Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 7

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Sabel

In wenigen Tagen würde Sabel – eigentlich hieß sie Isabelle wie die Mutter – mit den Eltern und vier jüngeren Geschwis­tern in eine Notwohnung eingewiesen werden; in eine der Baracken am Fluss, wo auch das dunkelhäutige Mädchen lebte, dessen Namen sie nicht kannte. Das Haus, in dem sie wohnten, wurde abgerissen.

Sabel hatte stets entzündete, geschwollene Augenlider; man hatte den Eindruck, sie könne die hellen Augen auch von unten her schließen. Sie stellte sich vor, dass sie kein Kind wäre, sondern eine in ein Kind verwandelte Erwach­sene. Während Kinder wie die Dunkelhäutige sich schützen konnten, weil sie niedlich und drollig wirkten und bei Er­wach­senen Zärtlichkeit hervorriefen, war Sabel – so fand sie – ein kleines Scheusal, nicht weniger hässlich als die Groß­mutter der Mulattin, deren roter Rücken im Sommer faltig über das hinten weit ausgeschnittene Badkleid hinunterhing. Der Gedanke, die drei großen Zimmer mit der vergilb­ten Tapete, den hohen Fenstern und den knarrenden Türen für immer verlassen zu müssen, in welchen sie nun ein Jahr lang gelebt hatten, verursachte Sabel Schwindel und Angst, auch war es keine Beruhigung, die Schwarze nun ganz in der Nähe zu haben; sie hatte noch nie mit ihr gesprochen und fürchtete sich, sie wirklich kennenzulernen, denn sie hatte ein blitzendes, unbarmherziges Lachen. Gerne wäre Sabel stumm zur Welt ge­kommen; am liebsten saß sie auf einem Stuhl und dachte sich Handlungen aus, in deren Verlauf das dunkle Mädchen von ihr vor dem Tode errettet und dann auf unklare Weise angebetet wurde, indem sie ihm überallhin folgte, alles tat, was es befahl, sogar stahl und schließlich sei­netwegen starb.

Sabel lebte wie in einem Zelt, das immerzu mit neuen Bildern, Szenen und Zeichen bemalt wurde; das Tuch aber wurde kleiner und kleiner geschnitten vom Ticken der Uhr, die im Esszimmer auf der Kommode stand. Bald würde sie das Zelt nicht mehr brauchen, das ihr Horizont war, das ihr die Sicht in die Ebenen, in die Weite jenseits verwehrte, um sie zu schützen. Vorläufig hatte sie noch Bilder und Zeichen nötig, brauchte sie das Mulattenmädchen mit den großen Lippen und den Augen, die so schwarz waren, dass sie ohne Blick zu sein schienen; Sabel stellte sich manchmal vor, das Kind sei blind und sie führe es, läse ihm vor und lasse sich anschreien, weil sie nur mühsam buchstabieren konnte.

Sabel war eine schlechte Schülerin, aber sie war der Meinung, nur sie allein wisse, dass der Schnee am frühen Morgen blau war, dass im Frühling die Äste der Bäume wie mit einer Zuckerlasur bestrichen waren und die Sommerabende als milder, süß duftender Rauch überallhin quollen. Sie liebte den Baum hinter dem Haus; im Herbst stand er auf einem Bein im Regen; seine vielen bunten Flügelchen hatte der Wind davongeblasen und der Baum hatte doch so sehr gehofft, einmal wegfliegen zu können.

Sabel durchquerte den Vorgarten; sie schleppte den Schulsack wie einen Koffer, während andere Kinder ihn am Rücken trugen. Einige Schwalben schnellten schreiend die Straße entlang; ihre Schatten glitten über die Hauswände. Der Vater hatte sie letztes Jahr fotografiert, als sie sich auf dem Draht versammelt hatten; Sabel liebte die Fotos und hatte sie über ihrem Bett aufgehängt, doch die Mutter hatte sie wieder heruntergerissen, zerknüllt und in den Ofen geworfen.

