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Kitabı oku: «Adams Söhne», sayfa 11

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X. Kapitel

Saltner und Wittekinds kehrten um dieselbe Stunde aus dem Adneter Tal, von den Marmorbrüchen zurück; sie durchschritten das stille Städtchen und stiegen langsam die Bergstraße empor. Die Nacht schattete schon im Tal und klomm an den Gebirgen hinauf. Ihr Schatten legte sich auch den Wanderern aufs Gemüt, sie dachten an den Abschied, der ihnen morgen bevorstand: Saltner wollte in seine Einsamkeit zurück, und Vater und Sohn nach München, um sich dort zu trennen. Die drei gingen ungern auseinander, diese wenigen Tage, fast immer gemeinsam verlebt, hatten sie befreundet; Berthold aber, der sich gestärkt, ja genesen fühlte, fühlte auch seine Pflicht, in die Hörsäle und zur Arbeit zurückzukehren, die er vielleicht ohne Not verlassen hatte. Wenigstens gestand er jetzt dem Vater, und auch dem väterlichen ›Alten‹, dass eigentlich eine seelische Unlust ihn so arbeitsscheu und nervenschwach gemacht habe; ein wachsender Widerwille gegen seine Wissenschaft, die Jurisprudenz, die ihm nicht gefiel, neben seinen Idealen und Träumen so hart, trocken und gemütlos dastand.

Weiter verriet er sich und seine Träume nicht. Der Alte stieg bedächtig weiter, ohne zu äußern, was er dazu denke; Wittekind aber blieb steh’n, und dem Jüngling eine Hand auf die Schulter legend sagte er, etwas missmutig, aber liebevoll:

»Ich hab’ dir die Jurisprudenz ja nicht aufgenötigt; auch die Universität nicht. Hättest du mir gesagt: ich will Landmann werden wie du, – das hätt’ ich nicht ungern gehört. Aber dir gefiel’s nicht. Es zog dich zu den Büchern, zu den Wissenschaften —«

»Das war ein Irrtum, Vater!« rief Berthold aus, dem nun das Herz über die Lippen floss. »Ich möchte ins Leben hinein; irgendwie – ich weiß nicht. Mit Kopf Herz, Muskeln, Gliedern, mit allem einer Sache dienen – einer guten Sache – mich opfern, wenn sie mich brauch.t«– —

Er brach wieder ab. Saltner war einige Schritte weiter gleichfalls stehen geblieben, machte nun Kehrt und sagte, die Brauen herunterziehend:

»Dann wundre ich mich, dass Sie, am Wasser und fast am Meer geboren, nicht zur Marine gewollt haben, auf die deutsche Flotte. Da hätten Sie ja das alles, was Sie eben wünschen; und die Phantasie, die ›Romantik‹, Sie junger Schwärmer, bekäme auch noch ihr Teil. Sie sähen die ganze Welt, die wilden und die zahmen Völker; Sie brauchten Ihre welthungrigen Augen nur groß aufzumachen. Und außer der Ehre Ihres Vaterlandes hätten Sie auch die Zukunft an Bord: denn es geht nun los! Auf der Erde, lieber Herr, ist noch viel zu tun, und die Zeit der Deutschen ist nun endlich gekommen! Meinen Sie, ein Volk wie das wär’ nur dazu da, in Europa Friedens-Wachtmeister zu sein und Professoren, Zuckerrüben und Soldaten zu züchten? Nein, glauben Sie mir« – der Alte richtete seine Moses-Gestalt beinahe feierlich auf – »glauben Sie mir, die Hand des Herrn liegt auf unserm Scheitel: uns ist bestimmt, noch gar Großes zu tun, Größeres, als wir ahnen. Deutsches Wort, deutscher Geist und auch deutsche Kraft werden noch wurzeln und wachsen, so weit die Erde rund ist. Und wer wird mit ihnen hinauszieh’n? Nun, die deutsche Flotte. Da können Sie einer Sache dienen, einer guten Sache; und auch Opfer, denk’ ich, werden angenommen, wenn Ihnen nach Opfern ums Herz ist!«

