ton von sich zu geben, und seine Frau füttert ihn mit Erdnüsschen. Rebekka will ihm winken, um ihn zu trösten, da spürt sie plötzlich die Lippen des Vaters auf den ihren: Sie sind warm und trocken wie ein junger Vogel, der noch immer, schon lange, in seinem Nest sitzt.

Heilig

Es ist kalt und neblig. Kleine Dachfenster mit rostigen Fens­terrahmen und magere Kamine beleben die Kulisse, die Vero­nika vom Gartenrestaurant aus betrachtet. Aus einem runden Betonbecken wächst Efeu, das ein fremder, roter Hund beschnuppert; er träumt davon, eine Herrin, die kleine Heilig mit den zu großen Augen, durch die Stadt zu ziehen. Außer Veronika und Heilig sitzt kein Gast unter den Bäumen. Das Restaurant befindet sich in einem Stadtteil, den Veronikas Mann nie aufsucht; als er dies erwähnte (ohne zu wissen, dass sie sich tagtäglich dort aufhält), klopfte ihr Herz glücklich und aufgeregt, was sie nicht verstand.

Jeden Tag wäscht Veronikas Mann sein erdnussfarbenes, schütteres Haar und pudert sein Gesicht. Er sammelt getrock­nete Patisserien, farbige Pillen und Kapseln in Gläsern, die Veronika abstaubt und hasst. Eine Tochter hat sie sich selber geschenkt; sie nahm das Kind in Pflege, dessen Name man ihr am Telefon mitteilte. «Heilig?», hatte Veronika verblüfft gefragt, «ist denn das ein Name?» – «Nein, Heil-wig», hatte man ihr lachend geantwortet. Während ihr Mann mit dem Staubsauger von Wohnung zu Wohnung zog, Teppiche reinigte, den entsetzten Hausfrauen ein Mittel gegen Teppichflöhe, die er in ihren gepflegten Räumen angeblich entdeckt hatte, anpries und den Staubsauger dazu, erwartete Veronika ihre Pflegetochter, die von der Schule kam, jeden Abend in diesem Gartenrestaurant. Sie tut dies heute zum letzten Mal; sie muss Heilig (wie sie das Kind nach jenem Missverständnis nennt) zurückbringen in eine dunkle Welt, wo Heilig von niemandem erwartet wird. Veronikas Mann erträgt Heilig nicht.

Die Statue im Hintergrund des Gartens ist unter einer goldenen Farbschicht erstickt; ihre toten Augen glänzen. Die Blätter am Boden ähneln den Händen von Greisen, und der Baumstamm, an dem Heilig lehnt, gleicht einem von harter Arbeit gestrafften Männerkörper. Eine hässliche Zahnpro­these, die Heilig auf dem Jahrmarkt gekauft hat, entstellt ihr spitzes Gesicht. «Es soll ein Witz sein», sagt sie und lächelt.

Veronika schlägt ihren Mantelkragen hoch und nippt am vierten Kaffee, den sie am Selbstbedienungsbuffet geholt hat. Früher bewegten sich Kellner wie große, vom Wind gefaltete Servietten zwischen den Bäumen; man gab Zeichen, die sie offenbar verstanden, denn sie trugen Flaschen und Gläser herbei. In Spanien klatscht der Gast in die Hände, was als Befehl gedacht ist, doch nie schlägt jemand auf eine Trommel, um sich den Kellnern mitzuteilen; Veronika möchte trommelnd durch die vom Nebel verdunkelten Straßen der Stadt ziehen und ausrufen: «Mein Mann hasst Heilig; er schickt sie fort; er nimmt sie mir weg!»

Der fremde, rote Hund balanciert seine Nase wie einen frischen Pilz, den er Heilig anbietet; sie kauert sich nieder und krault mit der behandschuhten Rechten seinen vom Nebel feuchten Nacken; ihre Draculazähne wackeln. Eifersucht schüttelt Veronikas Herz, macht es vor Angst schwach und schlaff; zitternd streichelt sie Heiligs Schulmappe, die vor ihr auf dem Tisch liegt.

Die Zeichnung

Der Regisseur sensibler Filme bewohnt eine geräumige Wohnung im obersten Stock. Wer zu einem der großen Fenster hinausblickt, glaubt, die Stadt sei eingesunken; die Häuser sind niedrig, und jenseits der Dächer, auf denen der Nebel hockt und die nassen Pfoten leckt, macht sich der Fluss da­von. Manchmal tritt ein Turm aus seinem Versteck hervor. Kein Mensch bewegt sich hinter den dunklen Fenstern der Häuser, kein Vogel fliegt vorbei.