Sabel kam meist zu spät zur Schule, da sie am Morgen nicht aufstehen mochte, sondern durch ihre weißen Wimpern wie durch einen Vorhang das Theater beobachtete, das ihre Geschwister mit viel Geschrei aufführten, indem sie die Kleider durcheinanderwarfen, Wasser spritzten und Milch verschütteten. Die Mutter hatte keine Lust, sich um ihre faule Älteste zu kümmern; selten kriegte Sabel Schläge, meist wurde sie übersehen – sie war ja auch zu still und so bleich, dass sie sich kaum von den weißen Leintüchern abhob und man den Eindruck hatte, es sei in Ordnung, dass sie im Bett blieb. Manchmal zischte die Mutter: «Du bist wie der Vater.» Der Vater aber war um diese Zeit schon zur Arbeit in die Fabrik gefahren. Sabel würde später nicht arbeiten; lieber würde sie verhungern.

Der Wald besaß eine kahle, kranke Stelle, die nun rot leuchtete; man nannte jenen nackten Knochen die «Fluh» – Sonn­tagsspaziergänge führten dorthin.

Heute fühlte sich Sabel unsicherer als sonst; sie hatte den Eindruck, sie bestünde aus unordentlich übereinanderge­legten Bauklötzen und könnte plötzlich auseinanderfallen; aus Schwäche lehnte sie sich gegen einen kleinen Lastwagen, der geduckt im kalten Sonnenlicht stand, und streichelte ihn.

Das Schulhaus zeigte vorerst nur sein großes Dach; die Straße führte zu ihm hinauf wie zu einer Gottheit; es sperrte die Träume aus, doch sie glitten wieder hinein und füllten es mit unruhigen Schatten. Ein heftiger Wind stieß Sabel vorwärts; anscheinend lag ihm daran, sie zur Schule zu führen, doch plötzlich erlahmte er und fuhr wie ein alter Herr leise und vornehm im Rollstuhl davon. Sabel sah, dass es ­hinter dem Wald regnete; bald würde auch das Schulhaus eingetaucht sein in Wasser und Dunkelheit, und die Fenster würden vom Regen zerkratzt. Sie bemühte sich, schneller zu gehen; weich wie Elefantenfüße traten ihre Stiefel am Boden auf, in welchen erbärmlich dünne Beine staken.

Sabel hatte in ihrem kurzen Leben viele Umzüge durchgestanden, sich an neue Gerüche und fremden Lärm gewöh­nen müssen. Dieses Mal musste sie das Schulhaus nicht wechseln. Sie sah einige Kinder aus einer Seitenstraße rennen; die schöne Mulattin war dabei, hatte die Hand erhoben, lachte und schrie. Sie war etwas jünger als Sabel, acht oder neun; ihre Stimme war angenehm rau wie die Stimme eines Buben.

Ein Schlag gegen das Ohr ließ Sabel taumeln; in vielen Farben schillernd wie ein großes Windrad wirbelte die Straße mit den Häusern, den Gartenzäunen und dem Himmel rundum und sie flatterte mit, drehte sich rasend schnell, sauste über eine steil abfallende Wand und fiel in Dunkelheit und Stille.

Jemand hob sie auf, drückte ihr ein Taschentuch gegen das Ohr und redete auf sie ein, doch sie war mit dicker Watte umwickelt und wusste, dass sie nicht gehen und nicht sprechen konnte. Von weither hörte sie eine aufgeregte Frauenstimme: «Ein dunkelhäutiges Mädchen war’s, ich hab’s gesehen; einen Stein hat sie dem Kind gegen das Ohr geworfen. Oh, das viele Blut …» Zufrieden, ja froh stellte sich Sabel vor, wie das Blut aus ihrem Ohr floss, sich davonmachte aus ihrem Körper und alle Wärme mitnahm, alles Leben, alle Gedan­ken – leer würde sie zurückbleiben, eine hässliche Hülle, die niemand brauchen konnte.

