Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 9

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Tag im Wind

Das Fenster trägt durchsichtige Unterkleider und warme Übergewänder, der Wind aber ist nackt, der sich gegen das Fenster presst, die Scheiben ganz aufstößt und in die Vorhänge fährt, so dass sie davonflattern wollen. Auch die Wolken bauschen sich: Über die braune Haut des Flusses zittern Kälteschauer, und er zieht sich zusammen wie eine kranke Schlange. Der Tag ist in der Frühe stehengeblieben; es wird nicht hell. In meinem Schlafzimmer brennt Licht. Ich bin aufgestanden, habe ein wollenes Tuch über mich geworfen, sitze still auf meinem Stuhl und stelle mir vor, ich sei ein Riesenschaf. Später ziehe ich mich an und gehe in die Stadt. Ich sehe ein Kind; es überquert eine Straße und hält mit beiden Händen den Schleier seines Haares zurück, den der Wind über sein Gesicht werfen will; mit weichen Lippen lächelt es in den Aufruhr, in die wippende, sich drehende Welt. Und dann sehe ich Johannes; sein Haar wird rundum geschleudert, seine Augen stecken wie zwei nasse Muscheln im sandhellen Gesicht; er winkt mit gespreizten Fingern und tritt vor mir her durch eine Tür in ein Restaurant; wir setzen uns an einen Tisch. «Wie siehst du nur aus?», sagt Johannes, und ich frage erstaunt, ob ich denn aussähe. Wir schweigen, trinken Wein und betrachten uns; er trägt noch immer den Ring mit dem Löwen, der einen Rubin mit den Lippen hält; ich deute darauf: «Daran sieht man, dass es kein richtiger Löwe ist, nur ein Wappenleu; ein richtiger hielte Fleisch oder mindestens einen Knochen zwischen den Zähnen», erkläre ich. Johannes lacht. In seinen Augen glimmt ein Feuerchen; seine Hand, auf die ich die meine lege, ist heiß. Meine kalte Hand wärmt sich an der seinen; ich spüre den Schlag seines Herzens gegen meine Handfläche – oder ist es mein Herz, das aufgetaut ist und nun im Blut schwimmt, spritzt und stampft? In plötzlichem Schwindel falle ich in diesen Blut- und Weinwirbel; an den Haaren reißt Johannes mich heraus und hält mich hoch in die Luft: «Keine Angst!», ruft er.

Das unheimliche Geschehen in jener Nacht

Ich zählte acht Jahre. Die Bäume rührten sich seit einigen Ta­gen nicht mehr und die Stadt war ohne Farbe. Mutter schrieb an Großmutter, die ein Haus über dem See bewohnte; sie wähnte mich dort gut aufgehoben, während sie zu einer Operation ins Spital musste.

Ich wurde vom Großvater im Auto abgeholt. Er läutete und wartete unten; er war kein Mann, der sich mit überflüssigen Eindrücken oder Gedanken belastete. Er war der Stiefvater meines früh verstorbenen Vaters und liebte Mutter nicht. Ich hatte ihn erst einmal gesehen, erinnerte mich aber nicht an ihn. Mutter schleppte den Koffer die Treppe hinunter und ich folgte. Der Großvater nahm Mutter den Koffer ab und reich­te ihr die Hand, ohne sie anzublicken; er verstaute ihn im Gepäckraum des Wagens und sagte dann, ich solle mich neben ihn setzen. Mutter umarmte und küsste mich. Während der Großvater losfuhr, befahl er «wink», und ich drehte mich um und winkte; Mutters Gesicht war eine kleine Maske. Ich schaute auf die Straße; das Auto schien sie in sich hineinzusaugen wie ein Staubsauger.

Bald hatten wir die Stadt verlassen. Der schwarze Himmel blähte sich wie ein Vorhang im Wind, und nun prasselte der Regen aufs trockene Land. Auf den Wiesen bildeten sich schnell gelbbraune Seen, und zu beiden Seiten des Autos spritzte das Wasser meterhoch. Ich wünschte, der immer heftiger fallende Regen möge die Straßenarbeiter in ihren leuchtenden Wettermänteln, die nun langsam rollenden Autos und die Bäume, die sich wie zerzauste Riesenvögel aneinanderschmiegten, mit einem gurgelnden Meer zudecken, dann schlief ich ein.