»Ich hab’ auch wohl daran gedacht«, sagte Berthold und sah vor sich hin. »Als Knabe träumt’ ich Jahre lang davon … Die ganzen Sommer lag ich auf dem Wasser; Schwimmen, Rudern, Segeln – das trieb ich mit Leidenschaft. Dann aber kamen so ganz andere Ideen – Phantasien … Und unsre Flotte —·was ist das? Neben den andern, den großen, so klein!«

»Nun, so wird sie wachsen!« rief der Alte, seinen Stock gegen die Erde stoßend. »Bäume machen Wälder! – Aber gar so ein kleines Wäldchen ist sie schon nicht mehr. Ich war einmal in Kiel, hab’ sie mir angeseh’n; hab’ große Augen gemacht…«

Sie stiegen wieder weiter, im Gehen sprach er fort:

»Ich bin alt, Sie sind jung, Sie werden noch was erleben; und gingen Sie zur Flotte, so würden Sie selber dabei sein: hübsche Seeschlachten, Herr! Nach Osten und nach Westen! Und da wird’s sich zeigen – denken Sie an mich – dass die See noch immer den Germanen gehört – und dass die Deutschen wieder geworden sind, was sie lange verspielt hatten: der Germanen Führer!«

»Glauben Sie an den Krieg?« fragte Berthold altklug. »Wir wollen ja keinen mehr, und alles lechzt ja nach Frieden!«

»Wir wollen keinen mehr? Haben wir zu wollen? Die Weltgeschichte wird uns ihre Hunde schon auf den Nacken hetzen: diese Franzosen mit dem revanchekranken Herzen, diese Zarenknechte mit ihrem Größenwahn, die werden nicht nur bellen, Herr, die werden endlich auch beißen; das lebt ihnen im Blut, und das steht in den Sternen!«—

Der Alte blieb wieder steh’n, es war vor einem ›Golgatha‹, das an der Straße gegen den Abhang aufgerichtet war: in einem mächtigen Holzrahmen Christus und die Schächer an drei hohen Kreuzen, geschnitzt und bemalt; sie sahen aus der nächtigen Dämmerung auf die Wandrer herab, Saltner stand vor ihnen, als gehöre er mit dazu, als stünde da ein weißbärtiger, riesiger Apostel dem Gekreuzigten zu Füßen.

»Glauben Sie, junger Mann«, fuhr er bedächtig fort, »was ich Ihnen sage! Wir haben noch viel zu tun; auch das alte Europa, das ist noch nicht fertig. Heiß, heiß wird gerauft werden, denn es sind tapfere, größentolle Völker; aber wir ›dermachen‹’s doch, wie man hier zu Lande sagt: denn wir sind berufen! Und dann wird man diese zudringlichen Russen mit allen Ellbogen weiter nach Osten werfen: in Bessarabien – geben Sie Acht – wird der Rumäne Herr werden, in Polen der Habsburger, und die alten Länder der Schwertritter, Kurland, Livland, Estland – darin keine Russen leben; lauter Protestanten – die werden zu Deutschland kommen, ob es nun heute will oder nicht. Denn Europa muss frei sein, und der russische Alp darf uns nicht mehr drücken! Und der italienische König wird in Korsika, in Nizza und in Tunis herrschen: denken Sie an mich; – und das alles wird nicht gescheh’n, ohne dass auch die deutsche Flotte sich mit Blut getauft hat; ja, Ihre deutsche Flotte – — und vielleicht sagt dann Karl Wittekind, seinen schönen Bart streichend: Berthold Wittekind war dabei!«

Wittekind, der Vater, lächelte, ernst und gedankenvoll; Berthold ging schweigend weiter. Diese Kriegsträume waren gerade jetzt nicht nach seinem Herzen; vom Seedienst stieß ihn auch die strenge soldatische Zucht ab, die seinen Freiheitssinn dort erwartet hätte, und ihm war, als würde ihn das kaiserlich deutsche ›Schulschiff‹ für immer dem festen Land seiner menschenliebenden Ideale entführen, an die er trotz Afinger und Riedau noch glaubte. —

Sie kamen bei völliger Dunkelheit – denn der nun schon abnehmende Mond ging erst später auf – in der ›Gemse‹ an. Der Wirt trat ihnen entgegen, um sie zu begrüßen; er hielt einen Brief in der Hand.