Nun würde die Dunkelhäutige sich nicht schützen können; man würde sie zur Rechenschaft ziehen, Sabel aber in ein Bett legen, umsorgen, bemitleiden, vielleicht lieben und versuchen, sie wieder aufzufüllen mit Wärme und Leben. Sie spürte, dass man sie in ein Auto trug; ihr Kopf mit dem kurzen, blassen Haar ruhte an der Brust eines fremden Mannes, auch die Frau mit der schrillen Stimme war dabei; während sie das Ereignis wieder und wieder kommentierte, fühlte Sabel sich geschaukelt von einem Meer aus Glück und Zärtlichkeit; das dunkle Mädchen hatte sie aus purem Übermut hineingestoßen in dieses weiche Wasser, aus Lust das Blut aus ihrem Ohr spritzen lassen, gesehen, wie sie auf der harten, schmutzigen Straße lag, und gelacht dazu, dann war es feige davongelaufen. Es würde ihm schlecht ergehen deshalb, man würde es ausschelten und strafen, doch Sabel würde es stärker lieben als bisher, denn sie gehörte ja nun zu ihm, zu seiner lauten Welt in jenen finstern Baracken am braunen, faul riechenden Fluss.

Je länger das Auto fuhr, desto deutlicher wurde alles, auch der Schmerz; hatte man ihr ein Stück vom Kopf weggerissen? Es war, als ob man mit einer kantigen Schaufel in ihrem Hirn graben würde; jemand hatte ihr das Ohr ausgerissen und wollte ein neues pflanzen … Sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und fürchtete, sie müsse über den hellen Regenmantel des Mannes erbrechen. Leise begann sie zu weinen; nun war sie ein Kind, klein, schwach und schutzbedürftig trotz ihrer Hässlichkeit.

Knupps Gefühle der Allmacht

Knupp geht durch einen halbdunkeln Gang im Keller der Klinik, an dessen Decke silberne Röhren angebracht sind, und betritt einen niedern Raum. Er wartet im Schneidersitz auf dem Boden und lässt den Blick seiner schönen, sozusagen in Leid eingelegten Augen über die farbigen Zeichnungen an den Wänden schweifen; er sieht Springbrunnen, spritzendes Blut, Quellen und Wasserfälle. Es sind dies Schöpfungen seiner Lieblingspatientin Ludmilla, die nun hereintritt und auf einer mit einem weißen Tuch bedeckten Matratze in der Mitte des Raumes niederkniet. Das junge Mädchen leidet seit zwei Jahren unter Schluckbeschwerden. Es hat Knupp sein Leben erzählt. Er hat zur Kenntnis genommen, dass Ludmilla Novizin war und dann für eine Werbeagentur arbeitete. Momentan ist sie Friedhofsgärtnerin, doch der Friedhof ist um diese Jahreszeit kalt; Knupp hat ihr geraten, sich einen Pelzmantel für die Arbeit anzuschaffen, doch Ludmilla hat lächelnd den Kopf geschüttelt.

Die sanfte Stimme Knupps bewirkt nun, dass sich Ludmilla auf der Matratze ausstreckt und die Augen schließt. Knupp gibt Anweisungen. Seine Stimme, die er tief unten im Brustkorb wärmt und dann langsam aus seinem runden Mund herausbläst, nimmt Besitz von Ludmillas Zehen, umspült ihre schmalen Füße, kriecht den Waden entlang, umschließt ihr linkes Knie, spannt und entspannt ihre Gesäßmuskeln, vertauscht Kälte gegen Wärme, rastet in den zerbrechlichen Schultern, betastet die nackten Arme und schiebt sich unbemerkt zwischen ihre fast makellosen Zahnreihen. Knupps Stimme könnte auch mit einer langen Schnur verglichen werden; sie entrollt sich und entlässt Ludmilla in schwin­delerregender Höhe, wo sie schwebend verharrt, von wo sie aber, da sie sich nicht in Spannung befindet wie ein Drache, sondern von Knupp und den Psychopharmaka nach allen Regeln der Kunst entspannt worden ist, schnell nach unten torkelt. Zugeklappt liegt Ludmilla jetzt auf der Matratze, lahm und mutlos, ohne dass Knupp dies weiß: Ihn blähen Ge­fühle der Allmacht.