Das Mädchen kniet am Boden und skizziert den Erker mit dem leeren Vogelkäfig, den beinah verdorrten Feigenbaum und den chinesischen Wandschirm; der Regisseur, der auf dem breiten Bett liegt, erscheint nicht auf dem Blatt. Auf dem Bettrand vor der leeren Wand sitzt der Freund des Regisseurs, ein junger Drehbuchautor; er raucht und beobachtet das Mädchen. Plötzlich erhebt sich der Regisseur und tritt neben die Zeichnende, die ein wenig in sich zusammensinkt. «Sie ist ganz gefühllos», sagt der Regisseur zum Freund, indem er den Mund, der von einer Hornhaut eingefasst scheint, nur wenig öffnet, so als fürchte er, ein unbedachtes Wort könne entweichen. «Ich hab sie endlich gefunden; sie passt genau. Schau ihre Zähne und den Halsansatz an.» – «Auch die Augen», bemerkt der Freund. Das Mädchen denkt, seine Stimme sei im dünnen, weißen Rohr gefangen, das zum Lichtschalter führt. Der Regisseur, der die nackte Wade der Knien­den mit seiner Schuhsohle leicht betupft, fährt fort: «Sie ist weder aufmerksam noch hat sie Phantasie; sie wird nie in unsere Welt vordringen. Sie kann unsere Melodie nicht wahrnehmen und unsern Rhythmus nicht spüren. Um mich zu ärgern, zeigt sie sich beleidigt, wenn ich ihr nicht die Namen aller Dinge ins Ohr hinein vorsage. Sie ist ahnungslos, kennt weder Erinnerungen noch Hoffnungen. Ich habe ihr verboten, mir je wieder eine Frage zu stellen, denn ihre Fragen sind …» Während er sich zur Tür begibt, wiederholt er: «Ihre Fragen sind … Schläge, mit denen sie mich töten will.» Der Freund zögert, deutet auf das barfüßige Mädchen im kurzen, gelben Kleid, schüttelt ein wenig fassungslos den Kopf und folgt dem immer noch Sprechenden zur Tür hinaus; sie wird abgeschlossen. Lautlos schwingt sich der Nebel aufs Sims.

Ein schwächer werdender, unsicherer Strich zeigt an, dass die Hand des Mädchens, die den Bleistift führte, leblos über das Papier zur Seite gerutscht und, sich langsam umdrehend, auf dem Steinboden gleich einer halboffenen Blüte liegen geblieben ist; der Kopf neigt sich tiefer, und die Haare bewe­gen sich wie helles, vom Wind gewelltes Gras. «Wenn er mich jetzt sähe», denkt das Mädchen nach einer Weile. Es richtet sich etwas auf, nimmt den Bleistift und zeichnet den Regisseur; er sitzt im Vogelkäfig, und von beiden Achseln hängen die Arme wie gebrochene Flügel herunter. Eulenhaft starrt er durch die Gitterstäbe, denn das Mädchen stellt ihn ohne die dunkle Brille dar, die am Tag und in den Nächten seinen Blick zusperrt.

Der Abstecher

Stämpfli Max, der von der Insel, auf der er zwanzig Jahre lebte, zurückgekehrt war, erzählte von den Alten Zeiten. Er sprach vom Greis, der mit Bleistiften, deren Spitze abge­brochen war, unermüdlich Geisterschrift geschrieben hatte, Briefe oder Gedichte, die niemand, selbst der Alte nicht, hatte lesen können. Als Kinder hatten sie ihn verspottet. «Er wollte nach dem Tod seiner Frau», sagte Stämpfli Max, «die Augen nicht mehr anstrengen; sie waren auf die weiße Leere gerichtet, die er überschreiben, die er mit Worten zudecken wollte, aber er vermochte es nicht.»