»Der ist gegen Abend gekommen«, sagte er, »für den Herrn von Dorsay; ich bin zweimal hinaufgegangen, um ihn ihm zu bringen, aber seine Tür war verschlossen. Und es war ganz still. Wecken wollt’ ich ihn nicht; denn er mag wohl schlafen. Was tun wir nun mit dem Brief?«

»Geben Sie ihn mir«, sagte Wittekind; »ich will ohnedies zu ihm, da wir morgen reisen!«—

Er nahm den Brief, und ward sogleich durch einen starken Duft an den schwülen, ›lasterhaften‹ Wohlgeruch erinnert, den Dorsay und jener andre Brief bei ihrer ersten Begegnung ausgeatmet hatten.

Die Ausschrift schien von einer weiblichen Hand geschrieben, ›Salzburg‹ stand auf dem Poststempel. Wittekind ließ die andern im ›Salettl‹, ging ins Haus und stieg die Treppe hinauf.

Oben war es dunkel, aus dem Vorplatz brannte keine Lampe, was ihn Wunder nahm. Er ging behutsamer weiter; in dem ungewissen Dämmer bemerkte er eine dunkle Masse oder Gestalt, die in der Ecke neben einem alten Bauernschrank zu kauern schien. Als er nähertrat, erhob sich plötzlich diese Gestalt und glitt an ihm vorüber; es war aber kein Gesicht zu seh’n, ein Tuch oder etwas Ähnliches musste es bedecken. Das Frauenzimmer – denn es trug lange Kleider – eilte die Treppe zu den Dachkammern hinauf; so geschwind und leicht, dass Wittekind nur an Kathi denken konnte.

»Kathi!« rief er ihr nach. »Sind Sie’s?«—

Es kam keine Antwort. Er zögerte einige Augenblicke; dann tastete er weiter und klopfte an Dorsays Tür.

Die wohlbekannte Stimme rief sogleich: »Herein!« Wittekind öffnete – die Tür war nicht verschlossen – und sah Dorsay auf einem Stuhl am Fenster sitzen; ein Licht brannte vor ihm auf dem Tisch. Sein Gesicht war nicht mehr bleich, sondern schwach gerötet. Als er den Eintretenden erkannte, stand er auf und ging ihm langsam entgegen.

»Hier bring’ ich Ihnen etwas!« sagte Wittekind und übergab ihm den Brief.

Sowie Dorsay die Aufschrift erkannte, entfuhr ihm eine zuckende Bewegung; er starrte auf das Papier, wie man auf etwas Sonderbares, Unheimliches starrt, das wie ein Schicksal in unser Leben eintritt. Indes er fasste sich schnell, bat um freundliche Erlaubnis, öffnete und las. Ein kurzes Auflachen brach aus ihm hervor – oder suchte sein Gefühl zu verdecken – als er das Blatt überflogen hatte. Dann hob er es näher an sein Gesicht, schloss die Augen und schien den Duft in sich einzuatmen.

»Das ist nun, wie es ist«, murmelte er endlich. »So geht’s mir; natürlich! – — Herr Wittekind, ich danke Ihnen. Sie kamen selbst; um mich noch zu seh’n … Sie sind immer gut. Bitte, lassen Sie mir nun ein paar Minuten Zeit. Dann – — dann erschein’ ich unten. Wir seh’n uns noch; das versteht sich; gewiss!«

»Desto besser«, sagte Wittekind und ging wieder zur Tür.