Als ich die Augen öffnete, sah ich durchs Wagenfenster das Gesicht eines Clowns mit runden Augen und einem elastischen Mund. Der Großvater öffnete die Autotür und sagte, dies sei die Großmutter. Der Clown zog mich an sich; er überragte mich nur um wenige Zentimeter. Der Großvater trug den Koffer ins Haus und die Großmutter schob mich hinter einen weißen Tisch, der in einem bunten Garten stand: Brot, Konfitüre, Käse, Milch, Kaffee und Butter türmten sich vor mir, aber ich konnte nicht essen.

Als ich im Bett lag, brachte die Großmutter Bilderbücher und ich betrachtete die Titelbilder, dann zog ich die Beine an und glaubte, im Auto bergab zu rollen in ein mit Wasser gefülltes Tal; tote Tiere und Männer in grellgelben Regenmän­teln trieben auf dem Rücken vorbei und Autos, die die Räder in die Luft streckten. Sie wurden für einen Zirkus am Ende des Tales gebraucht; es war ein Wasserzirkus. Ich verstand nicht, was die Großmutter immer wieder rief, doch ich wusste, dass es der Name des Zirkus war.

Weiße Blumen betupften mit ihren Köpfen die Fensterscheibe; sie hoben sich ab von einer Mauer, vor welcher der Großvater stand und mit einer Gießkanne Wasser schüttete. Der Himmel bestand aus schleimigen Wolken, und Kälte strömte zum halb geöffneten Fenster herein. Ich lag still und betrachtete die sich senkende Türfalle; der Clown schob den Kopf herein und fragte: «Gut geschlafen?» Er half mir beim Ankleiden und Kämmen und führte mich an der Hand ins Esszimmer, wo an einem kleinen, wiederum überlade­nen Tisch der Großvater frühstückte. Während des Essens wurden die Fenster heller. Die Großmutter gab mir kurze Anweisungen: «Nicht die Ellbogen auf den Tisch – nicht mit offenem Mund – nicht mit vollem Mund …» Nachher musste ich Hände und Gesicht waschen und die Zähne putzen, dann durfte ich in den Garten: «Aber nicht in den Rasen und nicht zwischen den Blumen; nur auf den Weglein.»

So viel Platz hatte ich bisher noch nie, denn ich lebte mit Mutter in einer engen Stadtwohnung. Sie hatte keine Zeit, mich zu beaufsichtigen, da sie arbeitete. Nun setzte ich mich aufs saubere Weglein und blickte auf den See hinunter. Er war wie ein blassblaues Spielfeld mit spitzen, weißen Hütchen besetzt; Mutter und ich machten manchmal am Sonntag das Hütchenspiel. Auch der Himmel und die fernen Hügel wa­ren blassblau. Das Haus der Großeltern war neu und nicht nur innen, sondern auch außen weiß; ich wunderte mich, dass die Blumen, die die Großmutter in vielen Vasen im Haus verteilte, nicht erfroren.

Der Großvater arbeitete den ganzen Tag im Garten. Er schleppte am Morgen, wenn ich die Decke höher zog, schon Wasser; später pflückte er Bohnen oder Beeren, mähte den Rasen, zupfte Unkraut oder schnitt Blumen, und ich half ihm. Er bewegte sich langsam und ging stets mit geneigtem Kopf; die Sonne hatte seinen Rücken und die Kopfhaut rot-braun getönt. Er sprach kaum. Er durfte nicht mit den schmutzigen Turnschuhen über den hellen Spannteppich des Salons schlurfen und musste den Gesundheitszustand der Großmutter immer wieder erwähnen; es wurde erwartet, dass er von Zeit zu Zeit fragte: «Geht’s? Fühlst du dich nicht zu schlecht?» Dann jammerte die Großmutter, ließ sich bemitleiden und durfte sich mit einem Buch hinlegen.