Der Baum

Der kleine Rolf sitzt auf einem der Stühle mitten im roten Zimmer, das renoviert wird; eine Bohrmaschine lärmt, und ein Handwerker misst den Raum aus. Rolf darf die Stellung nicht ändern, um diesen Nachmittag nicht zu verstören. Er legt die rechte Hand langsam auf seinen warmen, runden Kopf und lässt den linken Arm hängen. So sitzt er unbeweglich. Die Bohrmaschine ist wieder still; nun hört Rolf die Stimme seiner Mutter, die stärker kratzt, wenn sie süß flöten möchte; sie sucht ihn, aber er antwortet nicht. Der dort ist ein Zechpreller, der Baum hinter dem Fenster, wo das rote Zimmer aufhört: Alle Töne tropfen in seinen Schlund, und der dicke Regen fließt hinein. Rolf kann die Schwimmhäute zwischen den Händen, mit denen der Baum in der blauen Luft rudert, wegreißen, aber er tut es nicht. Er will dem Baum nicht weh tun. Der Baum steht wie eine finstere Lampe im hellen Tag; er wirft keinen Lichtkreis, sondern einen Schat­tenkreis auf den Boden, und dort stehen Pilze rund um den Stamm. Der Baum hat einmal in Rolfs Haar gelangt und es gestreichelt. Der Autobus fährt am Baum vorbei; die vielen Menschen halten sich an den Stangen fest, um bei der Kurve nicht zu fallen; sie stehen und sitzen krumm wie verkrüppelte Pflanzen, der Baum aber, der morgen gefällt werden soll, steht gerade.

Ein unbegreifliches Stück

Lange Zeit stand ich an der Bushaltestelle; auf dem Flachdach des Hauses gegenüber saß eine Reihe von Möwen. Eine schlief nicht; im Licht des Mondes sah ich, dass sie sich putzte. Es war kalt. Ich stieg in den Bus, der hier, zwischen zwei Dörfern, nur auf Verlangen anhält. Hinter mir saß eine Frau, die den Schluckauf hatte. Ich kannte sie von früher; sie trat in meinem andern, milden, weit entfernten Leben auf, aber sie war hereingefallen ins Heute. Ich zog meine ledernen Handschuhe aus und zerknüllte sie nervös. Der Chauffeur sang Arien; er hatte einen schönen Bariton. Die Bäume an den Straßenrändern waren noch nicht leer; sie zeigten den Rest ihres Vermögens: magere, braune Blätter, auf denen der Schnee schon wieder geschmolzen war. Ich äußerte mich während der Fahrt ganz unverfroren, indem ich stöhnte oder «mhm» sagte oder «nönönö», was niemand wichtig nahm. Ich verfolgte in Gedanken Spuren, bezog Stellung und überblickte von gewissen Punkten aus das Ganze. Manchmal landete ich mitten in einer Szene aus meinem Leben, die verfälscht war, aber ich zog dieses falsche, vergoldete Leben meinem jetzigen Leben vor; ich liebte seine Tiefe, die ruhigen Bewegungen der Personen und das frohe Lachen im Hin­tergrund.

Ich stieg nach einigen Stationen aus und stand vor einem schwarzen Haus. An einer Tür las ich: «Besser nicht eintre­ten»; die Formulierung irritierte mich, da sie Gefahr andeutete. Erst als ich mich der Schrift nochmals zuwandte, entzifferte ich: «Bitte nicht eintreten». Ich trat trotzdem ein, gab aber den Mantel an der Garderobe nicht ab, sondern ging sofort in einen dunkeln Zuschauerraum und setzte mich auf einen leeren Sitz vorne an der Wand. Der Bühnenvorhang war offen, die Bühne war leer, ohne Kulissen, aber das Stück hatte schon vor einer Stunde begonnen.

Die wenigen Zuschauer zeigten sich unruhig; manche pfiffen oder fielen durch Rufe auf, andere verließen laut murrend den Saal. Anscheinend hatte noch niemand Tomaten oder Eier geworfen. Zwei Kritiker waren fest entschlossen, bis zum Ende auszuharren; sie saßen hinter mir und sprachen mit­einander. Ich, als Verfasserin des Stücks, fühlte mich krank. Eine Schauspielerin, die ich nicht kannte, trat auf; sie weinte während längerer Zeit und öffnete dann ihren Koffer. Das Publikum glaubte, nun sei der Zeitpunkt gekommen, den Atem anzuhalten. Der Koffer war leer. Mein Hass wuchs; er war wie ein Trompetenton; ich musste aufpassen, dass er mich nicht gegen die Wand schmetterte. Ich erhob mich, zog meinen Revolver aus der Handtasche, zielte und wollte abdrücken, doch die beiden Kritiker rissen mich zurück, drehten meine Arme auf den Rücken, entwanden mir den Revolver und sagten, dass auch sie das Stück nicht begriffen hätten, dass das aber doch kein Grund sei, die Schauspielerin umzubringen.

