Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 11

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Fräulein Heim

Die Lampe auf Fräulein Heims Pult, das in einer Ecke stand und durch Tageslicht wenig beleuchtet war, brannte nicht. Man bedeutete Fräulein Heim, ein Herr Kinkelmann oder Hunkelmann ersetze die defekte Birne; sie ging zu dem Herrn, der eine Ärmelschürze trug und ihr eine neue Birne gab, die Fräulein Heim jedoch nicht in die Lampe einschrau­ben konnte. Fräulein Heim suchte den Herrn abermals auf, doch der sagte, er sei nicht Herr Kinkelmann, obwohl die Ärmelschürze dieselbe war. Er zeigte Fräulein Heim, dass ein Ring, der an der defekten Birne angebracht war, an die neue gesteckt werden müsse; doch auch mit diesem Ring konnte Fräulein Heim die neue Birne nicht in die Lampe schrauben; sie arbeitete im Halbdunkel.

Als Fräulein Heim um zwölf Uhr aus dem Büro auf die Straße trat, hatte sie den Eindruck, Spinnen webten ein dichtes Netz von Dach zu Dach. Im Gartenrestaurant, wo sie das Mittagessen einnahm, setzte sie sich unter einen roten Baum, der inmitten von grünen Bäumen stand. Sie äugte durch ihre große Brille und hatte dabei einen Ausdruck im Gesicht – nicht hart, nicht vulgär, aber furchtbar, als ob sie etwas Entsetzliches erlebt hätte. Ein junger Mann mit Pferdeaugen trat auf sie zu und fragte, ob der Platz neben ihr noch frei sei; Fräulein Heim bejahte, dann aber sah sie, dass der Mann den Stuhl, nicht den Platz meinte, denn er trug den Stuhl fort an einen andern Tisch. Fräulein Heim saß dort viele Stunden und rauchte. Sie dachte daran, dass Hirten die Gesichter von Tieren lesen können. Wer die Gesichter von Menschen liest, gerät manchmal ins Stottern. Die Fähigkeit von Fräulein Heim, Gesichter wiederzuerkennen, war sehr beschränkt. Sie stellte sich vor, dass es vielleicht leichter sei, Rosen vonein­ander zu unterscheiden als Menschen. Sie lebte jeden Tag nur für wenige Stunden oder Minuten; dann nahm sie Konturen wahr; den Rest des Tages, den größten Teil des Tages hing sie wie eine noch nicht abgebetete Perle eines Rosenkranzes im Leeren, wanderte fühllos, bis der Beter sie hochzog, zwischen die Fingerspitzen nahm und leicht drückte. An den gestrigen Tag zum Beispiel konnte sie sich nicht erinnern; sie wusste nur noch, dass am Abend die Menschen, darunter auch Kinder, von acht bis halb elf Arm an Arm, Rücken an Bauch am Brückengeländer und an beiden Ufern des Flusses standen und auf ein Feuerwerk warteten. Plötzlich erblühten und welkten große Bäume aus farbigem Licht.

Wenn sie sich an den vorgestrigen Tag erinnern wollte, musste sie nachschauen, was sie in ihrer Agenda notiert hatte; da standen der Name und die Adresse einer Firma. Ja, sie hatte sich in einer Firma für Beleuchtungskörper vorgestellt. Sie wollte sich verändern, wie sie in einem Stelleninserat kundtat. Die Eingangshalle war leer: Kein Mensch, kein Stuhl, nichts befand sich dort – nur ein Telefonhörer, den der Eintretende abheben musste; eine Stimme wies ihr den Weg. In einem Großraumbüro, das mit Neonlicht erhellt und mit dunkelgrünen, glänzenden, südlichen Pflanzen (Plastik?) ver­stellt war, saßen die Arbeitenden hinter halbhohen, orangefarbenen Wänden, die unzählige kleine Zellen abteilten. Man hörte nur, wie an Telefonen leise gesprochen wurde. Die Per­sonalchefin stellte lächelnd Fangfragen; Fräulein Heim war von Anfang an klar, dass sie die Stelle nicht bekäme, nicht bekommen wollte. Lieber wollte sie verhungern: auf frosthartem Grund hockend, über ihr das Glas des Himmels, in dem sich nichts spiegelt.