Einmal gab die Großmutter am Abend eine «Party»: Wein- und Schnapsflaschen überragten die Blumen, und Leute saßen um den weißen Tisch unter dem Himmel wie unter einem finsteren Loch. Die Großmutter kreischte: «Einmal in meinem Leben möchte ich betrunken sein!» Der Großvater schien verlegen, während die andern Menschen sich anschei­nend wohl fühlten. Ich saß am Boden und betrachtete die Gesichter, die wie fotografische Vergrößerungen im Dunkeln hingen und rot und gelb wurden, und die Füße; jene der Großmutter baumelten über dem Boden, während die andern – die des Großvaters in braunen Manchesterschuhen – unruhig hin- und her tanzten und manchmal gegeneinanderstießen. Ich wunderte mich über die Großmutter, da sie sich jeden Nachmittag mit «unerträglichen Kopfschmerzen» zu Bett legte und Lärm und Bewegungen anderer Leute verabscheute, weil sie immer müde war. Ich durfte niemals schreien oder rennen, nun aber schrie die Großmutter am lautesten und eilte hin und her, um neue Flaschen und Gebäck zu holen. Ihre feuerroten Lippen bildeten einen ovalen Rahmen um die langen Zähne, und sie schüttelte ihr Haar, das Ähnlichkeit mit staubigen Federn hatte. Ich versuchte, den Gesprächen der Leute zu lauschen, doch die Worte schoben sich durcheinander. Der hünenhafte Großvater wurde immer kleiner, während die winzige Großmutter auf den Stuhl stieg und mit sich überschlagender Stimme Witze erzählte; die Körper der andern bogen sich und zuckten krampfhaft, und Gelächter spritzte aus ihren verzerrten Mündern; sie schienen von einer beängstigenden Krankheit befallen. Der Großvater hatte den Einfall, für ihre Gesundung Zucchetti zu holen, doch statt dass sich die Leute beruhigten, brach nun der Tumult erst recht los; einer der Herren, ein dicker mit einer Knollennase, den die andern «Herr Doktor» nannten, verteilte die grünen, zigarrenähnlich geformten Gemüse an die Damen; ich sah erstaunt, dass die ganze Gesellschaft sich vor Lachen nicht mehr halten konnte: Die Großmutter stand nun auf dem Tisch und gestikulierte, während Flaschen und Gläser umfielen, und alle sangen.

Seit jenem Abend betrachtete ich die Erwachsenen – vor allem die Großmutter, die nun doch schon eine Zuflucht für mich bedeutet hatte – mit Grauen. Ich verstand nicht, dass die Großmutter am nächsten Tag so tat, als wäre es in Ordnung, dass sie sich schnell wieder zurückverwandelt hatte, so dass nichts mehr an das unheimliche Geschehen in jener Nacht erinnerte. Ich betrachtete sie manchmal verstohlen, ob nicht eine Naht sichtbar sei; ich stellte mir vor, irgendwo könne sich die Großmutter öffnen und hervor träte das Ungeheuer jener Nacht, um dann wieder in die Großmutter hineinzukriechen, worauf sich die Naht schließe. Ich dachte, dass von den Erwachsenen, außer von Mutter, das Böseste zu erwarten war. Sobald ich wieder zu Hause wäre, würde ich Mutter von der «Party» berichten. Der Großvater hatte einmal gesagt, Mutter sei hübsch, aber leichtfertig. Ich wusste nur, dass Mutter still und traurig war.

An einem Nachmittag erlosch der See und alles verschwamm, als blicke man durch beschlagene Brillengläser. In den Zimmern des Hauses schienen sich große, dunkle Fächer zu öffnen, die mit rätselhaften Bildern bemalt waren.

Plötzlich trat der Großvater ins Zimmer; in der Hand hielt er einen Brief. Er blickte uns nicht an und murmelte; als die Großmutter fragte, was er denn da sage, wiederholte er den Satz und ich verstand, dass Mutter gestorben war. Ich sah, dass die Augen der Großmutter sonderbar flockig wurden; ihr Mund war wie aus dickem, dunklem Leder im weißen Ge­sicht. Ich begann zu zittern und mein Herz schmerzte. Wie im Traum ging ich ans Fenster. Es regnete; die Blumen sanken zu Boden, die Kamine der Häuser lösten sich auf und rutschten über die Dächer. Ich würde nie mehr nach Hause zurückkehren, Mutter von der «Party» erzählen und spüren, dass sie um meine Angst wusste.