Maikäfer, flieg

Nachdem der Verleger der Buchreihe «Aberwitz» (goldfar­bener Einband, Fr. 19.50) sich mit seiner Haarbürste den Rücken gekratzt hat, trinkt er im Garten vor seinem Haus eine Tasse Kaffee. Die Trauerweide, von seinem Sohn gepflanzt, hockt wie ein zottiges Ungeheuer beim Gartentor. Der Verleger hat eins der neuen Bücher, einen Gedichtband von Salomon Spatz, vor sich auf dem Tisch liegen. Der Verleger verfasst in seiner Freizeit auch Gedichte, die allerdings ein wenig dilettantisch sind. Er träumt davon, sie herauszugeben und berühmt zu werden, ein Dichter zu sein wie Salomon, Lindas Entdeckung. Linda heißt des Verlegers kleine Frau, die wie auf Rädchen durchs Haus rollte und die mit Salomon Spatz durchgebrannt ist. Der Verleger kritzelt in sein Notizbuch, das er immer bei sich trägt: «Wenn alle Münder der Erde sich öffnen / Wenn alle Augen der Erde sich öffnen / Wenn die Erde sich mitteilt / Schreit sie / Gebiert sie Blüten und blutet.» Die Zeilen sind ihm eben zugefallen; auf die Wendung «Blüten und blutet» ist er besonders stolz. Er lässt seinen Blick vom Feuerbusch zum Quittenbaum und von da zum Fliederstrauch schweifen; soll er noch Zeilen mit den Worten «Qual, so harte Quitten» oder «fliegende Blüten des Flieders» hinzufügen? Nein, so gut ist das nun auch wieder nicht. Der Verleger trinkt den kalt gewordenen Kaffee und tritt, das Buch unter den Arm geklemmt, ins Haus.

Draußen zieht der Sohn des Verlegers, der Bücher hasst, einen großen Rechen über den gemähten Rasen, um das geschnittene Gras einzusammeln. Die blaue Himmelsfahne wird eingerollt; es gibt heute nichts zu feiern. Früher, da war das Leben ungestüm zum Verleger gekommen; er hielt es nicht an der Leine, sondern ließ es frei, freute sich, wenn es ihn umhertrieb. Der Verleger gehört aber zu jenen Menschen, die einen Tramführer nicht von einem Polizisten und einen Polizisten nicht von einem Postboten unterscheiden können. Salomon Spatz kann dies wohl. Der Verleger gehört auch zu den Menschen, die nicht Abschied nehmen können; sie zerbrechen daran. Er beherrscht die Sorgfalt nicht, mit der zum Beispiel ein Salomon Spatz mit der Zeit umgeht und so das Abschiednehmen entschärft. Jener hat eine genaue Vorstel­lung davon, wie lange eine Stunde, ein Tag, ein Monat, ein Jahr währt, und er verzweifelt nicht; gelassen schleppt er seine ganze Kindheit mit den vielen Abschieden mit sich.

Bevor Linda mit Salomon Spatz durchbrannte, schrieb sie einen Abschiedsbrief, den der Verleger nicht lesen kann. Schon immer hat Linda ihn mit ihrer «Charakterschrift», wie sie sagte, genarrt. Der Verleger hat diesen Brief in das Buch von Salomon Spatz gelegt; jedes Mal, wenn er das Papier in die Hand nimmt, hämmert sein Herz, und er fürchtet, er könne die Zeilen plötzlich entziffern und es handle sich um ein böses Gedicht, das Salomon Spatz sich für ihn ausgedacht und Linda diktiert habe. Er stellt sich einen Vers in der Art von «Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt» vor; er glaubt sogar, das Wort «Maikäfer» entziffern zu können. Letzte Nacht träumte er, Pommerland sei abgebrannt, und sein Weinen ließ nicht nach, als er aufwachte.