Er fühlte sich aber plötzlich bei der Hand ergriffen; Dorsay war ihm gefolgt. Als er sich umwandte, sah er, dass dessen Gesicht wieder tief erblasst und von einer leidenschaftlichen Bewegung ergriffen war. Die Lippen verzogen sich, die Augen zwinkerten lebhaft. Auch zitterte ihm die Stimme, als er mit einem mühsamen Anlauf sagte:

»Lieber Herr Wittekind!«

»Sie wünschen?« fragte dieser verwundert.

»Was ich wünsche?« entgegnete Dorsay. »Sie – noch einmal zu seh’n! Ihr Gesicht … Nun ja, Sie haben mir’s angetan, mir das Herz abgewonnen – so dass ich ganz – — Ich weiß nicht, was ich sage. Sie könnten mir erlauben, Herr Wittekind, Sie einmal zu umarmen; zum Abschied – — Morgen geht’s ja fort!« setzte er wie zur Erklärung hinzu. Ohne auf Wittekinds Zustimmung zu warten, umschlang er ihn mit beiden Armen und drückte ihn heftig an sich; seine Muskeln schienen sich krampfhaft zu bewegen.

»Lieber Herr Dorsay!« sagte Wittekind gerührt. Das Gesicht des jungen Mannes lag auf seiner Schulter; halb erstickt murmelte Eugen, ohne jedes Pathos:

»Hätt’ ich Sie zum Vater gehabt! – Es stünde nicht so mit mir – —«

Er schluckte, mit stoßendem Atem, und machte sich dann hastig los. Mit abgewandtem Gesicht sagte er, wie wenn nun ein anderer spräche, leichthin:

»Also unten; im ›Salettl‹, nicht wahr, finde ich die Herren. Also noch nicht gute Nacht!«

Wittekind ging stumm hinaus; er hatte ein dunkles Gefühl, als hieße das: ich reise ab, gute Nacht! – — Auf dem Vorplatz brannte nun die Lampe. Er stieg hinunter, in allerlei fragenden und ahnenden Gedanken, und kam zu Saltner und Berthold, die beim Nachtmahl saßen.

Auch für sich bestellend, dann essend, saß er wortkarg da.

Die alte Sali bediente statt der Kathi; sie erzählte, dass das arme Ding nicht wohl sei und schon lange im Bett liege.

Berthold war voll Mitleid; – es schien noch mehr ein anderes Gefühl zu sein, das ihn gar so weich stimmte. Er fürchtete wohl, das kleine Ding gar nicht mehr zu seh’n; es missfiel ihm, sie zu verlassen; auch er sah stumm in sein Glas, und Saltner störte ihn nicht, der, wie es von Zeit zu Zeit über ihn kam, mit leisen Fingern den Bart knetend sich in das Schattenspiel vorüberwandernder Erinnerungen versenkte.

Wohl eine Stunde verging so; Berthold nahm wieder das Wort, sich zum Vater wendend: er hab’ es nun doch bedacht und möchte noch einmal versuchen, ob er zu der Rechtswissenschaft sich nicht ein Herz fassen könne. Vielleicht finde er auch für seine Lieblingsgedanken mehr darin, als er bisher gedacht; einen andern Beruf, für den er sich so recht geschaffen fühle, wisse er nicht·… Er unterbrach sich plötzlich; ein dumpfer, aber deutlicher Schrei erklang durch die stille Nacht; alle hörten ihn. Sie horchten; es schien ein Klagen oder Stöhnen zu folgen, das aber völlig gedämpft und ungewiss daherschwebte und sich mit dem Rauschen der Waldbäche vermischte. Was bedeutete das? Woher kam der Schrei? – Saltner wies zu der kleinen Anhöhe neben der Straße hinauf: es stand dort ein Bauernhaus, jetzt nächtlich dunkel und still; von dort, meinte er, sei der Schall gekommen. Auch stöhne es noch fort. Er sprang auf und stieg mit seinen gewaltigen Schritten die Anhöhe empor; Berthold lief ihm nach; Wittekind folgte langsamer, noch schwankend.