Das Telefon

Ein Vogel sitzt auf dem Kamin des gegenüberliegenden Hauses; der Blick in die Glasveranda ist durch einen roten Vorhang verwehrt und hinter dem Dach ragt von einer Baustelle ein Kran in den Himmel. Ich betrachte das Haus jeden Morgen und freue mich. Sonst habe ich nicht viel Grund, mich zu freuen; wenn ich mich in die Zeitung vertiefen will, lese ich statt «Tito möchte entlastet werden» – «Tito möchte entlaust werden» und statt «Bedachungen» – «Beobachtungen» – ich fürchte, nie mehr wird es mir gelingen, mich zu vertiefen, weder in die Zeitung noch in sonst etwas; ich lebe immer mehr ganz außen, und nichts mehr ist verständlich. Auch weiß ich, dass ich ein «Muffel» bin; in einer deutschen Zeitschrift, die Ingrid abonniert hat (ihre ganze Weisheit schöpft sie daraus und aus Frauenzeitschriften; jede Woche verkün­dete sie mir mein Horoskop, und einmal wusste sie zu berichten, das dritte Ehejahr sei ein Krisenjahr; wie recht solche Zeitschriften doch immer haben!), wurde ich mit «Sexmuffel» und «Krawattenmuffel» beschimpft, und außerdem bin ich ein Sport- und Nachmittagsmuffel; ich liebe nur den Morgen: die hellen, leichten Morgen, die beinah davonfliegen und viel versprechen.

Ich bin seit drei Wochen von Ingrid geschieden; «Ingrid und lsidor» hießen wir, als wären wir ein Mensch; heute verstehe ich nicht mehr, dass ich neben dieser seelenlosen, feigen Hündin mit dem Schlangenkopf leben konnte. Als ich sie zum ersten Mal mit dem Säugling im Arm sah, als dessen Vater ich galt, erschrak ich zutiefst; war sie dem Kind ausgeliefert oder das Kind ihr? Der Junge schielte und klemmte seine Zunge zwischen die feuchten Lippen; ich wandte mich ab, verließ bald das Spitalzimmer und sprang auf die erstbeste Straßenbahn; als sie anfuhr, trippelte ich schnell zu einem leeren Sitz und ließ mich fallen. (Obwohl ich noch jung bin, bin ich ziemlich dick und erwecke den Eindruck zu trippeln, auch wenn ich mich bemühe, elastisch zu schreiten.) Zuerst war es, als ob meine Gedanken um mich herumzufließen begännen, doch bald umkreiste ich die Gedanken, zog immer größere Kreise, geriet immer weiter weg und konnte nicht mehr zurückfinden.

Kaum war Ingrid mit dem Jungen zu Hause (der nicht mein Kind sein kann; während sie im Spital war, machte man mir Andeutungen, telefonierte mir anonym und im Briefkasten steckte ein Zettel mit einem gehörnten Ungeheuer), zog ich in ein Zimmer, das ich mir reserviert hatte; seither wohne ich hier. Die Möblierung ist karg, ja traurig; das liebe ich. Vor Gericht sagte man mir, ich hätte Ingrid böswillig verlassen und sei nun schuldig geschieden. Obwohl ich mir einrede, das beeindrucke mich gar nicht, stört es mich ein wenig, dass mich Herren, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, «schuldig» nennen. Sie haben mir sogar eine Strafe aufge­brummt, wie dies einst mein Vater oder die Lehrer taten; ich bin erstaunt; ich dachte, ich sei nun erwachsen und niemand mehr könne mich strafen oder mir etwas vorschreiben. Ich darf ein Jahr lang nicht heiraten; als ob ich den Wunsch geäußert hätte, heiraten zu wollen! Und ich muss Ingrid für den Jungen Geld schicken; ich verstehe nicht weshalb, denn ich liebe dieses Kind nicht.

Ich bin Cellist im Theaterorchester und kann nun üben, ohne dass Ingrid mich wegen des Jungen anschreit; ich kann ausgehen und nach Hause kommen, wann es mir passt, und rauchen, so oft und so viel ich will.

