Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 6

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Das Brillenmuseum

Verfolgung

Nonnato schlief in kurzen Etappen, sprang wenige Zentimeter hoch über seinem Körper und neidete, wieder wach geworden, andern Schläfern die weiten, zügellosen Reisen. Beim leisesten Geräusch fiel er. Eines Nachts weckte ihn der Mieter vom obern Stock, der versuchte, seinen defekten Ölofen anzuzünden. Der Mann geriet dabei in maßlose Wut und zuletzt schien es, er demoliere seine ganze Inneneinrichtung. Nonnato knipste die schirmlose Lampe auf seinem Nachttisch an und glaubte, er höre die merkwürdige Melodie, die auf dem Gleis der Nacht dahinfährt. Er dachte an die junge Frau, die in tiefem Schlaf lag, als ihr Haus brannte. Sie hatte ein Herzkirschengesicht und trug keine Brille, obwohl sie beinah blind war, da sie den verschwommenen Zustand, in den ihre Augenkrankheit sie versetzte, genoss – dies wenigstens erzählte sie Nonnato kurz vor ihrem Feuertod. Wenn er jeweils neben ihr lag und die Hand auf ihren Rücken legte, spürte er, dass sie wie eine Katze schnurrte.

Nonnato stülpte sich die Perücke über den Schädel, weil er fror, und setzte die dunkle Brille auf, um das Fehlen der Brauen und Wimpern zu verbergen. Dann schlüpfte er in einen seiner zu wuchtigen Mäntel und zog Gummistiefel an. Er trat aus dem Haus und schritt über den Schnee in der Erwartung, einzusinken, sich in den Bauch der weiß blühenden Stadt zu bohren; ihr Duft – der Duft des Schnees – versetzte ihn in Aufregung. Er hörte von weitem einen hysterischen Singsang, ein Grölen vielmehr, und fand die Treppe zur Bahnhofsunterführung. Rasch stieg er in die Tiefe und ging durch den langen, unterirdischen Gang – dort im Dunkeln, mitten im Weg, lag ein Hut, der mit einem funkelnden Licht gekennzeichnet war. Der Besitzer des Hutes lehnte an der Wand; Nonnato wagte nicht, ihn genau anzublicken, sondern bewegte sich auf den Hut zu, verlangsamte den Schritt, bückte sich tief, kratzte mit der linken Hand an der Innenseite seines linken Stiefels und legte mit der rechten einen Geldschein zu den Münzen. Dann richtete er sich auf und hastete weiter. Er wagte nicht, umzukehren, da er nicht noch einmal am Sänger vorbeigehen wollte, der nun seine Finger über die Saiten einer Gitarre schleuderte und auf diese Art rhythmisch schnarrende Geräusche erzeugte; es schien, er wolle sich die gefrorenen Fingerbeeren aufkratzen.

Als Nonnato am Ende der Fußgängerpassage die Treppe hochstieg, mischte er sich unter einige Schneeflocken, die sich in einem trüben Tanz drehten, wobei sie von einer Straßenlampe beleuchtet wurden. Ein kahler Strauch beugte sich über eine Mauer. Nonnato hatte den Eindruck, die Straße mit den stillen Häusern wachse aus seinem Gesicht; plötzlich warf sich jemand vorbei – wahrscheinlich ein junges Mädchen; er sah das rote, lange Haar, das über seinen Rücken hing und sachte und teilnahmslos auf das beim Gehen schaukelnde Gesäß klopfte. Sofort dachte er wieder an die tote Frau und gleichzeitig fiel ihm das Wort «Euphoranol» ein; oder war es «Euphoridon», das sie geschluckt hatte, um sich wegzuschneiden, sich zu entfernen aus der schmerzhaften Nähe der Geräusche und Berührungen? (Der Name der Pille verdrehte sich stets in seinem Kopf, drängte sich fratzenhaft und immer anders hervor, um ihn zu quälen. Nonnato zwang sich dann, an anderes zu denken, was ihm manchmal für kurze Zeit gelang.) Nur das Feuer hatte die Frau in ihren Schlaf verfolgt, hatte sie gefunden und verzehrt. Nonnato, der damals nach seiner Flucht wieder ins brennende Haus gestürzt war, hatte sie nicht retten können. Nun wusste er plötzlich, dass er das rothaarige Mädchen suchte. Er überließ sich weiterhin seinen Stiefeln, die den Stempel, das Zeichen für seine Person, in regelmäßigen Abständen auf den Schnee drückten, um zu beweisen, dass er die Jagd nicht aufgab.