Sein Ohr hatte besser gehört: als er auf die Straße trat, kam ein neuer Laut, über und hinter ihm, und er zweifelte nun nicht mehr, wo die Stimme zu suchen sei.

Ins Wirtshaus eilend und die Treppe hinauf, öffnete er Dorsays Tür, ohne anzuklopfen. Dorsay war nicht zu seh’n; über sein Bett hingeworfen lag aber Kathi, in allen Kleidern, wie eine Verzweifelnde; schluchzte, ächzte, und schüttelte die Kissen. Auf dem Tisch brannte noch das Licht; daneben lag ein aufgerissener und ein geschlossener Brief.

»Was ist gescheh’n?« fragte Wittekind. »Kathi! Was ist Ihnen? Warum weinen Sie? – Hören Sie mich nicht?«—

Er trat hinzu und fasste ihren zitternden Arm. Bei dieser Berührung sprang das Mädchen wie elektrisch getroffen auf und zeigte ihm ihr von Schmerz und Leidenschaft ganz verzerrtes Gesicht.

»Er ist fort!« sagte sie; Wittekind erriet die Worte mehr, als er sie verstand, da ihre Stimme heiser geworden war und vom Schluchzen bebte. »Er ist fort, er ist fort, er hat mich verlassen!«—

Sie deutete auf den Tisch und die Briefe, dann griff sie mit allen Fingern in seinen Arm:

»Lesen Sie den Brief da!« sagte sie; es sollte Flehen sein und klang wie Befehlen. »Der eine ist an mich, der andre an Sie; lesen Sie ihn, Herr! Ich will wissen, was darin steht!«

Wittekind nahm den geschlossenen Brief, er war an ihn gerichtet; unruhig riss er ihn auf.

›Lieber, verehrter Herr!‹ stand darin mit Bleistift geschrieben. ›Mein Schicksal ruft, ich muss fort. Ich möchte aber in diesem Hause niemand wiedersehen … Kurz, ich verschwinde so geräuschlos, wie es sich für unsereins schickt; schleiche die Straße hinunter und wandre nach Salzburg; dann von da in die Welt hinein. Die Nacht ist zum Wandern gut. Die große Laterne da oben wird ja angezündet. Meine Bezahlung für den Wirt liegt im Tisch, in der Schublade. Ich bin so froh, dass ich Sie umarmt habe; dass ich Ihnen noch gezeigt habe, wie ich für Sie fühle. Leben Sie wohl!‹

»Geben Sie mir den Brief!« sagte Kathi heftig, im Schluchzen, nachdem er gelesen hatte. Sich ein wenig fassend, und ihren eigenen Brief in die Tasche steckend, wiederholte sie flehender:

»O, geben Sie mir den Brief! Lassen Sie mich’s lesen!«—

Sie schien zu fürchten, er könne es ihr verwehren; denn sie griff schon zu und zog ihn ihm aus der Hand. Als sie ihn halb gelesen hatte, schrie sie auf:

»Nach Salzburg! Zu Fuß! Ich will auch nach Salzburg! Ich will ihm nach, ich laufe! Ich hol’ ihn ein! So kann er nicht fort, so kann er mich nicht verlassen!«

Sie wollte aus der Tür stürzen; aber Wittekind hielt sie auf. Der Wirt und Sali, von dem neuen Schrei herbeigerufen, traten eben ein; Saltner und Berthold waren zurückgekommen und stiegen die Treppe herauf. Wittekind erklärte den andern, was sich zugetragen hatte; was er über Kathis Verzweiflung dachte, ließ er unerörtert; alle ahnten es, in ihr armes, glühendes, verwildertes Gesicht stand es eingezeichnet. Sie verlangte immer von neuem, man solle sie hinauslassen; sie wolle ihm nach, ihn verwünschen, ihn töten, sie wolle bei ihm bleiben, sie gehöre zu ihm: so warf sie all’ ihre zuckenden Gedanken und Gefühle sinnlos durcheinander.