Seit gestern habe ich ein Telefon; ich konnte es kaum erwarten, doch nun weiß ich nicht, wen ich anrufen soll. Die Freunde von «Ingrid und Isidor» stehen auf Ingrids Seite; meine Berufskollegen scheinen sich nicht sonderlich viel aus mir zu machen und ich mir nicht aus ihnen; ins Wirtshaus gehe ich recht selten und Nachbarn kenne ich keine mit Na­men. Da sitze ich also neben dem Telefon und starre hinaus; die Häuser sind bleich heute und die Fenster dunkel; der Nachmittag schlägt alles tot, was ich liebe. Aber wenn der Morgen kommt wie ein stolzer, silberner Prinz, schlagen die Häuser ihre Augen auf, und ich halte den Atem an und lächle, dann grüße ich demütig, denn nicht ich bin es, der sie ins Leben zurückrief. Manchmal erscheint jemand an einem der Fenster und glotzt wie ein Fisch, dann gehe ich schnell zum Tisch, decke ihn geschäftig, wärme Milch oder Suppe und warte vor Freude zitternd, ohne zu wissen, auf was oder wen.

Jetzt wird es Abend; bald wird die Nacht die Häuser begra­ben, auch meines; ich werde mich aufs Bett legen und nicht einschlafen können unter dem schweren Hügel. Ich muss nicht arbeiten heute und mag nichts tun. Ob ich Ingrid anrufen soll? Ich werde meinen Namen nicht nennen und auf ihren Atem lauschen; vielleicht erkennt sie den meinen? Vielleicht sieht sie wie in einem Traum die Stille um mich und die Angst; vielleicht flüstert sie meinen Namen oder schreit ihn in plötzlicher Wut?

Ich hebe den Hörer ab und stelle die Nummer ein; mein Knie schlägt gegen den Tisch; ich bebe am ganzen Körper. Ingrid sagt zweimal «Hallo» in mein Ohr. Ob sie nicht hört, wie mein Herz davonrennt? Im Hintergrund fragt eine Män­nerstimme ungeduldig, wer ich sei, da hänge ich wieder auf und lasse meine Hand auf den Tisch fallen und dann den Kopf; die Brille klemmt mein Nasenbein. So sitze ich lange in der Finsternis, ganz tief in mir drinnen; niemand könnte mich sehen, auch Ingrid nicht, wenn sie hereinträte. Ich habe mich zugeschlossen und bleibe bei mir; endlich bin ich in der Tiefe angelangt. Ich werde nicht mehr auf die hellen, leichten Morgen hoffen und ihnen nicht mehr glauben.

Enttäuschung

Ich weiß nicht, ob es leidenschaftliche oder zu wenig leidenschaftliche Naturen sind, die nie eine Sonnenbrille, beim Nähen keinen Fingerhut und zum Geschirrwaschen keine Gummihandschuhe tragen; was andere Menschen nötig finden, um Augen, Fingerspitzen oder Hände zu schonen, war Agnes ärgerlich, muss sie als eine lästige Wand zwischen der Wirklichkeit, zwischen dem Leben und ihrem Ich, dem Erfühlen dieses Lebens empfunden haben. Sie war meine Patin; ich war nach ihr getauft worden und verbrachte, nachdem man mich von meiner liederlichen Mutter weggenommen hatte, deren uneheliches Kind ich war, ein halbes Jahr bei ihr; nachdem sie aber schwer erkrankt war, wurde ich in ein erstes, zweites und drittes Heim gesteckt. In jedem fühlte ich mich wie eines von fünfzig oder hundert Schaumkrönchen, die von den Leiterinnen umher- oder weggeblasen werden konnten. Dass es Wellen gab und Tiefe, ahnte ich, und dass es Schiffe gab, die stampfend und Aufruhr bringend über einen hinwegfahren konnten, wusste ich, seit mein Onkel Raymond nach Tante Agnes’ Tod mich aus dem Heim holte; ich war nun dreizehn Jahre alt. Riesengroß stand er vor mir, überragte er mich bei Tisch, wo er laut vorbetete, warf er Schatten, als ob er Läden hinter sich geschlossen hätte, um das Sonnenlicht für immer von mir fernzuhalten. Hinter den Läden klopften die vielen Bäume wie Stiefel ums Haus. Ich hatte keine Freundinnen, auch keine Puppe; ganz allein war ich von Heim zu Heim gewandert, unansehnlich wie ein Gepäckstück in meinen fremden, abgetragenen Kleidern, und dass Onkel Raymond – der Mann meiner verstorbenen Tante Agnes, dieser wortkargen, kränklichen Frau, die aber mit den Augen gewärmt und deren Stimme wie ein Feuerchen geknistert hatte – mich zu sich sperrte, wurde mir von der Leiterin des letzten Heims als Glücksfall geschildert. Ich galt als bockiges, unzugängliches, verträumtes und faules Kind. Es war das erste Mal, dass sie zu mir allein redete, dass ich mich nicht als ein Teilchen einer Kindergruppe fühlte, nicht als eine in der Fabrik verfertigte Puppe, die ebenso langweilig wie alle andern aussah, die wartete und wie im Traum Befehle hörte, die allen galten: Hände waschen, Zähne putzen, Schulaufgaben lösen, beten, zu Bett gehen. Nein, nun war ich ein Einzelstück, sozusagen eine selbstverfertigte Puppe aus einer Boutique; ich erinnere mich, dass ich mir mit einem Brennen im Herzen wünschte, die Leiterin möge beachten, dass das eine meiner Augen heller war als das andere und dass meine Mundwinkel, obwohl ich ein langgezogenes, trauriges Gesicht hatte, sich leicht nach oben bogen. Ich stellte mir auch vor, sie würde mir etwas erzählen oder erklären, was ich schon lange gerne gewusst hätte: Weshalb es Wellen gab und wie es in der grauen Tiefe aussah, von der man glauben konnte, sie sei gestorben, so still schien sie, und ob ich mich als Teil dieser Tiefe betrachten durfte oder ob ich nur aus Schaum mit ein bisschen spitzem Licht bestand; ja, das Licht war spitz und tat weh, aber die Dunkelheit, in der Onkel Raymond mich verstecken wollte, erhoffte ich mir rund und weich.