Die Seifenblase

Das Schultor öffnete sich, die Klassen sprangen wie bunte Ketten heraus, kollerten über die beiden breiten Treppen und rollten über den geteerten Hof, als wären die Schnüre geris­sen, an denen die Perlen aufgereiht gewesen waren. Niemand dirigierte das wilde Hüpfen, das nun begann; die Schreie und Bewegungen der rennenden Kinder bildeten ein grelles, sich stets neu formendes Zackenmuster.

Die nicht mehr ganz junge Aushilfslehrerin, die sich beim Rektor vorstellen sollte, wartete schon seit einigen Minuten in der Nähe des Schultores und dachte: «Langes Warten tötet den Helden.» Winkelried hätte die Speere nicht so freudvoll in seine Brust eindringen lassen, wenn er ihre langsame Annäherung, an einer Mauer stehend, hätte erwarten müssen. Die Aushilfslehrerin stellte sich im Pausenhof Signale vor, die verhindern sollten, dass die Kinder aus vorgezeichneten Bahnen fielen. Fette Kastanienbäume, die sich im Laufe des Tages aus der sonnigen Hälfte des Platzes in den Schatten wälzten, ruhten in den Nächten an den Grenzen; dann glänzten ihre Helme nicht.

Als die Glocke schrillte, begab sich die Aushilfslehrerin, noch bevor die flinksten Kinder die Treppen erreichten, in das Gebäude. Sie klopfte leise an die Tür des Rektorats und trat ein. An den Wänden waren Mitteilungen befestigt. Die breiten oder schmalen Rücken der Ordner waren mit Worten wie WEISUNGEN, AUFNAHMEVERFAHREN und BEUR­TEILUNGEN beschriftet. Auf dem Arbeitstisch befanden sich zwei Stempel, ein Stempelkissen, ein Locher und ein Lineal.

Der Rektor stand plötzlich im Zimmer; schwarze Augenschlitze ließen sein Gesicht maskenhaft erscheinen. Die Aushilfslehrerin betrachtete während des Gesprächs, das der Rektor nach der Begrüßung sofort einleitete, die Innenseite ihrer linken Hand. Dort riss sie, genau in der Mitte, ein Stückchen Haut weg. Sie hoffte, der Rektor würde den roten, brennenden, glänzenden Fleck, den sie «Wundmal» nannte, bemer­ken und sich darüber wie über etwas Verbotenes, Unerhörtes äußern, das ihre Tätigkeit an dieser Schule verunmöglichte. Ein unvorhergesehenes Ereignis störte die Sympathie, die die Aushilfslehrerin gegen ihren Willen für den unverständlich und schnell sprechenden Rektor empfand; eine sehr große Seifenblase schwebte zum offenen Fenster herein und glitt ruhig, wunderbar wie eine runde, sanfte Blüte, auf den Rektor zu; dieser warf seine rechte Hand, die der Klaue eines Raubvogels glich, nach ihr, als wolle er sie fangen; sie zerplatzte lautlos. Die Aushilfslehrerin hielt nach dem Junitag Ausschau, der die Fensteröffnung verklebte.

In der Falle

Fern liegt wie ein milchblauer Leib die Landschaft hinter einem rostroten Gitter, wie es kahle Bäume bilden. Der Journalist, der keine Artikel mehr schreibt, weil er sich vor Journa­listen ekelt, die Artikel schreiben, betrachtet die Landschaft vom Berg aus, auf dem er ein Haus gebaut hat. Eigentlich gehört das Haus seiner Frau. In den Zimmern sieht man Beton, Backsteinwände, Holzdecken und viele große Fenster. Wenn ein Regen übers Land huscht oder wenn der Nebel her­unterhängt, wirken die Innenräume nass. Bei Gefahr kann der Journalist auf einen Knopf drücken, dann werden die Fassaden von Scheinwerfern angestrahlt, alle Außentüren und Fenster schließen sich und eine Sirene heult.