Endlich nahm der Alte das Wort, in seiner gebietenden Art:

»Wenn sie so redet, ist sie noch ein Kind; und sie ist ein wenig auch mein Kind … Hier wirst du bleiben, Kathi, hier in diesem Zimmer, da du uns nicht folgen und keine Hand an dich lassen willst; Sali wird dir bringen, was du brauchst, und ich schließ’ dich ein. Ich schlaf’ nebenan, ich werd’ dich bewachen. Morgen kommt die Sonne wieder, und mit ihr die Vernunft. Jetzt denk’ an dein Nachtgebet, an deinen Schöpfer, an die Ehre dieses Hauses, dem du angehörst – und gute Nacht!«

Die feierliche Stimme schien das Mädchen zu beruhigen oder einzuschüchtern; sie sagte nichts mehr, stöhnte auch nicht mehr. Auf einem Stuhl an der Wand, in die Luft starrend, saß sie fast ohne Bewegung da. Man ließ sie endlich allein, hinter der verschlossenen Tür; das ganze Haus begab sich nach und nach zur Ruhe.

Wittekind hatte noch einen letzten Blick auf die Unglückliche geworfen, als er das Zimmer verließ; in ihren sonst so kindlichen, lachenden Rehaugen schien ein wilder Entschluss aufzuleuchten, der ihr ein ganz anderes, unheimlich gereiftes, frauenhaftes Gesicht gab. Er glaubte nicht, dass ›die Vernunft‹ so bald kommen werde. Ungern, lange zögernd, ging er endlich schlafen, da ihn nach dem heißen Tag die Müdigkeit übermannte.

Er hatte sich nicht getäuscht: der Morgen graute erst, als Salis Stimme laut ward und in allen Zimmern die unruhigen Schläfer weckte. Die Alte war zum Brunnen und auf die Straße gegangen und hatte das Fenster, hinter dem Kathi gefangen saß, weit geöffnet geseh’n; unter dem Fenster war das Gras von einigen Tropfen gerötet, offenbar von Blut. Als Saltner die Tür nun aufschloss, war das Mädchen fort; offenbar hinuntergesprungen, da man ihr den Ausgang verwehrt hatte. Sie musste glücklich davongekommen sein, denn die Blutspur hörte nach wenigen Schritten auf; nur ihr Kopftuch, das sie verloren haben mochte, fand sich auf der Straße.

»Was ist da zu tun«, sagte Saltner in grimmiger Entschlossenheit. »Nichts, als – ihr nach. Sie ist nach Salzburg gelaufen, das tolle Ding, dem Rattenfänger nach. Der Weg ist weit, sie wird noch auf der Straße sein. Ich nehm’ einen Wagen und ich fahr’ hinterdrein!«

»Ich begleite Sie, wenn es Ihnen recht ist«, sagte Wittekind kurz, der sich bei Salis erstem Ruf auch erhoben hatte.

Berthold kam und verlangte gleichfalls mitzufahren. Man verlor keine Zeit; während Sali ins Städtchen hinunterlief und einen Wagen mit raschen Pferden bestellte, machten die Männer sich fertig. Sie gingen ihr dann eilig nach und fuhren bald in den erwachenden Tag hinein. Saltner kannte den Kutscher, einen stämmigen, etwas mürrischen Postknecht, von früheren Fahrten her; er spornte ihn durch die Aussicht auf ein dreifaches Trinkgeld an, die Pferde laufen zu lassen, was sie konnten. Auf der glatten, staubigen Straße jagten sie dahin. Der Himmel war sonnig hell, obwohl die östlichen Berge noch das Gestirn verdeckten; die Wolken draußen im Norden, in der Ebene, säumten sich mit Gold; die Zitadelle von Salzburg ward sichtbar, fern, klein, dann heranwachsend und im herrlichsten Morgenzauber leuchtend, bis sie endlich unter dem hochragenden Burgfels vorbei um den Nonnberg fuhren und die Stadt erreichten.

Sie kamen bis zur alten Salzachbrücke, hier ließ Saltner halten. Auf seinen Vorschlag stiegen sie aus.