Mein Onkel hatte wieder geheiratet; die Frau glich Tante Agnes überhaupt nicht; ich sah sofort, dass sie an hellblauen Tagen eine Sonnenbrille aufsetzte, ihre Hände während der Hausarbeit mit Gummihandschuhen schonte und zum Nähen einen Fingerhut trug – wie es sich gehört!, betonte sie. Ich weiß nicht, weshalb mich das erschreckte; ich wurde immer mutloser, wagte nichts zu fragen, gab das Warten auf: Die Wellen und die Tiefe waren weiter entfernt als je, auch Schaum und Licht gab es nicht mehr, und das mächtige Schiff, als das mir Onkel Raymond erschienen war, wurde kleiner und kleiner, bis der Horizont es einsog. Es wohnte dort hinten in der Dunkelheit in einem winzigen Loch, und die neue Tante – Monika hieß sie – lebte zwar im Vordergrund, doch irgendwo in der Luft: Vielleicht auf einer Wolke hatte sie ihre Polstermöbel aufgestellt, ihre polierten Tischchen und Kommödchen, ihre staubfreien, echten Teppiche, den Nagellack und den Lippenstift und die Teetassen und die blonde und die schwarze Perücke.

Wer war ich? Meinen Vater kannte ich nicht, an meine Mut­ter erinnerte ich mich kaum (einmal hatte sie mich mit einer Kelle geschlagen, und als die Kelle ihr aus der Hand und hinter den Herd gefallen war, nahm sie eine zweite, um mich weiterzuprügeln, bis ich blutete …) und Tante Agnes wurde in meinen Wachträumen eine Art vornehmes Skelett, das mit Vorliebe französische Brocken ins Gespräch eingestreut hatte; ich wusste nur noch: «Oh lala» und flüsterte das manchmal heimlich, um mich mit irgendjemandem verbunden zu fühlen. Sie hatte einen stimmlosen Hund besessen, den Onkel Raymond töten ließ, und war immer sehr aufrecht geschrit­ten und steif in hochlehnigen Stühlen gesessen. Ich weiß nicht, was sie in ihrer Kindheit alles hatte schlucken müssen, dass sie so steif geworden war. Ich stellte mir vor, dass sie niemanden geliebt hatte; auch mich nicht – seltsamerweise tat mir das, obwohl es mich quälte, wohl.