Die Kühe und Schafe auf den Hängen seines Berges erscheinen dem Journalisten riesengroß. Die Wiesen glänzen, und am Bach wachsen Sumpfdotterblumen. Der Frühling kommt hier spät, aber schon bedeckt Grün die Rücken der tierhaft neben- und übereinanderliegenden Hügel, und Vögel rufen sich aus ihren Verstecken zu.

Der Journalist wundert sich schon seit einiger Zeit, dass es Wirte gibt, die wie Wirte, und Briefträger, die tatsächlich wie Briefträger aussehen; er war auf Maskeraden gefasst und musste erleben, dass Menschen ihr Inneres wirklich nach außen stülpen und dass ihr Inneres sich im Außen bewährt. Der Journalist kennt auch mindestens drei Krankenschwes­tern, die das Aussehen von Krankenschwestern haben. Auch viele Lehrer erfüllen die Erwartungen, die man in sie setzt. Der Journalist selber hat diesbezüglich Schwierigkeiten, denn wenn er sein Inneres nach außen stülpte, hüpften wir, seine Mitmenschen, vor Entsetzen in großen Sprüngen da­von. Es ist nun überhaupt eine mühselige Zeit für den Journalisten, weil er sich nicht anmerken lassen will, dass manche der ihm im Laufe der Jahre liebgewordenen «Sachen», wie er sie nennt, ihre Bedeutung geändert haben; er kann nicht mehr über sie bestimmen, weil er sie nicht erkennt. (Unter «Sachen» versteht der Journalist zum Beispiel Geigen und Heißluftballone, Vorwürfe und Spott, Bücher und Scherenschnitte.) Die meisten Sachen bleiben für ihn zwar wie von jeher beinah bedeutungslos, aber jene, die ihm früher vertraut waren, zu denen er einen engen, freundschaftlichen Kontakt herstellen konnte, verweigern und verschließen sich, indem sie ihren Ausdruck ändern. Auch die Möglichkeiten, die sie immerhin offenließen, sind jetzt in Frage gestellt. Vor allem befremdet es den Journalisten, dass zwischen ihnen Übereinstimmung herrscht. Eine Frauenstimme singt zum Beispiel im Radio einen Schlager mit dem Refrain «Der Mann mit Pfiff», während der Journalist ein Zitat Hitlers liest, der in seiner Sehnsucht nach einem neuen Reich geschrieben hat: «In den Anfängen unserer Geschichte ist es Brauch gewesen, dass germanische Frauen jeden zurückweichenden Krieger erschlugen. Diesen feigen Deserteuren gebührt der Hass, die Verachtung und die Wut der deutschen Frau. Das soll jede Frau wissen, danach soll sie sich auch richten.» Noch vor einem Jahr wäre es unmöglich gewesen, dass Hitler sich mit der Schlagersängerin in Verbindung gesetzt hätte. Jetzt fühlt sich der Journalist übergangen und machtlos, weil Hitler sogar mit dem Texter des Schlagers und mit dem Regie führenden Mann beim Radio ein Komplott gebildet hat. Hitler nähert sich dem Journalisten auf eine neue Art und Weise, gegen die er nicht ankämpfen kann. Auch der Psychiater, den der Journalist wegen seiner Angst aufsuchte, ist an einem Komplott beteiligt, über das der Journalist nichts Genaues weiß. Der Psychiater fragte nämlich: «Weshalb sprechen Sie nicht mit Ihrer Frau darüber?» und zwang so den Journalisten, mit dem Bekenntnis eines ihm unbekannten Schriftstellers zu antworten, das er im Wartezimmer zehn Minuten vorher in einer illustrierten Zeitschrift gelesen hatte: «Viel Arroganz und eine Art, die Dinge halb ausge­spro­chen zu lassen, machen mich unsympathisch.»

