Kitabı oku: «Die Familiensaga der Pfäfflings», sayfa 5
»Aber wie abscheulich! wer hat das getan!« riefen die Schwestern wie aus einem Mund.
»Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter Mariannes Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir sagten, wo wir herkämen und dass wir nicht hereinkönnten. Da riegelte Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein.« Karl hielt inne.
»So habt ihr richtig die Hausleute gestört!« sagte Frau Pfäffling. »Hättet ihr mir doch gesagt, dass ihr in dieser Nacht fort wollt, ich würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?«
»Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen.« Sie senkten die Köpfe. Herr Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. »Kinder, ihr habt noch nicht alles gesagt.«
»Nein.« Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die schlimme Botschaft aussprach: »Der Hausherr lässt dir sagen, auf 1. Januar sei gekündigt.«
Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der Jammerschrei: »O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch aufgewacht!« Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu glauben. »Es ist doch gar nicht möglich, dass das sein Ernst ist, glaubst du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, was hat er denn sonst noch gesagt?«
»Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's schon vorher ausgedacht hätte.«
»Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!«
Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: »Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen.«
»Wie die Leintücher,« sagte der Vater, »schnell, setzt euch, frühstückt!«
So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte er, dass es so sein müsse.
Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, so dass es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, seufzte: »O Marstadt, Marstadt!« und verließ das Zimmer, um sich zum täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ.
So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch die Direktorstelle. Und es kränkte sie, dass ihr Mann mit Recht von der leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz anders als je für frühere Mietleute. Sie musste das alles mit Frau Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, dass sie hinaufging.
Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen einer gestörten Nachtruhe! Sie musste sich das erklären lassen von Frau Hartwig, aber mit ihr allein wollte sie sprechen. So strebten die beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg.
Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen.
Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.
Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Missverständnis mehr und sie waren der guten Zuversicht, dass sich auch die beiden Männer miteinander verständigen würden.
Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: »Hat dir nicht gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der Wache gesehen hat?«
»Ja, du warst ja dabei.«
»Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum ersten Mal gehört, die heißt man ›den Leonidenschwarm‹.« Weiter sagte Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem Mann zu denken gab. Sie wusste ja, dass mit dem richtigen Verständnis des Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden musste. Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu tun, was recht war.
Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der Leonidenschwarm hießen. Das wusste Karl: weil diese Sternschnuppen, die da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen ausgingen.
Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, dass der Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit all seiner früheren Freundlichkeit: »Seht, ich weiß eben gar nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!«
Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.
Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. »Ihr kommt mir gerade recht,« sagte sie und gab jedem einen Apfel.
»Hausfrau,« sagte Frieder, »wir haben miteinander etwas ausgemacht, damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so hinauf und so wieder herunter.« Um recht dicht an der Mauer zu gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der erschrockenen Hausfrau.
Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung zurückkehrte, sagte sie zu sich: »Da ist gar nichts zu machen. Je besser sie's meinen, um so ärger poltert's.«
4. Kapitel Adventszeit.
»Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?« Die jungen Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing, und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf. »Buben, galant sein!« rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. »Wir machen es miteinander,« sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: »Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!« Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal gesagt hatte etwas anderes als die Melodie.
Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden wollten, fand sich's, dass es heute gar keine solchen gab, dass alle sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. »Wer soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?« fragte Frau Pfäffling bedenklich.
»Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit,« versicherte der Kinderchor.
»Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze Prozession!« wandte Herr Pfäffling ein.
»Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße,« sagten die Buben.
»Aber Walburg muss wenigstens wissen, dass sie ganz allein zu Hause ist, hole sie schnell, Elschen,« rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wusste sie schon, was man von ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: »Ich wünsche gesegnete Andacht«.
Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu.
Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: »Das dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden die Kleinen ungeduldig.« So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling Elschen zu sich heran und fragte selbst: »Weißt du denn noch, wie schön der Christbaum war?«
Sie wusste es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine Hauptperson, die allen die Freude erhöhte.
Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. »Es ist keine Kunst, in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!« Ja, eine so schwere Kunst ist das, dass sich die Beratung sehr in die Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer der Adventschoral im Ohr: »Wie soll ich dich empfangen,« er musste ihn ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, dass ungnädige Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, dass er sich bei ihr niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche.
Am nächsten Tag mussten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den Hintergrund treten, denn in die Schule passten sie nicht. Nur Frieder wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen, bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.
Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht so.
Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch schon ein paar kecke Bürschchen zu: »Der Pfäffling hat seine Ziehharmonika mitgebracht.« Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die Kameraden von allen Seiten: »Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel doch etwas vor!« Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er fertig war: »Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme.«
Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. »Hast du das bei deinem Vater gelernt?« fragte er ihn jetzt. »Nein,« sagte Frieder, »Harmonika muss man nicht lernen, das geht von selbst.«
»Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen nicht. Was meinst du,« sagte er zu dem, der am nächsten stand, »könntest du das auch?« »O ja,« sagte der, »da darf man nur auf- und zuziehen.« »Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!« entgegnete der Lehrer, »aber jetzt: auf eure Plätze.«
Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und musste spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riss sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: »Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt.« Da bekam sie Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blass und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten.
»Wer hat's getan?« hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wusste es ja schon vorher, dass ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken.
Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten Ausruf: »Sie ist tot!«
Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, dass er vielleicht eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.
Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
Es war wieder Sonntag, der zweite Advent, und wieder standen die Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er konnte ja kein Adventslied mehr üben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: »Unten,« sagte er, »auf den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht.«
»So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus,« sagte eines der Geschwister. »Für mich auch!« »Und für mich,« hieß es nun von allen Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, dass er sie lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.
Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: »Du, Karl, musst ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne Sachen abzeichnen und Otto muss so laut, wie es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei können nichts,« sagte er, indem er sich an Elschen wandte, »darum müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, Nussschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen rechten Sack voll.«
Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und fand ihn ausführbar. »Ich weiß, was ich zeichne!« rief Wilhelm, »dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist.«
»Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater.« Sie waren alle vergnügt. »Frieder,« sagte Karl, »es tut mir ja leid für dich, dass du deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie.« Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum ersten Mal fühlte er sich glücklich auch ohne Harmonika.
Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.
Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mussten es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, dass sich's die andern zur Ehre rechnen mussten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben herab: »In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen.«
Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße entgegengesetzt lag.
Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: »Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, dass ich einige Stellen vergleichen könnte?« »Von mir aus,« sagte Otto, »nur wenn du mir wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze deine Unterschrift unter den Klex.«
Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. »Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?« sagte Otto ärgerlich, »mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, dass du das magst.«
»Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld glücklich noch aus Russland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die Dinge in Russland gestalten. Gegen solche Gäste ist man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: ›Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.‹
»Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, dass du mit wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostüm imponieren dir, du musst dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?
»Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, dass ich genug zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht handeln.«
Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht – wenn das ein Pfäffling hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. »Wer soll den Musikunterricht geben?« fragte er.
»Weiß ich nicht.«
»Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen.«
»Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche Herrschaften muss man immer das feinste wählen.«
»Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht.«
»Wohl, wohl, aber so ein Titel fehlt, Professor oder Direktor oder so etwas, das hören sie gern.«
»Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muss.«
»Dann kann ich wohl etwas für ihn tun,« sagte Rudolf Meier herablassend, »vorausgesetzt, dass sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und nicht bei den Professoren.«
»Dem musst du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, musst du mit den Russen sprechen.«
»Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast keinen Begriff von Umgangsformen.«
»Nein,« sagte Otto, »wie man das machen muss, weiß ich freilich nicht, aber wenn du das nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein Schwindel.«
»Ich vermag viel im Hotel.«
»So beweise es!«
»Werde ich auch. Vergiss nicht, dass du mir deine Hefte versprochen hast.«
So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel zu und kamen überein, dass sie den Eltern zunächst kein Wort sagen wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben.
Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: »Wenn ich deinen Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?«
» Zehn Aufsätze,« sagte Otto, »mach aber, dass es bald so weit kommt.«
Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause vorüber war, fasste er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: »Du solltest das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei unser Vater viel zu vornehm.«
Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern der Ärger eingegeben hatte: »Du bist nichts als ein rechter Schwindler.« So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, dass sie darüber geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines Nachmittags Wilhelm meldete: »Vater, der Diener vom Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort warten.«
Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten, flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der Rudolf Meier!
Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior ausrichtete, dass Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag erscheinen werde, fügte er hinzu: »Es ist ein sehr feiner Herr.«
Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in Marstadt angeschafft hatte. »Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung gibt,« sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, »wer weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen dieser Rudolf Meier prahlt!« Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: »Das erste Hotel hier ist es immerhin,« sagte sie, »und die Russen gelten für ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler bekommen als Fräulein Vernagelding.«
»Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag,« seufzte Herr Pfäffling, »ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine Marterstunde.«
Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte, Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei.
Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, dass Herr Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber, lachte und spasste mit den Schwestern.