Stämpfli Max und die Frau seines toten Schulfreundes saßen am hohen Bogenfenster. Die Tanne im Garten, die der Sturm gebrochen hatte, war gestern weggeräumt worden; nur ihr Stumpf ragte noch aus der zerwühlten Erde. Überraschend war der Blick über die Ebene frei geworden. Blumen lagen zerfetzt und Sträucher stützten sich gegenseitig. Die Autos, die sich auf der fernen Straße im Gänsemarsch fortbewegten, schienen auf der Suche nach einer saftigen Weide; die alte musste verdorrt oder abgegrast sein. Der Abend schleppte müde seinen mattgoldenen Mantel über die Wolkenklippen und sprang in das Rauschen der Nacht. Stämpfli Max trank einen Schluck Wein und leckte sich den ergrauten Schnurrbart, den er wie sein lockiges Haupthaar wild wuchern ließ. Er war ein kurzer, breiter Mensch, ein Bildhauer mit mäßigem Talent und wenig Erfolg. «Auch ich bin seit dem Tod meiner Frau wunderlich geworden», sagte er mit einer gewissen Behäbigkeit. Er wusste, dass er gut und sicher formulierte, aber er saß während des Sprechens unbewegt da – auch seine Stimme hob und senkte sich nicht, und seine Augen erloschen. «Wünsche oder Befürchtungen verstecken sich zum Beispiel blitzschnell in Gegenständen und beseelen sie. Sie offenbaren sich mir in verlogenen Gebärden; sie zeigen sich maskiert; ihre Maskierungen wollen erkannt sein. Es kommt vor, dass die Türfalle der Eingangstür meines zerfallenden Hauses abbricht und in meiner Hand zurückbleibt, wenn ich am Abend überprüfen will, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist. So überfällt mich flüchtig und schreckhaft der Eindruck, ich könne die Tür nie mehr öffnen; meine Angst vor der Einsamkeit zeigt sich mir in einem kurzen Augenblick und verflüchtigt sich sogleich wieder, denn natürlich merke ich, dass die Falle sich noch immer an der Tür befindet. Oder ich sehe – ebenfalls in Sekundenschnelle –, dass die Wand eines Zimmers sich neigt und auf mich zu stürzen droht; die versteckte Angst, auf jener Insel unter den Trümmern meiner Hoffnungen für immer begra­ben zu werden, tritt auf diese Weise in mein Bewusstsein.»

Die Frau lauschte schweigend; Schatten versenkten ihr Gesicht. Plötzlich hörte er ihre Stimme wie das Flüstern von Blüten im Wind: «Mein Haus ist meine Insel. In der Todesanzeige, die von Karls Arbeitgeber in der Zeitung veröffentlicht worden war, las ich: ‹Während über zwanzig Jahren hat Herr Wagner seine ganze Kraft und sein Können in den Dienst unserer Bank gestellt.› Nun erst begann ich zu weinen. Der Hass auf ihn und auf alle steigt manchmal in mir hoch wie Brechreiz, bleibt beim Herzen stehen und versetzt ihm Stöße.» Nach einer Weile setzte sie hinzu: «Siehst du den Mond? Er ist wie ein Katzenauge; einmal eng, einmal weit. Er belauert uns.» Sie saß ein wenig zur rechten Seite geneigt; den Arm hatte sie auf der Lehne des Sessels aufgestützt. Während der Gesprächspausen klemmte sie ihre Lippen zwischen Zeige- und Mittelfinger der mit der Innenfläche nach außen gedrehten Hand. Stämpfli Max erinnerte sich, dass sie vor ihrer Heirat Tänzerin gewesen war und als junges Mädchen den Ehrgeiz gehabt hatte, zu verhungern; dies war ihr als höchste Seligkeit erschienen. Sie war damals ein schönes Mädchen mit einer großen Nase, die sie aber später durch eine Operation verkleinern ließ, da Karl über die Nase gerne Witze machte. Nun hatte sie sich eingeschlossen in den Mauern der Nacht; keine Ritze, keine Luke ließ Licht hereinschimmern. Er erkannte sie nicht mehr. Er fühlte, dass sie dabei war, die Erinnerungen an einem geheimen Ort ihres Herzens zu verscharren. Die Bilder der Vergangenheit hatten ihm aus jener Welt geleuchtet, die klein ist wie das Nadelöhr und groß wie das Tor zum Paradies; diese Bilder hatten sein Herz erwärmt und erhellt und seinen Gedanken, die für einige Augenblicke leicht, ja, schwebend schienen, Süße verliehen. Nun herrschte Finsternis, und Kälte drang ins Zimmer.

Verwirrt wie einer, der Zeuge war, als eine Blume in weni­gen Sekunden ein Wasserglas leertrank, erhob er sich und verließ die Frau, um das Schiff zu erreichen und auf seine Insel zurückzukehren. Dort sagte er zu seinem Papagei: «Ich habe einen Abstecher gemacht.»

Kavalier

Der magere Jochen möchte Isländer sein; er stellt sich vor, dass er dann das Recht hätte, zu schweigen und zu fischen.