Der Journalist fühlt sich gedrängt, seine Ohnmacht zuzugeben: An einem trüben Tag lässt er das Haus – die Falle, in der er sitzt – anstrahlen, und die Sirene jault fürchterlich. Die Frau des Journalisten aber, die sehr gut kocht, ohne je Köchin gewesen zu sein, begibt sich auf eine lange Wanderung auf lehmigem Boden im Nebel. Der Journalist hofft ja nicht mehr, dass er sich an sie halten kann; er befürchtet, dass sie ihn eines Tages, dem Ratschlag Hitlers Folge leistend, erschlagen wird.

Misslungene Kopie

Einmal sagte Herr Weinwild zu Otto, dem Lehrling: «Ich bin stolz auf dich», dann errötete er, was Otto bemerkte. Damals trank Otto noch nicht oder noch nicht so viel, und damals hätte sich niemand Ottos Verschwinden vorstellen können.

Viel später brausten Winde über die Ebene vor der Stadt wie Geisterzüge heulend und pfeifend dahin, zerstampften die Schrebergärten und rammten die Fabrik. Herr Weinwild gab Otto, mitten im Atelier stehend, eine Ohrfeige, und Otto lallte: «Der Wurm, der Wurm …»; nach einer Pause fuhr er fort: «Nein, eine Blindenschleiche ist das.» Es verstimmte Herrn Weinwild, dass der Lehrling, für dessen Erziehung und Bildung er mehr als ein Vater getan hatte, «Blindenschlei­che» und nicht «Blindschleiche» sagte. Es war typisch für Otto, falsch zu sprechen, aber diesmal argwöhnte Herr Weinwild, Otto mache dies absichtlich. Der Lehrling übergab sich dann in der Toilette und schlief, auf der Schwelle des Ateliers liegend, ein. Herr Weinwild überdachte den Satz mit dem Wurm nur flüchtig, ohne einen Sinn zu entdecken. Er hatte Otto am frühen Morgen, als er seinen Wagen vor der «Textil AG» parkiert hatte, betrunken angetroffen und mitgenom­men. An Samstagen arbeitete Herr Weinwild stets allein im Atelier; der Stardessinateur, der nur hie und da in Erschei­nung trat, hatte für einen Gardinenstoff Hasen entworfen, die Herr Weinwild nun zu Ende pinseln musste. Einmal erhob sich Otto und ging schwankend hinaus; es fiel Herrn Weinwild nicht auf, dass er nicht zurückkehrte, sondern mit dem Lift ins Erdgeschoss fuhr. Später gestand er sich ein, dass er Ottos Anwesenheit vergessen hatte, da er ganz in den ­Anblick des Hasen vertieft gewesen war. Er musste aber seine Arbeit als misslungen betrachten, denn der Stardessinateur bemängelte später die Hasenohren, die ihm wie Eselsohren vorkamen.

Da Otto am Montag nicht zur Arbeit erschien, telefonierte Herr Weinwild der Mutter des Lehrlings und erfuhr, dass Otto der Polizei als vermisst gemeldet worden war. Ottos Mutter, die ihren Kummer gewohnheitsmäßig im Alkohol ertränkte, erklärte, der missratene Sohn sei vermutlich mit seiner Freundin, einer geschiedenen Frau, durchgebrannt.

Als Otto auch in der Woche vor den Lehrabschlussprü­fungen nicht zurückgekehrt war und also nicht beabsichtigte, seinem Lehrmeister durch glänzende Prüfungsnoten Ehre zu erweisen, begann Herr Weinwild, der allein lebte, an son­derbaren «Zeitverschiebungen», wie er es nannte, zu leiden. So sah er zwei schwarze Schwäne aus früherer Zeit, die sich auf dem spiegelnden Linoleumboden seines Schlafzimmers paarten, während er nach dem Bad mit dem in einem Pantoffel steckenden Fuß die abgeschnittenen Zehennägel unter sein Bett schob. Er konnte sich solche und ähnliche Störungen nicht erklären.