Das Brillenmuseum

Wie sich doch die psychiatrische Klinik dieser Stadt vergrößert; es wird ständig gebaut. Die Klinik wirbt mit Plakaten: «Kommen Sie zu uns! Werden Sie Patient! 1000 Psychiater erwarten Sie!» Ich wollte einmal über diese Klinik eine Erzählung schreiben. Ich wollte zum Beispiel den Satz: «Die Patientin warf ihrem Arzt einen fetten Traum vor» verwen­den. Die Ärzte hätten es aber nicht geschätzt, mit gierigen Tieren verglichen zu werden, mit entthronten Löwen, denen nicht der Löwenanteil zusteht, sondern die froh sein müssen über jeden Happen Traum, den ihnen die Patienten hinwer­fen. Wenn die Patienten dies nicht täten, müssten die Psychi­ater hungern an ihrer Seele und an ihrem Geist. Sie ziehen den Patienten eine Haut nach der andern ab und verzehren diese Häute. Ich wollte über eine Patientin schreiben, die den größten Teil ihrer Häute für sich behält; die Ärzte dürfen an ihren Häuten zwar riechen und lecken, aber nur selten und wenig davon fressen. Oft lassen die Ärzte einen Patienten mit nur noch einer Haut austreten; sie erklären ihn für gesund, doch nach einigen Wochen ist er wieder in der Klinik. In Wirklichkeit können sie niemanden für immer gesund machen; diese Tatsache wollte ich in meinem Text nicht verschweigen. Die Ärzte testen an ihren Patienten Pillen; manche dieser Medikamente bewirken Unruhe, Halbblindsein, Nicht-mehr-schreiben-Können. Die Patienten knüpfen ihren zerrissenen Geduldsfaden immer wieder neu. Wenn der Fa­den zu kurz geworden ist, wenn er sie nicht mehr zusammenhält, bleiben sie für immer in der Klinik als alt und schal gewor­de­ner Fraß, dem kein Psychiater mehr Interesse entgegenbringt.

Die Psychiater sind ganz versessen auf Erlebnisse ihrer Patienten. Ich glaube, als Patient braucht man viel mehr Platz denn als Nicht-Patient, um sich «in seiner Seele zu ergehen», wie man es geschwollen ausdrücken könnte. Ist man wieder «Nicht-Patient», schrumpft die Seelenfläche. Seitdem die Kranken diese neuen Pillen schlucken, bleiben aber das Wachstum der Seelenfläche und die Erlebnisse meist aus; die Seelenfläche sackt ein, und die Pillen ersticken die Phantasie.

Psychiater interessieren sich nicht nur für Erlebnisse, sondern auch für Unfälle. Sie sind Polizisten, die in Erscheinung treten, wenn sich ein Unfall ereignet hat: Sie stellen Pannendreiecke auf, markieren, fragen die Zeugen aus, notieren. Mehr können sie nicht tun; es liegt nicht in ihrer Macht, Verletzte zu heilen oder Tote zum Leben zu erwecken.

Man kann so tun, als ob nichts wäre. Die junge Patientin Olga ist trainiert darauf. Aber eines Nachts träumt sie: In ihrem Zimmer im ersten Stock des Elternhauses auf den Holzdielen unter der reich verzierten Barockdecke stehen Kisten voller Hefte und Bücher. Im Kamin liegt bündelweise Papier, in den Ecken stehen Kartotheken, auf dem Tisch türmen sich lose Blätter. Olga sichtet, ordnet, schreibt und telefoniert. Sie hat ein Museum eingerichtet, das nie jemand besucht; es ist ein kleines Museum für Brillenge­stelle im Erdgeschoss. Sie glaubt an die wichtige Funktion dieser Gestelle und der dazugehörenden Gläser, die Gesichter veredeln, verdummen, verschönern oder verwüsten. Wenn jemand sein brillenloses Dasein gegen ein Dasein mit Brille eintauschen muss, kann diese Person eine ernst­zunehmende Identitätskrise erleiden. Frauen lassen sich ungern mit ihren Brillen fotografieren, Sekretärinnen tragen aber oft mit Selbstbewusstsein große Hornbrillen. Was wäre Schubert ohne seine Brille? Es ist Olga gelungen, das Gesicht von Proust mittels einer Brille auf ungeahnte Art zu verändern.