»Das Beste wird sein«, sagte der Alte, der während der Fahrt fast immer geschwiegen hatte, »wenn wir uns verteilen, um das Mädel zu suchen! Wenn etwa Sie und Ihr Sohn an der Salzach links und rechts stromab geh’n, so können Sie nicht verirren; ich, der ich hier zu Hause bin, schlängele mich durch die Neustadt zum Bahnhof, und der Wagen folgt mir. Da wir sie unterwegs nicht mehr angetroffen haben, wird das Mädel hier sein. Und wär’ sie zur Stecknadel geworden, man sucht halt bis man sie findet!«

Wittekind nickte; sie trennten sich. Berthold übernahm das rechte Ufer und schritt an der Salzach hin, auf dem neuen Uferdamm, neben den jungen Anlagen und Villen; fast noch allein, denn das Leben des städtischen Tages begann erst zu erwachen. Er ging langsam, nach allen Seiten umherspähend, in banger Unruhe, ob er auch nichts übersehen, seine Aufgabe erfüllen werde. Wie anders war er hier vor wenigen Tagen gegangen: als fastender Märtyrer, aber doch voll heiterer Phantasien, auf das Wiederseh’n mit dem Vater sich freuend, die Welt mit seinen Zukunftsplänen beglückend. Jetzt erschien er sich wie ein Polizeimann, der einem Flüchtling nachspürt; er suchte ein verzweifelndes Mädchen, von dessen Dasein er damals noch keine Ahnung hatte, das seinem jungen Herzen bittre Gefühle machte: wozu sollt’ er sich’s leugnen. Seine gereizte Einbildungskraft berauschte sich in schrecklichen Szenen und Tragödien, in denen er Kathi und den ›Rattenfänger‹ finden könnte und als ratloser, unerfahrener Jüngling einzugreifen hätte. Auch gab ihm jede dieser Phantasien einen Stich in die Brust … So kam er an der protestantischen Kirche, an der neuen Fußgänger-Brücke vorbei und sah die große Eisenbahnbrücke vor sich, die über die Salzach führt. Vom Bahnhof her rollte, noch langsam, ein Zug, der nach Bayern wollte, die rhythmisch ausgestoßenen Wölkchen glänzten in der Sonne.

Plötzlich fuhr er zusammen, da ein Schrei ertönte, der ihm durch Mark und Bein ging. Der Zug hatte die Brücke erreicht, nicht weit davon, am Ufer, lief eine weibliche Gestalt, die Berthold bisher nicht bemerkt hatte; sie hob beide Arme, rief den Zug an, wie es schien, rief irgendeinen Namen, den er nicht verstand. In einem der Wagen, die jetzt über die Brücke rollten, erschien ein Kopf am Fenster, den Berthold zu erkennen glaubte … Das Weib schrie noch einmal, wie rasend. Es war Kathis Stimme, er zweifelte nicht mehr. Im nächsten Augenblick lief sie, die stehen geblieben war, gegen das Ufer zu, stand auf der steinernen Böschung, mit unbedecktem, fliegendem Haar, und warf sich in den Fluss.

Berthold wusste nicht, wie ihm geschah: sowie sie zu laufen begann, setzte auch ihn jemand in Bewegung, ohne Wollen und Denken; er rannte auf dieselbe Böschung, auf denselben Fleck zu, und gleich nach ihr – denn er war geschwinder – sprang auch er hinab. Ihn erschreckte das kalte Wasser, als er unterging; aber sogleich hoben ihn seine Kräfte wieder, und es erwachte in ihm eine wilde, klare, bewusste Entschlossenheit, ein seliges Gefühl. Er war in seinem Element, er schwamm wie ein Fisch. Vor seinen tropfenden Augen sah er das sich ausbreitende, schwimmende Gewand, das Kathi nach oben trug; nach wenigen Stößen hatte er es gefasst, er ergriff das Mädchen am Arm und ruderte auf die Böschung zu. Der Strom trug ihn fort, aber nicht mehr weit. An der nächsten Landungsstelle, wo ein schwimmender Prahm zum Waschen angekettet lag, hielt er sich fest; es standen dort einige Männer und Frauen, die das Schreien und Laufen herbeigezogen hatte, man zog sie beide ans Ufer und trug das Mädchen hinauf.