Da er sich in den vergangenen drei Jahren stärker mit Otto als mit sich selber beschäftigt hatte, bemerkte er erst jetzt, dass der frühere Herr Weinwild abhandengekommen war. Das hieß, dass man ihn – wie Otto – als vermisst hätte betrach­ten müssen. Da er aber annahm, dass die Leute ununterbro­chen den Herrn Weinwild, den sie in Erinnerung hatten, erleben wollten, kopierte er jenen genau. Er erschien weiterhin einige Minuten früher als seine Arbeitskollegen im Atelier und verließ es einige Minuten später als sie, und er arbeitete wie gewohnt an den Samstagen. Es war aber nicht leicht, Herrn Weinwild so echt zu zeigen, wie sich die Schwäne ge­­­zeigt hatten. Es kamen immer wieder Fehler vor. So fiel es Herrn Weinwild auf, dass er in der letzten Zeit den Satz: «Aber ich habe gemeint …» öfter als sonst aussprach; er sagte deshalb zu sich selber mehrmals warnend, vielleicht drohend: «Du weißt, wer meint!» Einmal drehte er am Arbeitsplatz die Kurbel einer kleinen Spieldose, die er Otto nie zu schenken gewagt hatte, und rief: «Musik für schwungvolle Leute!» Die Arbeitskollegen lächelten.

An einem Sonntagabend, als die Lichter des Hochkamins der städtischen Kehrichtverbrennungsanstalt merkwürdig hastig zum Wohnzimmerfenster hereinblinkten und ein Re­ genbogen wie ein schlanker, schillernder Blütenstengel unter dem schwarzen Himmel wuchs, hüpfte Otto plötzlich auf der Scheibe des Fernsehers als Eiskunstläufer. Herr Weinwild erkannte ihn sofort an den Augen, die den Blick eines verwundeten Äffchens hatten. Nach einigem Zögern wagte sich Herr Weinwild ebenfalls aufs Eis, sprang an Ottos Seite und drehte sich im Takt einer fremd klingenden Musik, doch der Applaus des Publikums blieb aus. Ob die Zuschauer ahnten, dass das Paar nur die misslungene Kopie eines früheren Paares war, das sich Herr Weinwild eine Zeitlang ausgedacht hatte?

August, Außenseiter

Bruder August machte früh den Eindruck, als hätten wir ihn uns nur geliehen. Nichts, was er tat, schien er aus einer Gewohnheit heraus zu tun. Er hatte in nichts Übung: weder im Klettern oder Rechnen noch im Lachen. Das Gefühl, nur irr­tümlicherweise unter uns zu weilen, schien ihn ganz zu beherrschen; er bemühte sich nicht, angenehm zu wirken, und so waren wir der Überzeugung, er mache sich nichts aus uns und unserer Welt.

In geschlossenen Räumen erwartete August Befehle, Drohungen und Tadel; die Angst trieb ihn hinaus. Er umhüpfte unser Haus in immer größerem Bogen, flatterte durch Außenquartiere, huschte mit Raben und Möwen über Felder, bestieg eines Morgens ein Flugzeug und flog in den unbegreiflichen Himmel hinein – niemand wusste, wohin. Ich vermute, dass er ein Flugzeug nahm, um den Wind nicht zu spüren, der in jenen Tagen an allem rüttelte. Als das Telefon schrillte, hielt ich den Hörer nicht nah ans Ohr, begriff aber, dass eine Stimme mich knapp über Augusts Flucht unterrichtete. Ich teilte den Eltern das Vorgefallene mit und bemerkte, dass Mutter die Uhr vom Handgelenk nahm und die Brille von der Nase hob, als kümmerten sie Zeiten und Bilder nicht mehr. Die Dunkelheit verdichtete sich; vielleicht umlager­ten doch ziemlich hohe Schneewälle die Stadt, und ich sah durchs Fenster Blätter gekrümmt über den Asphalt kriechen. Vater erklärte beschämt: «Er war schon immer anders.» Befremdet blickte ich auf die Löwenfüße eines Sessels, der sprungbereit in der Zimmerecke stand. Ich dachte an Mutter, wie sie von ihrer Mutter erzählt hatte: «Sie hat bei einem Antiquar einen Großvaterstuhl gesehen und nicht gekauft, weil Großvater tot war, und dann doch gekauft und ihren Mann hineingesetzt.»