Vereinzelt saßen noch Gäste an wenigen Tischen, als Fräulein Heim aufstand und davonging, nach Hause, um ihr langes Kleid anzuziehen. Um acht Uhr abends betrat sie den Konzertsaal; man hörte dort die Straßenbahn: Während Papa Haydn im Feuerwagen über die Köpfe der Zuhörer rollte, ratterte die Straßenbahn unter den Stuhlreihen durch; Fräulein Heims Stuhl zitterte. Fräulein Heim mochte den Dirigenten; sie bewunderte seine Eitelkeit, liebte die abstrakten Gemälde, die er mit seinem Taktstock in die Luft malte; er malte und tanzte gleichzeitig. Als die ungeduldigsten Zuhörer schon am Ausgang drängelten, stand Fräulein Heim immer noch vor ihrem Stuhl und klatschte langsam in die Hände; die Brille war auf ihre Nasenspitze gerutscht und Tränen liefen über ihr Gesicht; es war ihr, als beklatschte sie die Schrecknisse der gewöhnlichen Tage.

Ein Fremder

Gaston saß vor der Kommode und starrte in den Spiegel des Spiegelkästchens, das ein Geigenbauer angefertigt hatte. In der linken Hand hielt er eine lange, zündrote Locke, die von der Schläfe herunterhing; mit einer stumpfen, großen Schere klemmte er das Haar fest, riss daran, dann schnitt er wie mit wütenden Schnabelhieben die Locke entzwei. Er schnitt auf beiden Seiten des mit Laubflecken übersäten Gesichts, über der Stirn, hinten im Nacken, wo er nichts sehen konnte: Er war mit abgeschnittenen Haaren über und über bedeckt, und auf dem Boden lagen sie in langen Flechten und in Häufchen. Eugen sollte Gaston nicht wiedererkennen; Gaston wäre ein Fremder, und er führte mit Eugen Gespräche wie mit einem Fremden, redete, als würde er ihn zum ersten Mal sehen, von Dracula, Eugens Kater – Graf Dracula, der, wäre er ein Mensch, im Telefonbuch in der Schweiz den Titel Graf weglassen müsste; es ist nicht gestattet, sich in der Schweiz Graf oder Fürst zu nennen; Grafen und Fürsten müssen sich verleugnen, müssen vorgeben, sie seien gewöhnliche Männer wie Eugen, Gastons Freund, der – spaßeshalber – Draculla sagte statt Dracula.

Ritsch, ratsch schnitt Gaston sein Haar. Er hatte die De­ckenbeleuchtung eingeschaltet, obwohl es noch Tag war. Graf Dracula saß schnurrend in einiger Entfernung und beob­ach­tete, wie die Haarbüschel zu Böden fielen. Nachdem Gaston die letzten Stoppeln, die von seinem Kopf abstan­den, weggeschnitten hatte (wobei er einen kleinen Spiegel zu Hilfe nahm), lachte er plötzlich. Er erinnerte sich, wie Eugen ihn an Sonntagen in seinem Auto ausführte; die vielen Signaltafeln rührten Eugen stets; er fand es so nett, wie der Autoverkehr sich ordentlich abwickelte, wie an alles gedacht worden war, um Unfälle zu vermeiden. Eugen sagte einmal, die Menschheit sei nicht so schlecht. «Es gibt eifrige Männer, die das Gemeinwohl im Auge behalten», erklärte er, «und die für Ordnung sorgen.» Jede Abschrankung, jeder Hinweis, jede Ortsbeschriftung entzückte ihn. Beinah stiegen ihm Tränen der Freude in die Augen, wenn er die verschiedenen Zeichen richtig deutete und seinen Weg mühelos zurücklegte. In der Nacht begeisterten ihn die leuchtenden Steinpflöcke, die die Straßen abgrenzten. Wie umsichtig war alles geplant! Planung war seine Leidenschaft; als Konzertagent war ihm noch nie eine Panne unterlaufen – immer hatte alles geklappt.