Gedanken wie Blattgerippe: Veronika hält sie dem mageren Jochen vor; am Stiel. Sie dreht sie, wirbelt sie. Er weiß, dass sie als Kind viel gelitten hat. Man hat sie im Suppentopf gekocht, man hat sie geschält, man hat sie am Baum vor dem Haus aufgehängt; ein Rabe hat sie aufgefressen, wieder ausgespuckt. Noch immer lebt sie. Aber nein, natürlich wurde sie nicht im Suppentopf gekocht; man hat sie, abwechselnd, mit brühheißem und eiskaltem Wasser übergossen. (Die Vorstellung, dass es ihrer Katze gut geht, wenn sie durchs Quartier streift, sollte sie glücklich stimmen. Und dass die Katze nachher vor der kalten Zentralheizung sitzt und sie anbetet – vermutlich in der Erinnerung an den Winter, wenn der Heizkörper heiß ist.) Der magere Jochen beneidet Veronika; sie kann die kleine Tippmaschine am Bankschalter an der Grenze, wo die Leute Geld wechseln, flink bedienen. Sie rechnet im Nu, begreift immer, was die Bankkunden wollen. Auch der magere Jochen hat seine Vorzüge: Er erkennt die Busstationen, wenn er gewisse Orte in der Stadt aufsucht – zum Beispiel die am Arbeitsamt, an der Krankenkasse oder an der Volkszahnklinik. Er weiß, welche Gesichter die Häuser an welchen Stationen machen, wenn er auch die Gesichter nicht beschreiben könnte; es sind keine Einzelheiten, die ihm im Gedächtnis haftenbleiben. Die Häuser gruppieren sich immer ein wenig anders, die Bilder wechseln; eigentlich sind es verschwommene Zeichen, die ihm bedeuten: Jetzt bist du da, jetzt bist du – für eine Weile – angekommen.

Veronika und der magere Jochen leben in einem Betonhaus, dem hässlichsten Haus der Straße, im Parterre. Die Geräusche im Mietshaus sind aufdringlich: die Glocke, der Türöffner, die Fernseher, Schritte und Stimmen. Der Autolärm hinter dem Fenster ist laut, unaufhörlich, unhöflich. Der Himmel bildet ganz oben am Fenster einen gezackten, blauen oder grauen Rand; die Zacken entstehen, weil spitze Dachfenster wie winzige Häuser auf den schrägen Dächern stehen. Wer dahinter wohnt, kann man nicht ahnen. Der magere Jochen und Veronika sehen den Himmel, wenn sie sich bücken; sie bücken sich, um zu schauen, ob es regnen wird.

Sie nehmen das Mittagessen in einem dunkeln Restaurant ein, das keinen schlechten Ruf hat. Veronika trinkt zu viel Weißwein, raucht zu viel und spricht nicht wenig, aber im Restaurant schreit sie nicht oder nur selten. Immer am gleichen Tisch sitzen zwei Frauen zwischen vierzig und fünfzig und haben sehr enttäuschte Gesichter. Der magere Jochen nimmt sich am zweiundzwanzigsten April nach dem Mittagessen vor, am Abend seinen Wecker und seine Schlafpillen in einen Papiersack zu legen und mit dem Bus in ein stilles Hotel zu fahren, um dort zu wohnen. Er wird mit seinem Wecker reden; der Wecker heißt Kavalier und weckt ganz sanft, mit zupfenden Tönen; wenn man den Wecker nicht abstellt und einfach weiterschläft, beginnt er zu schrillen. Der magere Jochen erwacht immer schon beim ersten, sanften Stupfen; es ist, als ob der Wecker ihn mit den Tönen betupfen würde. Übrigens ist Veronika nicht allein, wenn er sie verlässt; sie hat eine große, eine mächtige Freundin, die ihr jedes Mal, wenn sie Veronika erblickt, aus einer kleinen Flasche Parfum an den Hals spritzt und dann fragt: «Du willst doch?»

Nein, der magere Jochen wird Veronika nicht verlassen, weil er sich ihre Rabenaugen nicht nur vorstellen will – wie sie aussehen, wenn sie lacht oder lächelt oder weint, und ihr Rabenhaar, durch das er mit allen fünf Fingerspitzen der rechten Hand auf die Kopfhaut drückt. Er erschrak einmal, als er sah, dass ihre Kopfhaut weiß ist; er hatte sie sich schwarz vorgestellt.

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