Ich erinnere mich, dass August als Junge hie und da zu mir kam und versuchte, etwas mitzuteilen. Einmal sagte er: «Ich spüre es genau: Diesmal ist die Nacht innen.» Ein andermal stand er neben mir im Vestibül unserer Wohnung und betrachtete ein Theaterplakat, das ich über die vier Glasschei­ben der Tür geklebt hatte, die ins Treppenhaus führte; zaghaft strich er mit dem Zeigefinger über die weiße Tänzerin. Unerwartet wurde der Hintergrund weggerissen; jemand hatte im Treppenhaus das Licht angeknipst. Entsetzt wies August auf den schwarzen Rahmen in Kreuzesform, der nun hinter dem leuchtenden Bild sichtbar wurde.

Seitdem ich erwachsen bin, erzähle ich den Leuten, August wohne in einem Schloss mitten im Wald – «Mischwald», füge ich, das Genaue liebend, hinzu. Ein Diener staube die weißen Heizkörper in den hohen Räumen ab und August esse vornehm hinter gerafften Vorhängen. Der Diener streue eine Pri­se Salz aus einem Gefäß, das in Zierschrift mit «Sucre» beschrieben sei, in die Waldbeerensuppe seines Herrn. August sei umgeben von Kakteen und lustwandle oft in einem gedeckten Innenhof; durch eine Luke im Glasdach wachse ein Baum, der sowohl mit den Wurzeln als auch mit der Krone denken könne.

Je ausführlicher ich berichte, desto steiler wächst mein Stolz auf den Bruder. Ich habe mir August geliehen, um ihm Gewohnheiten anzudichten und um ihn mir angenehm zu machen. Aber wenn ich am Abend von der Arbeit komme, wende ich mich ständig um. Kürzlich sah ich, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Herrn, der in einiger Entfernung stand und mir den Kopf zuwandte, wobei er den Mund öffnete und schloss. Heute entdeckte ich einen Mann, der die Straße herunterrannte und schrill durch die Finger pfiff. Ich wollte rufen: «Ich habe nichts getan!», doch dann beschleu­nigte ich meine Schritte, trat hastig ins Haus und warf die Tür ins Schloss.

Seit Martins Tod

Wenn Fränzi sich nach trockenem Holz und Pinienzapfen bückte, ließ sie sich vom Wind überrollen. Sie suchte das Meer, das an stillen Tagen wie eine Mauer in der Ferne stand und einen Berg trug; jetzt verbarg es sich hinter einem kleinen Nebel. Zerzauste Schafe zitterten, wenn die wie Nonnen gekleideten Bäuerinnen breitbeinig und böse krächzend über die steinigen Felder liefen, und die Mutter sagte: «Der Wind quält.»

Auch in den Nächten knatterte der Wind pausenlos über unsichtbare Straßen; die Vorhänge vor den geschlossenen Fenstern bewegten sich und das hastige Klopfen des Weckers neben der Kerze schien Fränzis Herz nachzuäffen. Die Mutter schlief nicht; Fränzi sah ihre komische, kurze und spitze Nase, die die schmalen Lippen überdachte, doppelt: an der Wand als graue Tuschmalerei und über der Bettdecke pfir­sich­farben. Viele Kerzen und viel Petrol brauchte man in solchen Nächten, in denen neben dem Hut am Haken mit dem darübergeworfenen Kopftuch ein stumpf erstauntes, zungenzeigendes Froschgesicht an der Wand erschien, das davonschwamm, wenn der Morgen kam.

Manchmal flüsterte Fränzi: «Mama, wann fahren wir nach Hause?», dann hob die Mutter den Kopf von ihrem Buch und sagte: «Schlaf.»

Aber es war schwierig, den Schalter für den Schlaf zu finden, wenn man draußen das rhythmische Rauschen und Summen hörte – als ob der Wind mit einem riesigen Wasserfall spielen würde. Manchmal krachte die Tür, und Fränzi stellte sich schaudernd vor, wie der Wind im Kamin in der Küche miaute. Wenn der Schlaf die Hand auf ihr vor Angst kaltes Gesicht legte, sah sie zwischen seinen Fingern auf dem Nachttisch Disteln in einer Flasche, die vor einem grauen Distelbaum standen, der die Wand hinaufgewachsen war und sich an der Decke über Fränzi und die Mutter beugte; vielleicht war es auch ein Sternbaum – die Nacht war voll glitzernder Sternbäume, an deren Äste der Wind turnte als Affe ohne Pelz; er besaß eine narbige Lederhaut und schwamm von Baum zu Baum. Er hatte das Brüderchen geholt, das im Meer ertrunken war, und trug die Leiche als Gürtel um seinen Bauch. Vom Brüderchen standen Fotografien im Esszimmer; es hatte einen großen Kopf mit braunem Haar und lachte gern. Sein Lachen schien immer noch in den Wänden des Hauses, das vor dem Tod des kleinen Martin nur ein Ferienhaus gewesen war, verborgen zu sein; wenn Fränzi lauschte, hörte sie es leise klingen – wie aus weiter Ferne; ob die Wände in die Ferne gerückt waren?