Gaston stand auf, zupfte die abgeschnittenen Haare von seinem Morgenmantel (ein Geschenk Eugens), holte einen kleinen Wischer und schob Berge von rotgoldenen Locken auf die Schaufel, die er anschließend wegtrug. In der Küche setzte er sich an den Tisch, goss Cola in ein Glas und rauchte; der Rauch schwebte, in kleine Schleier verteilt, langsam auf und nieder. Er trommelte mit seiner linken Hand auf dem Tisch; es war eine zierliche Hand – so zierlich, dass sie fast ver­­krüppelt wirkte. Graf Dracula sprang auf seine Knie. Gaston betrachtete den glänzenden Rücken des Katers und seine Ohren, die manchmal zuckten. Gastons kupferfarbene Augen waren noch runder im langen Gesicht. Er fror am Kopf. Aus dem Radio, das auf dem Holzherd neben dem Gasherd stand, sprach die Vertreterin einer sprachlichen Minderheit. Durchs Fenster sah Gaston Leute vorbeigehen; er hörte ihre Schritte, hörte sie sprechen, verstand aber nichts. Der Himmel schien dunkel, obwohl er blau war. Plötzlich erkannte Gaston Eugens Profil; wenig später hörte er, wie Eugen die Haustür aufschloss, durch den Korridor ging und die Wohnungstür öffnete; gleich würde er eintreten.

Marianna im Zelt

Im Hinaufsteigen sieht Bruno auf dem Hügel Figuren wie Schaufensterpuppen vor dem blauweiß gestreiften Himmel. Plötzlich erkennt er, dass es Menschen sind, die, die Arme erhoben, in den Himmel blicken; er weiß nicht, was sie dort sehen, und kehrt wieder um. Mit seiner rechten Hand befühlt er in der Jackentasche den Fahrplan, den seine Mutter ihm jedes halbe Jahr schickt: eine Aufforderung, sie zu besuchen. In seiner linken Jackentasche steckt die Agenda mit den Telefonnummern, die er nie einstellt.

Weit unten stehen die Bäume starr in Achtungstellung: ein ganzes Heer, das vor Urzeiten herangestampft ist. Zwischen den Bäumen lebt Marianna, Brunos Freundin, in einem Zelt; nur die Grasmilben stören sie. (Sie brät vor ihrem Zelt jeden Tag ein Lamm und lädt alle Leute ein, die vorbeigehen.)

Marianna lebte leise am Rand. Jeweils am Abend saßen sie auf dem roten Kanapee, das an der Wand des roten Zimmers steht, und sahen durch die geöffnete Flügeltür ins grüne Zimmer und, durch eine dort offene Tür, ins gelbe Zimmer. (Mitten im grünen, leeren Zimmer steht seit langem ein Kessel mit Farbe und eine Leiter; Brunos zweite Frau wollte das Zimmer neu, schneeweiß, streichen, doch sie wurde plötzlich verhaftet. Bruno besucht sie einmal im Monat und spricht mit ihr durch eine Glaswand in Anwesenheit eines Wärters. An der Wand ist ein Schild angebracht: «Abschiedsszenen nicht gestattet.») Im roten Zimmer steht links der zerbro­chene Kachelofen, rechts das mit einem dünnen Teppich zugedeckte Klavier. (Brunos erste Frau, Hildegard, spielte Klavier.) An der hintern Wand des gelben und kleinsten Zimmers hängt ein Spiegel, in dem sich die Wand des roten Zimmers, vor der sie saßen, spiegelt; zwei Drittel eines ovalen Bildes – eines Aquarells aus dem letzten Jahrhundert – und der untere Teil des vierarmigen Leuchters mit den Glastränen sind von jenem Platz aus im Spiegel zu sehen. An den Wänden hängen Brunos Bilder; er malte Frauen wie seltsame Blumen, doch seit Hildegards Tod malt er nicht mehr. Die Räume sind kühl; nur im Korridor brennt im Winter ein Ölofen, der die drei beschriebenen sowie ein viertes, blaues Zimmer heizt, das von ihrem Platz aus nicht zu sehen war. In jenem Zimmer liebten sie sich, schliefen sie. Sie redeten nicht, wenn sie vorher im roten Zimmer saßen, aber tranken roten Wein. Marianna gebrauchte modische Wörter wie irgendwie und total, was Bruno nicht leiden konnte und weshalb er ihr am Abend das Reden verbot. Er findet solche Wörter, die in Hildegards Wortschatz und im Wortschatz seiner zweiten Frau nicht zu finden waren, wenig delikat. Einmal sagte Marianna in einer kalten Winternacht flüsternd trotzdem: «Irgendwie kann ich mich dir nicht total ausliefern», worauf Bruno sie aus dem Haus wies. Sie kehrte am Morgen blaugefroren zurück; erst als es Frühling wurde, zog sie ins Zelt.