Nett sind altertümliche Krankenkassenbrillen; die Gesichter erscheinen durch sie hilflos. Und wie viel verdankt ein guter Schütze seiner Schießbrille.

Auch Sonnenbrillen und Schneebrillen sind nützlich. Man beachte die Erzählung von Edgar Allan Poe: «Die Au­gengläser»; da verliebt sich ein junger, brillenloser Mann mit schwachen Augen in eine alte Frau, die er für ein junges Mädchen hält. Oder man stelle sich die Frage, ob El Greco nicht ganz anders gemalt hätte, wenn er Brillenträger gewesen wäre. Das Hauptinteresse von Olga gilt aber einer einzigen Brille, die es noch nicht gibt; sie macht unzählige Entwürfe, umrandet die Augen ihres weit entfernten Vaters auf einer großen Fotografie ganz zart, zeichnet für ihn Brillen, die sie immer wieder mit einem weichen Gummi ausradiert. Sie skizziert ovale, runde, eckige, dünn- oder dick­ran­dige Brillen. Sie hofft fest, dass es ihr gelingen wird, das Gesicht des Vaters menschlicher erscheinen zu lassen. Je mehr sie zeichnet, je verzweifelter sie sich müht, desto grau­enhafter wird der Ausdruck der väterlichen Augen – ja, des ganzen Gesichts. Die Augen glitzern, starren sie an, blinzeln, als blende sie das Licht der Ständerlampe, unter der die Fotografie liegt.

Nach einem halben Jahr Klinikaufenthalt kehrt Olga nach Hause zurück. Ihr Psychiater hat sich nicht in ihren Vater verwandelt. Kaum zu Hause, beschäftigt sie sich wieder mit dem Thema «Brillen», so dass sie, wenn sie unten über den großen Platz geht, zugleich oben in ihrem Schlafzimmer, dem Arbeitszimmer ihres Traums, am Fenster steht. Sie beobachtet, wie sie sich vor einem Café auf einen der weißen Plastikstühle, Jugendstilimitation, setzt, ein Cola trinkt und raucht. Bei schönem Wetter sitzen vor allem Touristen draußen unter dem Himmel, der die Türme der Kathedrale weit von sich weist. Olga sieht, wie sie mit dem Zigarettenstummel weiße Kreuze in die Asche im dreieckigen Aschenbecher gräbt. Sie ist als Gast dieses Cafés ausgestellt, aber von Zwängen frei, als säße sie auf einer hohen Leiter. Es gibt keine vier Ecken, wo Gottvater hockt. Olga schreibt einen Brief, den sie nicht an ihren Vater senden wird: «Da mir das Schreiben immer leichter fiel als das Reden, will ich mir treu bleiben. Es ist meines Erachtens besser, wir ändern die Rollen nicht, da wir zu ungeübt sind, um miteinander zu reden. Wann haben wir je miteinander geredet?» Um Olga zu charakterisieren, muss ich vielleicht noch erwähnen, dass sie nie die Bücher liest, die man gelesen haben muss, und nie die Filme be­sucht, über die man noch nach Jahren redet. Sie weiß nicht, welches Gesicht zu welcher Gelegenheit passt. Sie weiß nicht, dass es in unserer Stadt Menschen gibt, die Verbrechen begehen aus dem unbewussten Wunsch heraus, von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden. Sie weiß aber, dass die Kirchen und die politischen Parteien um Gläubige werben. Vielleicht auch das Militär. Trotzdem ziehen Jugendliche, vaterlose Horden, durch die Straßen der Stadt, zertrümmern Schaufenster, plündern und legen Brände. Kinder, junge Frauen und junge Männer kleben keine Plakate an die Wände, um für sich zu werben. Sie beschriften aber die Mauern der Stadt mit Sätzen wie: «Wir wollen leben! Auch Beton welkt!» Ein Jugendlicher hat an die Wand des Elternhauses von Olga mit einer Farbspraydose, blutrot, das Wort «Vorsicht!» hingespritzt. An Sonntagen begeben sich Bürger in das Stadtinnere, um die Schäden zu betrachten. Das sind schöne Spaziergänge, die einen Kinobesuch ersetzen.

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