Ich besuchte die Schule im Dorf und saß neben einem Mädchen, das wie meine Banknachbarin im letzten Heim Grete hieß, nur dass es rotes Haar hatte, während jenes braun gewesen war. Während der Schulstunden träumte ich davon, wie ich einen Vorstoß unternehmen würde; was ich mir unter «Vorstoß» vorstellte, hätte ich nicht mit Worten erklären können. Ich wollte aus meiner Starre aufgeschreckt werden, mich fortbewegen, zu jenem Loch im Horizont schwimmen oder fliegen, wohin das große Schiff verschwunden war, wo es so tat, als ob es ein harmloser Wasserkäfer wäre; lächerlich schwach oder gar nicht vorhanden. Oder ich wollte in die Tiefe tauchen, immer tiefer und tiefer; vielleicht erwartete mich dort ein anderes Schiff, das zwischen silbernen Fischleibern äugte und dröhnend lachte, wenn es mich sah; natürlich hätte ich mich verwandelt, wäre ein wunderschönes Mädchen, ein Fräulein aus dem Film, eine Sängerin mit einer Stimme wie ein Wind so klar und fürchterlich geworden.

Onkel Raymond sahen wir nur übers Wochenende und auch dann nicht immer. Er war in einem kleinen Museum als Konservator tätig und ich nahm an, er müsse sehr gescheit sein, ein Genie vielleicht; sogar seine Zähne dünkten mich melancholisch, weil sie breit und gelb und schwer waren. Ich liebte es, wenn er Lederhandschuhe trug; ich hätte gerne hineingebissen bis ins Fleisch und dann seinen Schrei gehört; einen wilden, bösen Vogelruf. Ich wollte und konnte nicht annehmen, dass alles wie tot war: Ich sehnte mich nach Aufruhr, Blitz, Getöse, Leben und Mord. Ich wollte die Ferne in die Nähe zwingen, sie befühlen, drücken, an mich reißen, mich in ihr wälzen – ob Tante Agnes das getan hatte? Und Tante Monika? Ich wusste, dass Tante Monika sich oft in der Stadt mit einem faden, dünnhalsigen Friseur traf, dessen Namen ich vergessen habe; sie telefonierte ihm fast täglich und fuhr jeden Montagnachmittag mit ihrem kleinen, dummen Rosawagen in die Stadt, wo ich sie einmal mit ihm Arm in Arm entdeckte. Sie betrachteten einen Hutladen. Ich hasste sie – aber nicht nur; widerwillig stellte ich fest, wie es mich freute, dass sie Onkel Raymond betrog.

An einem Samstagnachmittag, der unter einem schlaffen Himmel umsonst auf Regen wartete, traf es sich, dass ich mit Onkel Raymond allein zu Hause saß. Seine Frau war an einer Klassenzusammenkunft, wie sie mit einer Einladungskarte beweisen konnte – was mich aber nicht hinderte, ihr zu misstrauen. (Am Tage vorher war ich unfreiwilliger Zeuge einer peinlichen Szene geworden; ich hörte, wie Tante Monika außer sich schrie: «Du bist kein Mann, ich hab’s endlich satt; ich werde schon anderswo auf meine Rechnung kommen, du blöder Kirchgänger, du!», und heulend und türenschlagend im Schlafzimmer verschwand.) Onkel Raymond hielt sich in seinem Studierzimmer auf und ich sollte Schularbeiten machen, trödelte jedoch herum, trank Zitronenwasser, aß Biskuits und blätterte in alten Fotoalben, in welchen ich nur fremde Menschen sah, die mir wie Sektenmitglieder vorka­men, die Farbe als Sünde betrachten; alle trugen sie graue und schwarze Schatten als Kleider und Kopfbedeckungen, als Augen, Nasen und Wangen, und alle waren sie umsorgt von ernsten Hauswänden, lichtlosen Himmeln und trübse­li­gen Baumgruppen. Niederschmetternd war aber für mich die Feststellung, dass Onkel Raymond – dieses in meiner Vorstellung furchterregende Kriegsschiff, das sich durch feindliche Gewässer geschoben und Schreckliches im Schild geführt hatte, sich nun aber vor mir versteckt hielt in der Erwartung, dass ich aufbrechen würde, um es zu suchen – als mageres, bleichsüchtiges Studentlein erschrocken neben einer glotzenden Riesenkuh stand; richtig, ich entsann mich, dass Tante Agnes einmal angetönt hatte, dass er aus kleinbäuerlichen Verhältnissen stammte und einen Bruder hatte, der irgendwo Pächter war. Ich hatte mich also getäuscht: Auch er hatte nie gelebt; es war sinnlos, ihn am Horizont zu suchen, war er doch gewiss immer noch das kümmerliche Studentlein, das, falls ich in seinen Lederhandschuh beißen würde, nur ein hohes, furchtsames «Au» hervorstieße, obwohl es mit den Jahren massig geworden war.