Das Foto

Die Fenster sind verschieden groß, und das Dach ist auf der einen Seite steiler als auf der andern. Mitten auf der geteer­ten Straße, die vom Haus zum Fluss führt, ist eine lange, schwarze Bremsspur zu sehen. Der kleine Hermann mit dem weißblonden Haar, das wie eine Perücke aussieht, die über seinen Kopf gestülpt wurde, stellt sich den Fluss doppelt so breit vor, als er ist; er versucht zu denken, der Fluss sei ein Strom, obwohl er noch nie einen Strom gesehen hat. Der Fluss befördert wie ein grünes Fließband zwei Enten. Ob sie mit den Füßen rudern, obwohl sie weggetragen werden? Lange steht Hermann am Ufer und isst ein Stück Brot; er kaut auf der linken Seite, weil auf der rechten ein Zahn wehtut. In der Straße daheim scheint das Vogelgezwitscher aus Lautsprechern in den Autolärm gestreut zu werden; hier sind die Vögel wirklich: eine Elster wohnt im Garten. Hermann denkt, sie sammle in ihrem Nest Fünfliber, Stanniolpapier und Ohrringe.

Hermann ist bei den Großeltern in den Ferien; am Abend schlafen sie vor dem Fernsehapparat ein: die Großmutter mit zurückgelegtem, der Großvater mit gesenktem Kopf. Hermanns Mutter besitzt keinen Fernsehapparat; sie hört Radio mit Kopfhörern, während sie liest, immerzu liest. Einmal hat sie ein Blatt Papier genommen und mit blauem Filzstift in großen Buchstaben darauf geschrieben: «Ich will nicht mehr leiden, ich will nur noch überleben», und das Papier mit vier Reißnägeln neben ihrem Bett an die Wand geheftet. Einige Wochen später hat sie das Papier entfernt und ein neues angebracht, auf dem stand: «Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut.» Aber auch diesen Zettel warf sie wieder fort. Sie hat vom Erben eines Buchantiquars Bücher gekauft; sie lagerten in einer Garage, von wo Hermann und die Mutter sie mit einem Handkarren in die Wohnung brachten. Jeden Samstag verrichteten sie diese mühselige Arbeit, bis die vielen Schach­teln mit den staubigen Büchern ein Drittel des Wohnzimmers versperrten. Die Mutter und Hermann sind nun wie in einem Güterwagen eingesperrt, der auf einem Nebengleis steht, weil man vergessen hat, ihn an die Lokomotive zu hängen; die Hausfassaden hinter den Fenstern bewegen sich nicht, aber im Kopf der Mutter tanzt die ganze Welt vorbei. Hermann bleibt allein; es beißt ihn im ganzen Gesicht – das kommt vom Staub der Bücher.

Gestern hat die Großmutter gesagt, als sie Hermann weckte und Hermann aus einem Traum heraus schrie: «Schrei mich doch nicht an.» Und gestern hat der Großvater einen Fotoapparat gekauft und blickt nun nach dem Mittagessen lange Zeit in den Sucher; dann muss Hermann seinen Stuhl näher zum Stuhl der Großmutter rücken. Die Groß­mutter, die sich vor dem Spiegel im Korridor gekämmt hat, stellt die Kaffeekanne beiseite und die Vase mit den Blumen in die Mitte des Tisches. Der Großvater befiehlt Hermann, den Kopf nicht zu senken und zu lächeln. Als der neue Fotoapparat dann plötzlich ein Papier ausspuckt, das der Großvater auf den Tisch legt, ist noch kein Bild darauf zu sehen; das Foto entsteht ganz langsam. Die Großeltern betrachten es aufmerksam. Die Großmutter entdeckt auf dem Foto, dass eine Schublade der Kommode nicht ganz geschlossen ist, und der Großvater versteht nicht, weshalb die Vorhänge im Hin­tergrund schwarz statt rot sind. Aber da der fotografierte Hermann lächelt, finden die Großeltern das Bild nett. Später, während die Großmutter das Geschirr wäscht und der Großvater das Tischtuch aus Plastik sorgfältig zusammenfaltet, zerknüllt Hermann das Foto langsam mit beiden Händen.