Wie die Orgel in eine Kirche, so gehörte Martins Lachen zu diesem Haus. Jahrelang hatte die Mutter mit ihren beiden Kindern den Sommer hier verbracht. Nun war aber der Sommer längst vorbei; der Herbst und der Winter versuchten, vor Martins Tod zu stehen und ihn zu verstecken, doch es gelang ihnen nicht; zuerst kam der März und wusch mit seinem Regen ein Stück von ihnen weg, und nun war der April da mit seinem Wind, der sie umstieß. Die Erinnerung an Martins Tod war so deutlich und schmerzlich grell wie im Sommer; es gab keine Sekunde, in der Fränzi nicht wusste, dass er gestorben war.

Sie waren letztes Jahr früher als sonst hier angekommen; der lange Regen war vorbei, aber das Haus innen noch feucht. Die Mutter öffnete Türen und Fenster, stellte die Matratzen hinaus und ließ die Leintücher an der Leine flattern. Fränzi wusste es noch genau; sie und Martin sammelten Schnecken und betrachteten einen Wiedehopf, der mit seinem Weibchen spielte. Der Morgen und der Abend waren am andern Tag kalt, doch am Nachmittag brannte die Sonne und der Wind war sanft und lustig. Die Mutter erlaubte ihnen, im Meer zu schwimmen, während sie das Haus putzte, und auch am nächsten Tag wanderten sie eine halbe Stunde bis zum Strand und vergnügten sich im noch kühlen Wasser, während die Mutter Briefe schrieb. Da geschah der Unfall; Martin lieh sich von einem andern Jungen die Taucherbrille aus und ertrank, ohne dass jemand es sofort bemerkte. Fränzi erstellte mit kleinen Ästen eine Hecke um ihre Sandburg; niemand war am Strand als die Mutter des andern Jungen; sie schlief rot und dick und ölig – später weinte sie. Ihr Sohn, ein leicht idiotisches Kind von zehn Jahren, das die zwölfjährige Fränzi um Haupteslänge überragte, fand den toten Martin und verkündete das Ereignis später immer wieder stolz.

Seit dem Unfall war Fränzi nicht mehr am Strand gewe­sen, und ihre Mutter hatte das Haus seit der Beerdigung nicht mehr verlassen; jeden Tag ging das Mädchen eine Viertelstunde weit ins Dorf, um einzukaufen. Nackt und frierend schienen die weißen Häuser im Wind zu stehen, der Sand gegen die Scheiben warf und die verblichenen, klappernden Storen hinauf- und hinunterzerrte. Ein lahmes Kind bewegte sich manchmal auf Händen und Füßen über die holprige Straße und trug eine Tasche im Mund; wenn der Wind es umwarf, rappelte es sich wieder hoch, drehte sich auf sonderbare Weise einmal um sich selbst, schlenkerte die dünnen, krummen Beine und hoppelte weiter. Es hatte ein hübsches Gesicht und braune, kräftige Hände. Wenn Fränzi an der Kirche vorbeiging, erinnerte sie sich, wie Martin auf das Kreuz gezeigt und gefragt hatte: «Weshalb ist da ein Flugzeug auf dem Dach?» Er war noch so klein und unwissend, aber Fränzi wurde von ihrer Mutter jeden Tag vier Stunden lang in Aufsatz, Mathematik und Fremdsprachen unterrichtet. (Sie wusste, dass manche Leute an einen lieben Gott glaubten, der sich aus dem Himmel beugte und eifersüchtig und nörgelnd ihr Tun beobachtete; alles, was mit diesem lieben Gott zusammenhing, ging sie, die Mutter und Martin nichts an.) Seit Martins Tod fiel ihr das Lernen schwer; es war, als habe jemand einen Sack voll kleiner, scharfer Messer über sie ausgeleert, die alles auftrennten, was die Mutter ihr in den Schulstunden beigebracht hatte: Die Wörter zerfielen in Silben, die Silben in Buchstaben, die Buchstaben in Striche und Halbkreise.