Ich geriet in Wut und fühlte mich betrogen, wurde es mir doch jetzt noch deutlicher als vorher bewusst, dass es die Wellen gab, auf welchen ich schaukelte, und die Winde, die mich hierhin und dorthin bliesen, und die wie erloschene, aber gewiss heiß leuchtende Tiefe, und das Versteck am Horizont, klein wie ein Nadelöhr …

Schnurstracks lief ich in Onkel Raymonds Studierzimmer, ohne anzuklopfen, ohne vorher einen Blick in den Spiegel geworfen zu haben. (Auch so war mir bewusst, dass ich meine Bluse nur nachlässig zugeknöpft hatte; ich hatte mir ange­wöhnt, in Onkel Raymonds Haus in einer Weise herumzuge­hen, von der ich annahm, sie sei «sexy»; Vorbild war mir Tante Monika. Oft tat ich so, als wäre ich erschrocken, wenn ich frühmorgens im kurzen Nachthemd über den Korridor lief und er mir begegnete; sein verwirrter Blick bereitete mir Vergnügen, denn obwohl ich davon überzeugt war, hässlich zu sein, wusste ich nun, dass mir endlich kleine Flügel wuchsen; sie sollten mich dorthin tragen, wo die gefährlichen Schiffe lauerten, auf ihren Kapitän oder Feind warteten …) Mitten in sein dunkles, dickes Gesicht erzählte ich ihm nun, dass Tante Monika ihn seit Monaten mit einem Friseur betrüge. Er starrte mich an; seine Augen waren wie erfrorene Blumen, seine Lippen grau. Er wies zur Tür, indem er den Ellbogen nur ganz wenig hob und sagte: «Agnes, du hast mich enttäuscht – wenn du wüsstest, wie du mich enttäuscht hast.»

Ich durfte nicht mehr in jenem Haus bleiben; einige Tage später packte ich meinen Koffer, um auch mein vierzehntes Jahr in einem Heim zu verbringen. Ich galt nun nicht mehr als nur verstockt, sondern auch als lügenhaft und verdorben. Ob Tante Monika ihren Friseur weiterhin besucht, weiß ich nicht. Von Onkel Raymond träume ich seit langer Zeit immer dasselbe: Er öffnet eine Tür und heißt mich eintreten; er ist zwergenhaft, stützt sich auf zwei Krücken, trägt Pantoffeln an den Füßen und blickt mich süß an, doch das Zimmer, in dem er steht, ist mit dornigen Gewächsen gefüllt, die kreuz und quer durch den Raum ragen; an einigen sehe ich Blut. Ich habe einen schweren Sack in der Hand und friere; trotzdem kann ich mich nicht entschließen einzutreten, sondern stehe lange Zeit, vor Erwartung und Grauen wie angenagelt, auf der Schwelle – so lange, bis Onkel Raymonds Gesicht sich vor Zorn rötet und entstellt und er mir mit hasserfüllter Gebärde und wie von Ekel gepackt die Türe weist. Dann drehe ich mich um und steige die Stufen hinunter. Wenn ich dann glaube, erwacht zu sein, sind meine Wangen von Tränen nass und ich bin der Meinung, auf den Tod krank zu sein, und entsinne mich, dass ich meine Bettnachbarin gebeten habe, den Arzt zu holen – der Arzt aber ist Onkel Raymond. Nun steht das Mädchen vor mir, keuchend noch vom Laufen, und erklärt: «Der Arzt will nicht kommen; er sagt, er sei von dir enttäuscht.» Mit einem Stöhnen der Verzweiflung erwache ich, höre das Atmen und leise Schnarchen wie von tausend Tierchen, die in kleinen Schachteln verpackt sind, und manchmal den Wind, der das Haus mit vielen Regenvorhängen umwickelt.

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