Ein zweites Ich

Der Priester erzählt im Schulzimmer vom Kind, das vergaß, sein Nachtgebet zu sprechen, in der Nacht starb und geradewegs zur Hölle fuhr. Die Kinder sitzen starr in ihren Bänken: der Sommer ist ganz klein hinter den Fenstern, weit entfernt mit seinem Vogelgezwitscher und heißen Licht. «Und welche Sünde ist die größte Sünde?», fragt der alte Priester und reißt dabei die Augen weit auf, die wie zu flüssige Spiegeleier aussehen, nur blau. Margrit hebt die Hand hoch; sie sagt: «Die Sünde wider das sechste Gebot.» – «Und wie heißt das im Beichtspiegel?», fragt der Priester mit seiner Fliegenfängerstimme. «Du sollst nicht Unkeuschheit treiben», antwortet Margrit. «Und welche Sünde ist die allerallerschlimmste Sünde, von der nur der Papst den Menschen lossprechen kann?», fragt der Priester. «Das ist, wenn wir unwürdig kommunizieren.» Margrit ist elf Jahre alt und eine gute Schülerin.

Der Abend ist der Künder der Schwärze, die hinter den Dächern lauert und langsam hervorkommt und dann schnell auf alles fällt. Margrit wirft ihren Ball gegen die Hausmauer und fängt ihn wieder. Die Mutter ist noch nicht zu Hause; sie arbeitet und kommt oft sehr spät. Ein Mann, den Margrit als dumpf empfindet, beobachtet sie schon seit einiger Zeit. Er hat eine Lücke zwischen den Vorderzähnen und einen Blick, wie ihn Blinde haben. Sein fleischiges Gesicht lächelt, als ob eine Maus lächelte. Er raucht und hustet; auch er scheint zu warten. «Willst du nicht nach Hause?», fragt er, näher tretend. Margrit antwortet nicht, klatscht den Ball gegen die Mauer und fängt ihn; der Ball ist rund und lieb, die Farbe vom vielen Schlagen verschwommen. Niemand schaut aus den Fenstern der Häuser; da ist das Haus mit den Krankenwagen in der Garage; oben wohnen ein Chauffeur und einige Krankenschwestern. Etwas entfernter steht die ehemalige Fabrik, die jetzt als Gewerbeschule dient. Weiter weg befindet sich das neue Primarschulhaus, daneben ein Holzhaus. Margrit wirft den Ball jetzt gegen das Garagentor. Das Haus, in dem sie mit der Mutter lebt, ist von hier aus nicht zu sehen. «Willst du ein junges Kätzchen?», fragt der Mann, «meine Katze hat Junge; ich kann nicht alle behalten.» – «Was will der Mann», denkt Margrit. Der Ball macht bumm, immer wieder. «Ich wohne nicht weit von hier», sagt der Mann, «deine Mutter hätte sicher auch Freude an einem Kätzchen.» Margrit hält den Ball mit beiden Händen gegen die Brust gepresst und schaut dem Mann in die blinden Augen. «Ist es bestimmt nicht weit?», fragt sie. «Nein», lächelt der Mann, «komm.»

Auf der Landstraße fahren die Autos wie in einem Spiegelsaal, denkt Margrit; die Sonne sitzt in den Scheinwerfern. Sie geht neben dem Mann, der lange Schritte macht. «Das ist aber weit», sagt sie nach einer Weile. Sie denkt an einen älte­ren Herrn, der über einen Randstein stolperte; rennend bewahrte er sich vor dem Fallen, rannte dann aber, obwohl die Gefahr vorbei war, weiter und weiter. Dann denkt sie an eine Dame mit verbittertem Gesichtsausdruck, die, ihr Zitterhündchen unter dem Arm, eine Straßenbahn bestieg. Jemand streichelte das Hündchen und sofort veränderte sich der Gesichtsausdruck der Dame; sie lächelte. – Warum fallen ihr nur diese Dinge ein?

«Hier ist es», sagt der Mann und tritt durch die angelehnte Tür in ein Haus. Margrit möchte vor der Tür stehenbleiben, aber sie folgt ihm. Ihr Herz kopiert die Schläge des Balls ge­gen das Garagentor: bumm, bumm. Der Mann zieht die Tür von innen zu, nachdem Margrit eingetreten ist; es ist dunkel. Sie hört seine Schritte nicht, spürt, dass er neben ihr steht. Seine Hände greifen sie plötzlich an. Sie hält sich an ihrem Ball fest. «Still», keucht der Mann, obwohl sie ganz still ist. Was macht er mit ihr? Um Gottes willen, was tut er? Als er endlich die Tür aufreisst und davonrennt, geht auch Margrit in die hellen Kulissen nach draußen. Warum können ihre Beine noch gehen? «Spatzenbeinchen», sagte einmal die Mutter einer Schulkameradin zu Margrit. Ein Spatz erlebt nicht, was sie erlebt hat. Sie wird ihrer Mutter nichts erzählen.