Manchmal sah sie im Traum Martin wie das lahme Kind auf Händen und Füßen auf einem steinigen Weg; ihr Herzschlag setzte aus, doch plötzlich richtete er sich auf und kam zu ihr gerannt; sie sah sein liebes, lachendes Gesicht ganz nah, blickte in seine Augen wie in weit geöffnete Blumenkelche und drückte seinen kleinen Körper an sich, doch dann schien jemand ihr Herz mit zwei Nadeln auseinanderzuzie­hen; der Schmerz ließ sie erwachen und sie wusste, dass Martin tot war und weinte lautlos, fast ohne die geöffneten Lippen zu verzerren.

Im Himmel leuchtete die Sonne wie ein runder Gott, den der Priester über dem Altar zeigte. Winde rasten vorbei und läuteten im Wasser, das die Mutter in einem irdenen Krug von der Zisterne zur Küche trug. Im tiefen Brunnen schwamm seit vielen Tagen eine tote Eidechse; die kleine Leiche ruderte mit dem Schwanz und den Füßen, sooft der Eimer ins Wasser tauchte; das wirkte ungehörig. Stieß man mit dem Eimer nach ihr, schwamm sie davon.

Fränzi hasste die tote Eidechse, die so tat, als lebte sie noch, und die sie nur einmal gesehen hatte, da die Mutter ihr nicht erlaubte, Wasser zu holen; das Heraufziehen des Eimers und Tragen des Kruges hätte die Kräfte des schmächtigen Kindes überfordert. Selbst das Heben des hölzernen Deckels gelang Fränzi kaum; der Wind versuchte ihn ihr aus der Hand zu reißen. Die Mutter war zum ersten Mal seit der Beerdigung des Brüderchens ins Dorf gegangen, um einen Brief an ihre Schwester einzuwerfen; sie gedachte, mit Fränzi in einer Woche nach Hause zu fahren – dann war es ein Jahr her seit Martins Tod. Vorher aber wollte Fränzi versuchen, mit dem Eimer die Eidechse hochzuheben; die Mutter hatte es schon einige Male probiert, doch immer war das tote Tier ihr entwischt.

Nachdem Fränzi den Deckel weggehoben hatte, ließ sie langsam den Eimer hinunter; der Wind strich über das schwarze Wasser und zerteilte ein blaues Fenster, aus dem sich ein Mädchen beugte, dem fuchsrote Zöpfe über die Schulter hingen; Fränzi hatte erstaunt sich selber erkannt und sich an ihrem Spiegelbild gefreut; es war, als ob Goldmarie ihr zugenickt hätte. Andere Märchen fielen ihr ein, in welchen tiefe Brunnen eine Rolle spielten: Rotkäppchen oder die sieben Geißlein. – Die Eidechse bewegte sich. Vorsichtig versuchte Fränzi, ihr mit dem Eimer zu folgen, doch sie wich gegen den Rand hin aus; eine Weile war sie im Dunkel verschwunden, dann trieb sie wieder gegen die Mitte. Fränzi schwenkte mit dem Eimer, der sich rasch füllte, gegen die Mitte und kletterte auf den Brunnenrand, das Seil mit der Faust krampfhaft haltend – weit beugte sie sich hinunter. Ein gellender Schrei ließ sie zusammenzucken; sie sah ihre Mutter mit schreckgeweiteten Augen auf sich zueilen und glitt langsam auf den Boden, wobei sie nicht merkte, dass ihr das Seil aus den ­Händen fiel und in den Brunnen klatschte. Zitternd ließ sie sich – zum ersten Mal seit des Brüderchens Tod – umarmen und schluchzte: «Die eklige Eidechse – Mama, nimm die Ei­dechse weg; mir graut vor ihr.»

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