Kathi schlug die Augen auf, sie schien aus einem bewusstlosen Zustand zu erwachen. Sobald sie begriff, wo sie war, schüttelte sie wild die Haare und rief:

»Was wollt Ihr! Lasst mich! Lasst mich ins Wasser, ich will nicht mehr leben!«—

Sie versuchte wieder aufzuspringen, da sie am Boden lag; die Männer hielten sie fest. Sie rang mit ihnen, sie knirschte mit den Zähnen.

»Kathi!« sagte Berthold, der neben ihr stand und sich über sie beugte, sodass die Tropfen aus seinen Kleidern auf ihr Antlitz fielen: »Kathi! Fassen Sie sich; wie können Sie so reden … Hören Sie mich doch an; ich bin’s. Wir lassen Sie nicht … Haben Sie Vernunft!«

Sie starrte ihn jedoch mit wirren, leblosen Augen an, sie schien ihn nicht zu erkennen. Immer wieder aufstrebend sagte sie, fast heiser:

»Lasst mich! Ich will da hinein! Ins Wasser! Er ist fort, ich will nicht mehr leben!«—

Ihr sinnlos zuckendes Gesicht mit dem klebenden Haar sah ihr nicht mehr gleich; Berthold graute fast, sie anzublicken. Es hatte sich schnell ein Haufe von Menschen um sie her gesammelt, Männer, die zur Arbeit gingen, junge Bursche und Frauen; sie hörten die wilden Reden, fragten, was geschehen sei, was zu tun sei, zuckten mit den Achseln. Berthold stand ratlos da; ein Frösteln überlief ihn. Während er verwirrt umher sah, fühlte er eine Hand auf seinem Arm und hörte eine bekannte Stimme seinen Namen nennen.

Er wandte sich um und sah Afinger und Messner, die hinter ihm stehend auf ihn und das Mädchen blickten.

»Die ist wohl auch so ein ›Opfer‹«, murmelte Afinger; »wie? Eine von denen, die ins Wasser geh’n, weil so ein feiner Herr mit ihnen seinen Spaß gehabt hat. Das soll man alles hinnehmen; wie?«

Berthold erwiderte nichts; ihm selber lag ein namenloses Gefühl schwer und hart auf der Brust. Er sah einen Wagen heranrollen; eine mächtige, weißbärtige Gestalt schob die Menge aus einander, Saltner stand vor ihm. Ohne Berthold zu bemerken, blickte der Alte auf Kathi nieder, nickte, als hätt’ er’s gedacht: so werde er sie finden. Dann kniete er, seine Bewegung bemeisternd, neben dem Mädchen nieder und nahm ihre bläuliche, nasse Hand.

»Kathi!« sagte er ruhig, halblaut. »Ich bin’s, der Saltner. Steh’ auf! Was tust du hier vor so vielen Leuten. Wir fahren nach Haus; zu mir!«

Sie suchte ihm die Hand zu entzieh’n:

»Lasst mich!« rief sie wieder, doch mit schwacher Stimme. »Ich will nicht! Ich will —«

Der Alte ließ sie aber nicht ausreden; er umfasste sie, hob sie empor und trug sie wie ein Kind. Der Wagen war herangefahren, Saltner öffnete die Tür und legte seine Last auf den Wagensitz; »nach meinem Haus!« rief er dann dem Kutscher zu und stieg selber ein. Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an. In ein Paar Augenblicken war’s geschehen, Berthold sah zu wie im Traum. Er sah den Wagen davonrollen; hinter sich hörte er seinen Namen, seines Vaters Stimme, der vom andern Ufer über die Fußgängerbrücke gestürmt kam, um zu erfahren, was geschehen sei, und seinen Jungen zu suchen.

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04 aralık 2019
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