Am Sonntag geht sie mit den andern Kindern zur Kommunion; nachher fällt der Gedanke über sie, dass sie nun von Gott verdammt sei; nur der Papst könnte sie lossprechen. Ihr Ich steht wie eine ausgeblasene Kerze im Dunkel. Sie muss ein zweites Ich erfinden, um weiterleben zu können; ein Ich, das lachen und spielen und Hausaufgaben machen kann.

Im Alter von neunzehn Jahren begeht Margrit Selbstmord.

Die junge Mutter

Die junge Mutter kann nicht durch das Haus hindurchgehen, auch nicht um das Haus herumlaufen. Das Haus steht einge­klemmt zwischen Häusern. Zum Hin- und Herlaufen hat sie fünf kleine Flächen: den Korridor (ohne Fenster), die Küche (ohne Fenster), das Badezimmer (ohne Fenster), das Zimmer (mit Fenster) und den Balkon.

Dort, wo die junge Mutter ihre Kindheit verbrachte, gab es ein Vor-dem-Haus, ein Hinter-dem-Haus und zweimal ein Auf-der-Seite-des-Hauses. Ein grüner Papagei mit einem gelben Fleck auf der Stirn und roten Flügelrändern ächzte wohlig; er saß hinter dem Haus auf einem kahlen Ast, der an einer der dünnen Metallsäulen, die den Balkon zu tragen schienen, mit Draht festgebunden war. Der Baum am Gartenhag war eine Schutzmantelmadonna, die ihren Mantel lüpfte, wenn der Wind angerannt kam und bei ihr unterstehen wollte.

Die junge Mutter holt am Abend, wenn sie von der Arbeit im Schuhgeschäft kommt, ihr Kind aus der Krippe, und wenn das Kind schläft, steht sie vor einem Kino und betrachtet die hinter Glas ausgehängten Bilder. Ihr Leben spielt sich im Kino ab. Sie sitzt zwei Stunden gefangen im Dunkel. Wenn sie den Saal verlässt, ist ihr schwindlig; der Körper, der gefühllos wurde, kann sich nur schwer bewegen.

Die junge Mutter ist brüsk zu den Leuten und mundfaul. Oft merkt sie es erst hinterher, macht es aber nie wieder gut. Sie möchte nur mit Stichworten in Kontakt treten. Sie möchte ganz einsam und still den Biegungen der Gedankenwege folgen und erst am Schluss ins kalte Wasser springen, wo die andern sind, die Haie und die harmlosen Fische. Sie denkt, sie müsse lernen, mit den Fischen nett umzugehen, zu plaudern, um ihre Freundschaft zu gewinnen.

Die junge Mutter sitzt im Zimmer am Tisch. Der Himmel hinter dem Fenster ist weißer als der weiße, durchscheinen­de Vorhang, der vom großen, grauen Haus gegenüber verdunkelt wird. Die junge Mutter hat Spinnenfinger, die sich immer bewegen. Es ist Sonntag. Das Kind steht in seinem weißen Gitterbett und weint. Die junge Mutter nimmt aus dem Schrank einen Papiersack, daraus ein Schächtelchen mit Schlaftabletten. In der Küche löst sie die Pillen in Sirup auf, dann steht sie vor dem Bett und flößt dem Kind, das hustet und spuckt und das Glas mit den Händchen fortstoßen will, das bittere Getränk ein; die Hälfte rinnt dem Kind, vermischt mit Speichel, übers Kinn und bekleckert seinen Schlafanzug. Die junge Mutter spült das Glas in der Küche, dann legt sie das Kind aufs Kissen, wo es einschläft. Die junge Mutter betrachtet das runde Gesichtchen, die leicht geöffneten Lippen. Das Kind atmet ruhig; es hält den Kopf schräg und schwitzt noch von der Anstrengung des Weinens; das blonde, dünne Haar klebt auf der Stirn. Das Herz der jungen Mutter klopft nicht mehr; es zittert. Sie stellt sich vor, sie telefoniere nach einem Taxi, rase mit dem Kind ins Spital, wo man ihm den Ma­gen auspumpe. Es schlage die großen, schattenblauen Augen auf und lächle sie an.

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